Kopftuchfrage unerheblich für Reformprozess

Die Frage des Kopftuchs ist für die Entwicklung der islamischen Gemeinschaft nicht entscheidend. Deshalb sollte ihr keine Priorität zugemessen werden.

Von Muhammad Djabir al-Ansari

Unter Arabern und Muslimen tobt der Streit um den Schleier, und dies in einer Zeit, in der die arabischen Länder teilweise besetzt sind, die Rechtslage dort kritisch ist, sie in ihrem Fortbestehen bedroht sind und sich um ihre Kultur und Unabhängigkeit sorgen sollten.

Kann dieser Streit diese Länder dem eigentlichen Kern des Islam näher bringen, kann er als Botschaft der Befreiung, der Restauration verstanden werden? Ist er geeignet, sie aus der strategischen und zivilisatorischen Schwäche heraus zu bringen, die sie vor den tonangebenden Weltmächten bekennen müssen?

Schleier als Protestsymbol

Um die Situation der Muslime zu verändern, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass eine Äußerlichkeiten betreffende Frage, ob die Verschleierung zu befürworten oder abzulehnen sei, angesichts unseres Dilemmas keine Priorität für die Umsetzung islamischer Werte besitzt. Der Schleier war und ist ein politisches Symbol. Stets diente er der Opposition zum Protest, sei es gegen den französischen Kolonialismus in Algerien oder das Schah-System in Iran.

Abgesehen von seiner Rolle als Protestsymbol, wird dem Schleier in keiner islamischen Gesellschaft eine Funktion beim Reformprozess zukommen. In der islamischen Rechtsprechung geht es bei der Verschleierung um das Prinzip der Keuschheit, nicht um Kleidungsvorschriften, daher wird auch hier keine eindeutige Entscheidung für oder gegen die Verschleierung getroffen werden.

Erstaunlich, oder sogar verwerflich, ist, dass wir immer wieder betonen, der Islam habe das Ansehen der Frau gehoben und für die Wahrung ihrer Rechte gesorgt – was unbestritten ist –, gleichzeitig aber die modernen Musliminnen doppelt zu leiden haben. Zum einen stehen Frauen vor enormen Schwierigkeiten, wenn sie bei einem islamischen Gericht die Scheidung einreichen, zum anderen erfahren sie durch die Richter häufig Benachteiligungen bei der Alimentierung und dem Fürsorgerecht (…).

Wie lässt sich dieser eklatante Widerspruch im Leben der Muslime erklären? Und warum entsetzen wir uns über den Schleier der Frauen und nicht über das wirkliche Elend, dem sie in ihrer menschlichen, rechtlichen und seelischen Isolierung ausgesetzt sind? (…)

Überzeugung des Menschen ist entscheidend

Es geht nicht um eine Entscheidung für oder gegen den Schleier, doch genau darüber wird besonders unter den Intellektuellen in den arabischen Gesellschaften seit Beginn der "nahda", des Wiedererwachens eines arabisch-islamischen Selbstbewusstseins im 19. Jahrhundert ununterbrochen diskutiert. Das Ganze ist nichts als tugendhaftes Gebaren, wobei diese so genannte Tugendhaftigkeit lediglich mit sich bringt, dass heute einige Frauen in den islamischen Gesellschaften im Schutze des Schleiers Orte aufsuchen können, an denen sich der Aufenthalt für eine anständige Frau nicht ziemt.

War also der Schleier für diese Frauen ein Hindernis, oder öffnete er ihnen nicht vielmehr eine Tür? Legt die Frau hingegen ihr Kopftuch ab und verhält sich zugleich weiterhin, wie es sich geziemt, so kann sie tatsächlich als Persönlichkeit auftreten und als solche Anerkennung finden. Entscheidend sind letztlich die persönlichen und religiösen Überzeugungen eines Menschen, ob Mann oder Frau. Alles andere ist Augenwischerei. (…)

Würde die Botschaft des Islam allein auf Äußerlichkeiten beruhen, würde sie nicht vor allem ins Innerste der Seele vordringen, wie hätte sie je die Grenzen der arabischen Halbinsel überwinden können? (…) Im Koran beziehungsweise durch den Prophet Muhammad wurde immer wieder gefordert, den äußeren Schein zu überwinden und zur Kernaussage durchzudringen, sowohl bei den religiösen Pflichten, als auch in Fragen der Moral und des Verhaltens ganz allgemein (…).

Rückständigkeit bedroht Fortbestehen

In diesen schweren Zeiten müssen wir Muslime abwägen zwischen den oft gegensätzlichen Ansprüchen auf zwei unterschiedlichen Diskussionsebenen. Einerseits geht es um religiöse Sanktionen, andererseits um Fortschritt oder Rückständigkeit. Wie oft haben wir doch gesagt, und tun es noch: Die kulturelle Rückständigkeit, in der wir uns befinden, widerspricht eindeutig den islamischen Vorstellungen von einer angemessenen Lebensführung, denn sie bedroht unser Fortbestehen.

Sobald die Muslime sich von dieser existentiellen Bedrohung befreit haben, können sie ihr Leben in seinen unterschiedlichen Aspekten gemäß ihren islamischen Überzeugungen regeln. Wenn sie aber aufhören, als Muslime zu existieren, was nützt ihnen dann das Festhalten an Äußerlichkeiten?

Das Dilemma der arabischen Universitäten

In einigen Gesellschaften der islamischen Länder streitet man darüber, dass an den Universitäten Studenten nicht gemeinsam mit Studentinnen unterrichtet werden sollten. Ganz aus dem Blickfeld gerät dabei die wissenschaftliche und pädagogische Qualität der Lehre, die zu garantieren die Universität doch einst gegründet wurde.

Keinem liegt das wissenschaftliche Niveau, auf dem die Lehre der fraglichen Universität steht, am Herzen, stattdessen fordert man: "Koedukation!“, respektive "Geschlechtertrennung!"

Nachdem man womöglich die Koedukation oder aber die Geschlechtertrennung durchgesetzt hat an einer Universität, die als Zeugnisbrutstätte vor sich hin vegetiert – was kann man dann, angesichts der wissenschaftlichen Dekadenz und dem niedrigen wissenschaftlichen Ausbildungsniveau für den Islam erhoffen – ob die Studierenden nun nach Geschlechtern getrennt sind oder nicht?! (…)

Auch Demokratien sind nicht wertneutral

Es steht außer Zweifel, dass ein Schleier-Verbot für muslimische Frauen in einem liberalen demokratischen Staat in krassem Gegensatz zum Prinzip der persönlichen Freiheit des Individuums steht. Der Mensch muss sein Leben gemäß seinen persönlichen Überzeugungen leben können. Es wäre jedoch falsch, hielte man liberale demokratische Systeme per se für wertneutral. Wie alle politisch und gesellschaftlich relevanten Systeme auf dieser Welt spiegeln sie die Interessen und Überzeugungen der Kräfte wider, die sie verkörpern.

Ganz besonders gilt das für die jeweilige säkulare Doktrin, für die sie eintreten. Zählt man die Freiheit zu den Grundprinzipien einer Demokratie, muss man erkennen, dass sie dem Prinzip der staatlichen Souveränität mindestens ebenso große Wichtigkeit beimisst. Auch wir beharren auf dieser Souveränität, warum also können wir sie bei anderen nicht anerkennen?

Demokratien können nur denjenigen tolerieren, der die Spielregeln eines säkularen demokratischen Systems akzeptiert. Denn durch die Auseinandersetzung mit ihren historischen Gegnern, d.h. mit den Feudalherren, den Klerikern, den Faschisten und den Kommunisten, lernte man, dass niemandem die Missachtung dieser Spielregeln gestattet werden darf.

Freiheit ist relativ

Neuerdings empfindet man in den meisten Ländern mit einer liberalen Demokratie den Islam als etwas Wesensfremdes und begegnet ihm mit einer instinktiven Angst. Vor Jahren tolerierte man beispielsweise in London oder Paris noch islamische Prediger, die in unüberlegter Naivität das islamische Kalifat proklamierten. Heute lässt man dort keine eingebürgerten Studentinnen in die staatlichen Institute, wenn sie einen islamischen Schleier tragen.

Dabei dürfen wir uns über diese Beschränkung der persönlichen Freiheitsrechte nicht wundern, denn in der Philosophie des Liberalismus ist alles "relativ", auch die Freiheit. Man muss anerkennen, dass diese werte- und interessenbezogene Relativität bereits seit langem und noch stets die Grundlage bildet, auf der alle Staaten dieser Welt, welcher Ideologie sie auch anhängen, miteinander Umgang pflegen.

Unter Wahrung unserer absoluten Prinzipien müssen diejenigen von uns, die mit den liberalen Demokratien kooperieren wollen, die "relativen" Regeln dieses Spiels anerkennen.

Muhammad Djabir al-Ansari

Der Beitrag erschien am 7. Januar 2004 in der arabischen Tageszeitung Al-Hayat.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Muhammad Djabir al-Ansari ist Publizist aus Bahrain und kultureller Berater des Königs von Bahrain.