Wahrheit ist Verhandlungssache

Der UN-Strafgerichtshof in Den Haag beschäftigt sich seit 1993 mit den Kriegsverbrechen in Ex-Jugoslawien. Hans-Christian Schmids Film zeigt, wie auch der Westen politische Entscheidungen über persönliche Schicksale stellt.

Von André Tucic

​​Als Jugoslawien nach dem Ende des Kalten Krieges zerfiel, brachen ethnisch-religiöse Konflikte auf, die in den 1990er Jahren zahlreiche Opfer forderten. Dabei handelte es sich um den 10-Tage-Krieg in Slowenien (1991), den Kroatienkrieg (1991–1995), den Bosnienkrieg (1992–1995) und den Kosovokrieg (1999).

Eine von der norwegischen Regierung finanzierte Untersuchung durch das Research and Documentation Center in Sarajevo kam im November 2005 zu dem Ergebnis, dass allein während des gesamten Bosnien-Krieges wahrscheinlich 100.000 Menschen ums Leben gekommen seien. 70 Prozent der Toten seien Bosniaken, also bosnische Muslime, 25 Prozent bosnische Serben und fünf Prozent Kroaten.

Das ist der Hintergrund, vor dem der deutsche Regisseur Hans-Christian Schmid sein Drama im Stile eines Politthrillers ansiedelt.

Spuren in dunkler Vergangenheit

Im Fokus von "Sturm" steht die Arbeit von Hannah Maynard, die Anklägerin beim Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag ist. Aufgabe des Tribunals ist es, Kriegsverbrecher wegen ihrer Straftaten zu überführen – ein oftmals zäher Prozess, der gezeichnet ist von Schwierigkeiten bei der Auslieferung der Angeklagten.

Staatsanwältin Maynard versucht Goran Duric, einen ehemaligen Befehlshaber der jugoslawischen Armee, zu verurteilen. Duric wird zur Last gelegt, für Deportation und Ermordung bosnischer Muslime in Kasmaj, einer Kleinstadt in der heutigen Republik Srpska, verantwortlich zu sein.

Ebenso soll er Dutzende Frauen in einen Ort namens Vilina Kosa verschleppt, in einem Hotel untergebracht und dort für sich und seine Schergen ein Vergewaltigungslager errichtet haben.

Maynard findet einen Zeugen, der gegen Duric aussagt, sich jedoch zunehmend in Widersprüche verstrickt. Also reist eine Delegation des Tribunals nach Bosnien, um die Aussagen des Mannes zu überprüfen. Im Rahmen der Ermittlungen bestätigt sich, dass der Zeuge gelogen hat, kurz darauf nimmt er sich das Leben.

Eine weitere Spur

Die UN-Anklägerin Maynard will den Fall nicht aufgeben. Sie reist zur Beerdigung nach Sarajevo und trifft dort auf Mira Arendt, die Schwester des Verstorbenen. Schnell zeigt sich: Die junge Frau weiß mehr als ihr Bruder. Also versucht Maynard sie als neue Zeugin zu gewinnen.

Doch Arendt lebt mittlerweile mit ihrer Familie in Berlin. Ihren Mann und ihren Sohn hat sie nie in die Geschehnisse der Vergangenheit eingeweiht. Daher zögert sie anfangs, gegen Duric auszusagen. Der Staatsanwältin gelingt es jedoch schließlich, die junge Frau zu überzeugen.

Unmittelbar vor der entscheidenden Verhandlung versucht Durics Verteidiger, Mira Arendts Zulassung als Zeugin zu verhindern – mit Erfolg. Als klar wird, dass diplomatische Bemühungen der EU dafür verantwortlich sind, begreift Maynard, dass ihre Gegner nicht nur auf der Anklagebank, sondern auch in den eigenen Reihen sitzen.

Ein düsteres Szenario

Hans-Christian Schmids Film entwirft ein düsteres Szenario zwischen der Wahrheitssuche einer Idealistin, den Drohungen bosnisch-serbischer Nationalisten und den Interessen der internationalen Politik – für die das Schicksal der Zeugin nur eine Fußnote ist.

​​Schmid wurde bekannt durch "23", "Crazy", "Lichter" und "Requiem". Für "Sturm", eine deutsch-dänisch-niederländische Koproduktion, hat er international renommierte Schauspieler gewinnen können.

Hannah Maynard wird gespielt von Kerry Fox, die unter anderem den Silbernen Bären 2001 für "Intimacy" gewann. Anamaria Marinca, die für den europäischen Filmpreis für "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" nominiert war, spielt die Rolle der Zeugin Mira Arendt.

Gemeinsam mit Drehbuchautor Bernd Lange hat Schmid lange Recherchen im Völkerrecht vorgenommen, um den Plot für "Sturm" zu entwickeln. Die Figur Hannah Maynard entwarfen sie nach dem Vorbild von Hildegard Uertz-Retzlaff, die als Staatsanwältin für das Den Haager Kriegsverbrechertribunal arbeitet.

"Uns haben die Widersprüche einer Frau interessiert, für die die Pflichterfüllung immer oberstes Gebot war und die nun durch ihre Unnachgiebigkeit zur Außenseiterin zu werden droht", erklärt Schmid im Interview. "Nun wird sie mit dem Umstand konfrontiert, dass sich ein System gegen sie stellt, das sie immer überzeugt und mit Leidenschaft vertreten hat." Abhängigkeit der Justiz

"Sturm" wurde im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2009 uraufgeführt und unter anderem mit dem Amnesty International Filmpreis ausgezeichnet.

"Schmid hat es verstanden, diese komplexe, für viele nicht greifbare Materie, emotional aber auch inhaltlich eindrücklich darzustellen", erklärte Monika Lüke, Generalsekretärin von Amnesty International. Schmid behandelt ein Themenfeld, in dem sich Amnesty International seit Jahren engagiert.

"Die Justiz in den Balkan-Staaten ist immer noch nicht unparteiisch. Es gibt oftmals keine ausreichende Strafverfolgung gegen die angeklagten Polizisten und Militärkräfte", so Lüke.

Die Zeit läuft aus

Das Haager Tribunal wurde 1993 als weltweit erstes seiner Art gegründet. Auf seine Initiative hin wurden Vergewaltigungen erstmals als Kriegsverbrechen anerkannt. Das Tribunal, auch Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien genannt, ist zuständig für die Verfolgung schwerer Verbrechen, die seit 1991 während der Kriege in Ex-Jugoslawien begangen wurden.

Bislang wurden über 60 Verurteilungen ausgesprochen, es kam zu elf Freisprüchen, und in 13 Fällen wurden die noch laufenden Verfahren an die jeweiligen Gerichte in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien übergeben. Derzeit laufen noch 18 Verfahren gegen 41 Angeklagte.

"Es gibt erst elf abgeschlossene Vergewaltigung-Verfahren. Diese Zahl verdeutlicht, wie schleppend der Aufarbeitungsprozess läuft", sagte Lüke. Im nächsten Jahr wird das Haager Tribunal geschlossen. Dann werden die offenen Fälle an die jeweiligen Landesgerichte übergeben. Zu früh, so Lüke. "Es muss zunächst eine Justiz aufgebaut werden, die zu Unabhängigkeit fähig ist."

"Einer der ersten Präsidenten des Gerichts hat einmal gesagt, dass das Tribunal wie ein Kind ist, und die Angestellten sind in der Rolle der Eltern", erklärte Bernd Lange. "Es lernt gerade laufen und stolpert, aber sie müssen ihm immer wieder auf die Beine helfen."

Eine sehr gute Umschreibung für die besondere Verantwortung, die die Angestellten, aber auch die Vereinten Nationen haben, so der Drehbuchautor. "Eine unabhängige Justiz kann ich nicht nur als Utopie verstehen, denn sie ist einer der Grundpfeiler unserer Demokratie. Und damit geht uns das Wohlergehen so eines Gerichts auch alle persönlich an."

André Tucic

© Qantara.de 2009

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