Schwerer Zugang zu den Gedanken

Deutsche Sicherheitsbehörden sind bestrebt, einfache Muslime nicht mit Extremisten in einen Topf zu werfen. Das ist nicht immer einfach. Ein Beispiel ist die Muslim-Organisation Milli Görüs.

Von Rainer Sollich

Als der radikale Islamistenführer Metin Kaplan am 12. Oktober 2004 nach langem juristischen Tauziehen in die Türkei abgeschoben wurde, da gab es Beifall aus allen Teilen der deutschen Gesellschaft.

Denn die meisten Bürger und Politiker sehen es genauso wie Innenminister Otto Schily: "Es muss ganz klar sein: Eine Person vom Schlage Metin Kaplans hat in Deutschland nichts zu suchen. Ein Mann, der zu Tötungsdelikten aufruft, der sich mit seiner Organisation 'Kalifatsstaat' über die Verfassungsordnung stellen will, der Gewalt und Hass predigt gegen Juden und Andersgläubige - wenn wir solche Personen nicht außer Landes bringen können, dann hätte die Demokratie den Anspruch verloren, eine wehrhafte Demokratie zu sein."

Anti-demokratische Aktivitäten unter dem Deckmantel des Islam festzustellen, war hier allerdings denkbar einfach: Kaplans Organisation "Kalifatsstaat" beschäftigt sich nachweislich nicht vorrangig mit islamischer Brauchtumspflege, sondern betreibt übelste politische Hetze.

Der selbst ernannte "Kalif" von Köln hatte zum Mord an einem politischen Konkurrenten aufgerufen und dafür bereits eine vierjährige Gefängnisstrafe verbüßt. Zudem war seine Organisation Ende 2001 wegen eindeutiger verfassungsfeindlicher Aktivitäten verboten worden. Und Metin Kaplan selbst verlor dadurch als türkischer Staatsbürger seinen schützenden Asylstatus.

Antidemokratische Tendenzen

Kaplans "Kalifatsstaat" ist allerdings nur eine religiös verbrämte Polit-Sekte mit weniger als 1000 Mitgliedern. Ihr Einfluss auf die in Deutschland lebenden Muslime und Türken gilt als überaus gering.

Eine weitaus größere Herausforderung für die deutsche Gesellschaft ist die ebenfalls türkisch dominierte "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG). Sie ist mit über 26.000 Mitgliedern die größte islamistische Organisation in Deutschland. Und sie unterhält ein dicht geknüpftes Netz aus Moschee-, Frauen- und Jugendvereinen, die in türkisch geprägten Stadtvierteln teilweise über großen Einfluss verfügen.

Milli Görüs bezeichnet sich selbst zwar als eher unpolitische, überparteiliche Interessenvertreteung für die in Deutschland lebenden Muslime.

Aber die Verfassungsschutzämter auf Bundes- und Landesebene sind überzeugt: Milli Görüs ist die Auslandsorganisation des gealterten türkischen Islamistenführers und ehemaligen Regierungschefs Necmettin Erbakan und bekämpft insgeheim die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland. Sein Sohn Mehmet Erbakan (Foto) ist Generalsekretär von Milli Görüs.

Dies nachzuweisen, wird allerdings immer schwieriger. Anders als zur Gründungszeit in den siebziger Jahren, ist Milli Görüs seit Mitte der neunziger Jahre bemüht, sich in der deutschen Öffentlichkeit als demokratisch und integrationsorientiert darzustellen. Gewalttätig ist die Organisation ohnehin noch nie in Erscheinung getreten.

Nur ein Lippenbekenntnis?

Milli-Görüs-Generalsekretär Oguz Ücüncü sagt im DW-Interview, seine Organisation werde von Verfassungsschützern zu Unrecht als "Wolf im Schafspelz" betrachtet. Er will beim Wort genommen werden.

"Das ist ja die Grundsatzfrage, die in den Berichten der Verfassungsschutzämter aufgeworfen wird: Ob dem, was von uns aus öffentlich verlautbart wird, Glauben geschenkt werden kann. Und wir denken: Da kann man uns beim Wort nehmen. Wir bekennen uns zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht als Lippenbekenntnis, sondern als Teil unserer Sozialisation hier in Deutschland - als inzwischen vierte Generation."

Auf ihrer Internet-Homepage präsentiert die Organisation sich geradezu als Musterbeispiel für islamische Dialogbereitschaft: Milli Görüs lobt und preist dort nicht nur das deutsche Grundgesetz. Die Organisation verurteilt dort auch deutlich Terroranschläge fundamentalistischer Gruppen, fordert ihre Mitglieder zur Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft sowie zum aktiven Engagement in der deutschen Gesellschaft auf - und sie macht sich obendrein auch noch demonstrativ stark für die Gleichberechtigung der Frau im Islam.

Intensive Auseinandersetzung vonnöten

Sicherheitsexperten wie die Berliner Verfassungsschutz-Chefin Claudia Schmid warnen allerdings schon länger davor, solchen wohlfeilen Bekundungen blindlings Glauben zu schenken.

"Der politisch organisierte Islamismus hat subtile Mittel, die nicht zu unterschätzen sind - und die angelegt sind auf eine politische Durchsetzung seiner Interessen, die auch bis in die alltäglichen Lebensabläufe reichen. Die Abgrenzung zwischen Offenheit gegenüber fremden Kulturen auf der einen Seite und falscher Gutgläubigkeit, ja Naivität, auf der anderen Seite, ist schwierig. Sie bedarf der Sachkenntnis und einer intensiven Auseinandersetzung."

Verfassungsschützer argumentieren, dass die interne Struktur von Milli Görüs entgegen eigener Bekundungen keineswegs offen und demokratisch sei. Sie sei dem Prinzip von Befehl und Gehorsam verpflichtet.

Einzelne Personen sind problematisch

Und auch wenn es heute nur noch selten vorkomme, gebe es doch immer wieder Äußerungen einzelner Milli-Görüs-Funktionäre, die auf eine demokratiefeindliche oder judenfeindliche Grundhaltung schließen ließen. Ähnliches hatte vor zwei Jahren auch schon der Islamwissenschaftler Kai Hafez in einem DW-Interview festgestellt.

"Das Problematische an Milli Görüs sind einzelne Personen und einzelne Untergruppen von Milli Görüs, die durchaus zum Teil antisemitische Weltbilder pflegen können. Wir wissen, dass es auf Treffen und Tagungen der Milli Görüs solche Tendenzen gibt. Wir wissen von einzelnen Buchständen, wo antisemitisches Gedankengut aufgetaucht ist. All dies ist sicherlich zu beobachten und im einzelnen zu verfolgen.

Die Frage ist nur: In welcher Art verfolgt man es - sozusagen strafrechtlich und im Bezug auf einzelne Akteure, oder strebt man ein Verbot der Gesamtorganisation an?"

Ein Verbot von Milli Görüs erscheint jedoch unrealistisch - und wäre wohl auch kontraproduktiv. Nicht nur, weil die Vereinigung bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist und die Mitglieder durch ein Verbot radikalisiert und in den Untergrund getrieben werden könnten. Sondern auch deshalb, weil in Milli-Görüs-Moscheen auch viele einfache Muslime beten, die ein Verbot als Repression gegen ihre Religion empfinden könnten.

Reformen von innen?

Überdies halten es mehrere Verfassungsschutzämter inzwischen sogar für möglich, dass die nach außen propagierte Dialogbereitschaft von Milli Görüs nicht mehr nur der Verschleierung geheimer politischer Ziele dient, sondern längst eine eigene Dynamik entfaltet hat.

In Teilen der Organisation könnte demnach tatsächlich ein Wandlungsprozess in Gang gekommen sein.

Im Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen heißt es zum Beispiel: Bei Milli Görüs gebe es durchaus progressiv und liberal eingestellte Führungsfunktionäre. Sie könnten sich aber bisher nicht gegen die Übermacht der Islamisten durchsetzen.

Rainer Sollich

© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004