"Symbole der syrischen Revolution töten"
"Herzinfarkt" - das ist eine häufige Todesursache, die das syrische Regime derzeit für tausende Syrerinnen und Syrer angibt, die seit Beginn des Krieges vor sieben Jahren inhaftiert wurden oder seitdem verschwunden waren. Mutmaßlich sind viele von ihnen tatsächlich verhungert, zu Tode gefoltert oder exekutiert worden.
Im Mai haben die Behörden stillschweigend begonnen, die Daten in den Einwohnermeldeämtern auf den neuesten Stand zu bringen.
Oft erfahren die Angehörigen auf diese Weise, dass ihre vermissten Familienmitglieder tatsächlich vor Jahren gestorben sind, etwa während des Aufstandes 2011. Im Fall des syrischen Aktivisten Yahya Shurbaji fand seine Familie erst durch einen aktualisierten Eintrag im Melderegister heraus, dass er viele Jahre nach seiner Inhaftierung im Gefängnis gestorben war.
Shurbaji wurde unter dem Spitznamen "Mann der Rosen" bekannt und im September 2011 verhaftet. Seit Beginn der friedlichen Proteste gegen Präsident Baschar al-Assad im März jenes Jahres hatte er im Damaszener Vorort Daraja eine Schlüsselrolle dabei gespielt, die Demonstrationen zu organisieren.
Der Eintrag beim Standesamt trägt als Todesdatum den 15. Januar 2013 - so hat es seine Familie dem Syrischen Netzwerk für Menschenrechte berichtet.
Diese Familie ist nicht die einzige, die erst unter diesen Umständen herausfindet, dass einer ihrer Angehörigen tot ist. Nach Informationen von Menschenrechtsaktivisten vor Ort seien jüngst rund 5000 politische Gefangene für tot erklärt worden, so Diana Semaan, bei Amnesty International zuständig für Syrien: "Einige Familien haben schon früher Nachricht bekommen, aber es war noch nie eine große Zahl oder so ein Schub, wie wir ihn jetzt sehen."
Assads Gesetz Nummer 10
Das syrische Regime hat sich bisher nicht dazu geäußert, warum es die Melderegister massenweise aktualisiert. Experten sehen eine ganze Reihe von Gründen für diesen Schritt.
Mohammad al-Abdallah war selbst in Syrien inhaftiert und arbeitet jetzt beim Syria Justice and Accountability Center in Washington, das sich gegen Straffreiheit von Menschenrechtsverletzungen und Wiedergutmachung in Syrien einsetzt. Für ihn hängt das Vorgehen der Regierung mit dem jüngst erlassenen Gesetz Nummer 10 zusammen.
Das Gesetz Nummer 10 erlaubt der syrischen Regierung, sogenannte Entwicklungszonen festzulegen und Besitz zu enteignen, den niemand beansprucht. Nachdem eine solche Zone ausgewiesen worden ist, hat ein Antragsteller 30 Tage Zeit, seinen Anspruch anzumelden, bevor der Besitz an die kommunale oder regionale Behörde fällt. Die Person muss entweder der Besitzer selber, ein Angehöriger oder ein entsprechend Beauftragter sein. Er oder sie muss dann einen Rechtsanspruch auf das Stück Land begründen - in einem Verfahren, das schwer zu durchschauen ist.
Das Gesetz hatte international einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen, da es für Flüchtlinge kaum möglich ist, zurückzukehren und ihren Besitz zu beanspruchen - schon gar nicht innerhalb der gesetzten Frist. Zumindest im Lande lebende Erben eines in Haft verstorbenen Hausbesitzers können jetzt ihre Rechte einklagen - theoretisch.
"Es gibt ja juristische Aspekte, die bestimmen, wie das Leben einer Familie weitergeht, wenn ein Mitglied vermisst wird. Ohne Totenschein wird es schwierig für die Familie, Fälle von Grundbesitz zu regeln", sagt al-Abdallah.Ein Anschein von Legalität
Auch Turki al-Hassan, Politikwissenschaftler und ehemaliger syrischer Brigadegeneral, bekräftigt, dass die Melderegister-Updates im Interesse der Regierung liegen. Hintergrund sei, dass das Assad-Regime die militärische Situation in Syrien wieder weitgehend unter Kontrolle habe.
"Das begründet die Rechte des Verstorbenen und seiner Familie, etwa das Erben von Grund und Besitz oder eine neue Heirat für Frauen, die ihren Ehemann verloren haben", so al-Hassan im DW-Gespräch. "Das zeigt, wie stabil die Situation im Land ist", so der regimenahe Politologe.
Mit der Todesnachricht ist der Fall für die Angehörigen aber nicht abgeschlossen. Nach syrischem Gesetz haben Familien danach einen Monat Zeit, eine offizielle Sterbeurkunde zu beantragen. Ohne die können sie keine rechtlichen Änderungen einleiten, die sich aus dem Todesfall ergeben. Wer die Urkunde nicht beantragt, muss 70.000 syrische Pfund (rund 120 Euro) Strafe zahlen.
"Die Regierung will, dass die Leute die juristischen Dokumente haben, um diese Dinge regeln zu können", sagt der Aktivist al-Abdallah. "Das Einwohnermeldeamt informiert die Familie, dass sie innerhalb eines Monats die Sterbeurkunde beantragen müssen und dass sonst die Strafe fällig wird. Das zeigt den Zeitdruck, den die Regierung aufbaut."
"Die Symbole der Revolution töten"
Einige Beobachter vermuten andere strategische Gründe hinter dem Vorgehen des Regimes. Noura Ghazi, Anwältin und Mitgründerin der Bewegung Familien für Freiheit, glaubt, dass die Assad-Regierung ihre Rückeroberungen mit Blick auf die Endphase des Krieges festigen will.
"Das Regime gibt diese Todesmitteilungen aus, weil es merkt, dass es gewinnt und Siege verbuchen kann", so Ghazi. "Mit diesen Benachrichtigungen terrorisiert es die Menschen auch - es tötet die Symbole der friedlichen Revolution."
Auch Fadwa Mahmoud, ebenfalls Mitgründerin der Familien für Freiheit und Angehörige eines Inhaftierten, sagte, dass "der Zweck dieser Mitteilungen ist, die Botschaft zu überbringen, dass die Akte des Gefangenen für immer geschlossen ist, und dass es unmöglich ist, sie jemals wieder zu öffnen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen".
Der UN-Sondergesandte für Syrien, Staffan de Mistura, der im Syrienkrieg vermitteln soll, hatte jüngst die Gefangenen, Vermissten und Verschwundenen angesprochen. Er besteht darauf, dass ihr Schicksal geklärt werden müsse, um einer politischen Lösung näherzukommen.
Während das Regime seinen militärischen Geländegewinn im ganzen Land mehr und mehr ausbaut, will es seine Hände in Unschuld waschen, bevor es sich an den Verhandlungstisch setzt - das glauben Syrer wie der ehemalige Gefangene al-Abdallah: "Das ist die Assad-Version einer Konfliktlösung."
Lewis Sanders, Emad Hassan
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