Magisch schöne beschwerliche Flucht

Als die Taliban drohen, den Regisseur Hassan Fazili umzubringen, entscheidet er sich, die Flucht seiner Familie nach Europa mit dem Mobiltelefon zu filmen. Fazili und sein Team haben einen Film geschaffen, der nicht nur als politisches Zeitdokument, sondern auch als Kunstwerk besteht. Von René Wildangel

Von René Wildangel

Hassan Fazili hat aus Sicht der Taliban gleich mehrere schwere Verbrechen begangen: Den Film "Peace in Afghanistan" veröffentlicht, in dem ein ehemaliger Taliban-Kommandeur deren Kriegslust verurteilt, Filme über Frauenrechte gedreht und ein Café für Künstler in Kabul eröffnet. Nach massiven Drohungen der Islamisten muss er das Café schließen und mit seiner Frau Fatima und seinen Töchtern Narges und Zahra aus dem Land fliehen.

Vom Exil in Tadschikistan aus versucht die Familie, ein Land zu finden, das sie aufnimmt. Fatima hält den Asylantrag für Australien in die Kamera, ein dicker Stapel Papier mit Hunderten Seiten und endlosen, auch internationalen Berichten über ihre Verfolgungsgeschichte. Aber nach der Ausweisung aus Tadschikistan bleibt der Familie nichts anderes übrig, als mit dem Auto die gefährliche Rückfahrt nach Mazar-e-Sharif anzutreten.

Widerwillig legt Fatima an der Grenze die Burka an. "Mir ist eh schon so warm und jetzt auch noch das!" Ihren Humor verlieren die Fazilis auch angesichts der widrigsten Umstände nie. Aber zu Hause warnt den Regisseur ein alter Freund, der sich den Taliban angeschlossen hat, dass sein Leben in höchster Gefahr ist. Endgültig entschließt sich die Familie zur Flucht, diesmal auf der gefährlichen Route nach Europa, durch Länder, deren Namen sie zum Teil noch nie gehört haben.

Die Tortur der Balkanroute

Hassan und Fatima haben noch etwas beschlossen: Sie wollen diese Reise dokumentieren, und in den nächsten zwei Jahren begleitet sie ununterbrochen ihre Filmkamera. Oder in diesem Fall: Drei Mobiltelefone, mit denen die Familie filmt. Warum per Handy? "Das war viel einfacher auf der Reise", erklärt der Regisseur. "Ein Handy hat man immer dabei, man erregt auch nicht so viel Aufmerksamkeit."

Filmszene aus "Midnight Traveler" von Hassan Fazili; Quelle: moviepilot.de
Die Flucht als abenteuerlicher Familienausflug? Die ältere Tochter Narges ist so lebenslustig und neugierig auf dieser Reise, dass es manchmal fast so scheinen mag. Trotz der vielen Anstrengungen gibt es nur eins, was sie wirklich aus der Fassung bringt: "Mir ist langweilig" bricht es einmal aus ihr heraus, und das ist für sie das Schlimmste.

Der Reiseverlauf ist schleppend langsam und der Ausgang ungewiss. Über die iranisch-türkische Grenze gelangt die Familie nach Istanbul, 4.000 Euro sei der Preis für die Überfahrt mit dem Boot, doch das kann bekanntlich tödlich enden. Die Familie entscheidet sich für den Landweg nach Bulgarien, stets in der Nacht  geht die Reise weiter, hilflos ausgeliefert in der Hand der Schlepper, die sie betrügen.

Nach Verhaftung durch die bulgarische Polizei landen sie im Flüchtlingslager Ovcha. Dort ging es der Familie relativ gut, sagt Tochter Narges, bis ein Mann versucht, sie anzugreifen. Die Stimmung in Bulgarien ist aufgeheizt, vor dem Camp kommt es zu gewaltsamen Protesten von Nationalisten, physische Übergriffe häufen sich. Die Polizei schützt die aufgebrachten Demonstranten, nicht die Geflüchteten.

Es geht nicht mehr, die nächste Station ist Serbien. Dort sind die Lager voll, die Familie schläft in einer Bauruine, draußen verwandeln die Schneeflocken Belgrad in eine weiße Winterlandschaft. Auf der nächsten Station, dem Flüchtlingslager Krnjaca, kann man sich für die Weiterreise nach Ungarn registrieren lassen.

Das dauert lange, aber eine neuerliche illegale Grenzüberquerung wollen sie sich ersparen. Unbeschwerte Winterbilder könnten das sein, mit Schneemännern, Schneeballschlacht und Silvester-Feuerwerk. Aber das Warten nimmt kein Ende, Wochen, Monate vergehen, schließlich verbringen sie hier über ein Jahr. Wir sehen wie die Töchter heranwachsen, Narges zu Michael Jacksons "Black and White" tanzt und Fatima Fahrrad fahren lernt. 

Mehr als eine Handy-Dokumentation

Zwar gibt es schon einige Dokumentationen, die mit Handy-Videos von Geflüchteten arbeiten. So zum Beispiel die WDR-Dokumentation "Meine Flucht/ My Escape", die sechsteilige Flucht-Dokumentation "The Journey" oder der vom Guardian produzierte Film "Escape from Syria: Rania's Odyssey".

Alles beeindruckende Zeitdokumente, aber "Midnight Traveller" ragt heraus: Es ist nicht nur ein Film, der die Torturen der Flucht dokumentiert. Sondern zugleich ein unterhaltsamer und schöner Film. Das liegt an Hassan Fazilis herausragendem Auge als Filmemacher. Es sind viele kleine Momente, Details, Stimmungen, Sonnenuntergänge, kleine Alltagsszenen der Familie, Momente des Glücks und der Freude, der Charme und der Witz dieser Familie.

Die Flucht als abenteuerlicher Familienausflug? Die ältere Tochter Narges ist so lebenslustig und neugierig auf dieser Reise, dass es manchmal fast so scheinen mag. Trotz der vielen Anstrengungen gibt es nur eins, was sie wirklich aus der Fassung bringt: "Mir ist langweilig" bricht es einmal aus ihr heraus, und das ist für sie das Schlimmste.

Unablässig wird gefilmt, jeder Schritt dieser Reise wird gleichzeitig zum filmischen Erlebnis. Vielleicht wird sie dadurch auch ein wenig erträglicher. Privatsphäre für die Familie gibt es so aber nicht.

Für Hassan Fazili ist das nichts Neues, denn schon in seinem in Afghanistan gedrehten Kurzfilm "Mr. Fazili's wife" spielen Frau Fatima und Tochter Narges mit. Diesmal wird die ganze Familie zum Kamerateam, denn wenn Hassan oder Fatima, die auch Filmemacherin ist, nicht filmen, dann haben garantiert ihre Töchter das Telefon in der Hand.

Ein "Etappen-Dreh"

So sind Hunderte Stunden Filmmaterial entstanden, aus denen Hassan Fazili und sein Produktionsteam auswählen mussten. Diese Selektion und der Rohschnitt des Films fand schon statt, als die Familie noch auf der Flucht war: Auf allen Stationen organisierten die Produzenten von New York aus, dass vor Ort fertiges Filmmaterial entgegengenommen wurde, während der Regisseur ständig Links mit neuen Versionen des geschnittenen Materials erhielt.

So entstand Stück für Stück der Film, die finale Version in gemeinsamen intensiven Tagen in Deutschland. Die aufwendige digitale Nachbearbeitung des Filmmaterials holt aus der technisch begrenzten Qualität der Mobiltelefone Erstaunliches heraus, so dass Fazilis magisch schöne Bilder auch auf der großen Kinoleinwand bestehen können.

Schließlich kommt für die Familie die erlösende Nachricht: sie stehen auf Platz eins der Liste und können ins Transitlager Roszke nach Ungarn weiterreisen. Es folgen nochmal drei frustrierende Monate Wartezeit und Ungewissheit, in der sie diesen Ort nicht verlassen dürfen. Dann geht es weiter zur vorerst letzten Station: Nach Deutschland.

An dieser Stelle endet der Film, aber ganz vorbei ist die Reise noch nicht: Der Asylantrag wird abgelehnt, ein Widerrufverfahren läuft. Ein Regisseur, der von den Taliban verfolgt wird, dokumentiert durch einen preisgekrönten Kinofilm (beim Sundance Festival erhielt der Film einen "World Cinema Documentary Special Jury Award for No Borders"), wird abgelehnt? Kaum zu fassen. Aber Fazili nimmt es gelassen: "Wir haben jetzt einen besseren Anwalt", sagt er. Seine Energie braucht er für andere Dinge: Den Regisseur beschäftigen schon wieder Ideen für neue Filmprojekte.

René Wildangel

© Qantara.de 2019