„Bekämpft die Fluchtursachen, nicht die Menschen“

Ein Zelt auf einem Platz. Davor sitzen Männer auf einer Mauer.
Bis heute Anlaufstelle für obdachlose Geflüchtete: der Viktoria-Platz in Athen (Foto: Picture Alliance /AA | A. Mehmet)

Der afghanisch-griechische Aktivist Nasim Lomani setzt sich für Geflüchtete ein. Die Fluchtbewegungen aus seiner Heimat würden nicht abnehmen, solange die EU die Probleme vor Ort ignoriert, meint er.

Interview von Emran Feroz

Qantara: Seit Jahren ist Griechenland Europas Ankunftshafen für Geflüchtete aus vielen Ländern der Welt. Woher kommen gegenwärtig die meisten Geflüchteten und wie würden Sie den Status quo in Sachen Flucht- und Migrationspolitik beschreiben?

Nasim Lomani: Die meisten Menschen kommen weiterhin aus Syrien und Afghanistan. Doch im Vergleich zu früher ist die Lage ruhiger geworden. Der Grund hierfür ist allerdings kein schöner. De facto haben illegale Push-backs und Grenzkontrollen zugenommen. Das bedeutet, dass viele Geflüchtete gar nicht ankommen, weil sie zurück in die Türkei gebracht werden oder den Tod auf See finden.

Ein besonders eindrücklicher Fall ist das im Juni 2023 vor Pylos gesunkene Schiff. Es starben über 600 Menschen, wobei die genauen Abläufe bis heute umstritten sind. Forensic Architecture veröffentlichte eine Untersuchung, die belegt, dass das Schiff kenterte, weil die griechische Küstenwache versuchte, es abzuschleppen. Die griechischen Behörden bestreiten dies.

Neben den Pushbacks ist die schlechte Qualität der Schlauchboote der Schmuggler ein Grund für die hohen Todeszahlen. Hinzu kommt der Umstand, dass viele Menschen sich aufgrund der stärkeren Grenzkontrollen gezwungen sehen, gefährlichere Routen einzuschlagen.

Nasim Lomani sitzt mit verschränkten Armen.
Aktivist

Nasim Lomani ist Aktivist und Forscher. Er lebt in Athen, Griechenland. Ursprünglich aus Afghanistan stammend, kam er in den frühen 2000er Jahren nach Griechenland und engagiert sich seitdem in der antirassistischen Bewegung. Er war Teil von City Plaza, einem kollektiven Projekt für die Unterbringung von Geflüchteten in Athen (2016-2019).

Das heißt, die EU schirmt sich noch mehr ab?

Richtig. Die EU-Ausgaben für Auffanglager und die Sicherung der Außengrenzen sind in den letzten Jahren massiv gestiegen. Vieles von dem Geld fließt auch nach Griechenland. Hinzu kommen Deals mit regionalen Akteuren, um geflüchtete Menschen zu deportieren.

Ein Beispiel hierfür ist etwa das Abkommen zwischen Deutschland und Usbekistan vom September 2024. Usbekistan und andere autoritäre Staaten merken dadurch, dass solche Deals zu ihrem Vorteil sein können. Sie werden von der EU subventioniert und können Auflagen stellen, etwa indem sie Visa für Arbeitskräfte, die nach Deutschland kommen möchten, fordern, während junge Geflüchtete abgeschoben werden.

Natürlich steckt hier beidseitig ein wirtschaftliches Kalkül dahinter. Staaten wie Deutschland wissen, dass sie weiterhin auf billige Arbeitskräfte von anderswo angewiesen sind. Allerdings wäre es aus deutscher beziehungsweise westlicher Sicht schön und wünschenswert, wenn diese Menschen irgendwann auch wieder gehen.

Sie kritisieren den Begriff „Wirtschaftsflüchtling”.

Natürlich. Denn er ist meines Erachtens grundlegend falsch. Menschen fliehen aufgrund der Lebensumstände in ihren Heimatländern. Solange es diese Umstände, ob nun in Form von Kriegen, Klimawandel oder Hunger, gibt, wird auch die Flucht aus diesen Ländern nicht abnehmen. 

Keine der repressiven Verordnungen der EU wird diesen Umstand ändern. Egal, wie sehr man auf Überwachung und Kontrolle setzt: Die Menschen flüchten weiterhin und sie finden stets neue Routen, die sich für sie öffnen. Das liegt in der Natur der Flucht. Das „Management der Flucht“ schafft keine Lösungen, solange die Flucht selbst existiert.

2016 haben Sie gemeinsam mit anderen Aktivist:innen das City Plaza Hotel in der Nähe des Viktoria-Platzes in Athen besetzt. Wie kam es dazu und was lässt sich in diesem Kontext über die griechische Geflüchtetenpolitik sagen?

Bis heute gilt die Gegend um den Viktoria-Platz als Anlaufstelle für Geflüchtete. Viele von ihnen versuchen, eine Unterkunft zu finden, und nicht wenige werden obdachlos. Damals war die Lage allerdings derart katastrophal, dass wir ein Zeichen setzen wollten. Es gab viele leerstehende Gebäude, doch Tausende von Menschen campierten auf dem Platz. Wir wollten mit unserem Protest ausdrücken, dass wir menschenwürdigen Wohnraum für Geflüchtete in Griechenland benötigen.

Doch davon fehlt bis heute jede Spur. Viele Menschen, die in Athen ankommen, finden keine staatlich organisierte Unterkunft, sondern müssen sich selbst eine Bleibe organisieren. Meist sind das private Wohnungen, in denen kein Raum, sondern lediglich Schlafmatratzen zu teuren Preisen vermietet werden. Da leben dann schnell fünfzehn bis zwanzig Menschen in drei bis vier Zimmern.

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Griechenland wird von vielen Geflüchteten als Zwischenstopp betrachtet, unter anderem wegen der Lebensumstände. Sie sind damals geblieben, doch viele wollen weiterziehen.

Das ist richtig. Ich kam hier vor über zwanzig Jahren an und entschied mich zu bleiben. Es gab damals weder Aktivismus noch Dolmetscher:innen für Geflüchtete. Doch auch heute gibt es gute Gründe für die Menschen, weiterzuziehen. Es gibt weder einen ausgeprägten Wohlfahrtsstaat noch die Möglichkeit des Familiennachzugs. 

Trotz des Umstands, dass die Menschen nicht lange in Griechenland bleiben, gab es immer wieder Phasen, in denen Populist:innen und Demagogen Geflüchtete für jedwedes Übel und die schlechte Wirtschaftslage im Land verantwortlich machten. Heute wissen wir: Die Menschen sind gegangen, doch die Probleme sind geblieben. In jenen zentraleuropäischen Staaten, in denen gegenwärtig viele rassistische und flüchtlingsfeindliche Diskurse vorherrschen, wird es nicht anders sein.

Was wäre Ihrer Meinung nach eine echte, langfristige Lösung?

Die Anerkennung der Fluchtursachen wäre ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Ich kann bis heute nicht nach Afghanistan reisen, weil ich einer ethnischen und religiösen Minderheit angehöre. Es ist fragwürdig, dass gleichzeitig viele Politiker:innen im Westen versuchen, die Beziehungen zu den Taliban zu normalisieren. 

Hinzu kommt, dass es der Westen war, der dort zwanzig Jahre lang Krieg geführt hat, und zwar ohne jeglichen Erfolg. Das Resultat des Afghanistan-Kriegs ist eindeutig, doch die westliche Staatengemeinschaft will keine Verantwortung dafür übernehmen. Man verdrängt und ignoriert, was man selbst mitverursacht hat. Ähnlich verhält es sich auch mit anderen Konflikten.

Es gibt hier auch viele neu Geflüchtete aus Palästina und dem Libanon. Die Flucht dieser Menschen ist die Folge westlicher Gewalt. Israel wird von den USA, Deutschland und zahlreichen anderen Staaten weiterhin massiv unterstützt. Ein weiterer notwendiger Schritt wäre deshalb auch ein Stopp von Waffenlieferungen.

Man muss endlich die Fluchtursachen definieren und eine ehrliche, von Werten geleitete Politik durchsetzen. Stattdessen passiert weiterhin das Gegenteil: Das individuelle Recht auf Asyl wurde praktisch abgeschafft. Ähnlich verhält es sich mit der Genfer Konvention. Verantwortliche Akteure wie die EU sollten gegen die bestehenden Fluchtursachen vorgehen und nicht gegen jene Menschen, die vor ihnen fliehen.

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