Appell für mehr Selbstbestimmung
Ehestreit in einer Einbauküche. Der Mann wutentbrannt, die Frau versucht sich zu erklären. Aufgerissene Augen, laute Stimmen. Eine weitere Frau in Panik, sie versucht zu schlichten. Da greift der Mann ein Messer vom Tisch. Es entsteht Gerangel, dann sticht er zu. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Nahaufnahme des eindringenden Fleischermessers, Blut breitet sich im Kleid der Ehefrau aus.
Schnitt - Werbung, das neue Handy. Vormittagsprogramm im türkischen Fernsehen. Auf dem anderen Kanal Musikvideos, Weichzeichner-Bilder, Schlager über romantische Liebe.
Angst vor Männergewalt verbreitet
In einer von der türkischen Regierung und der EU bezahlten Studie der Universität Ankara wurden jetzt über 8000 Frauen zu Gewalt in der Ehe befragt.
39 Prozent davon waren der Ansicht, dass es berechtigte Gründe für ihren Ehemann geben könne, gegen sie gewalttätig zu werden. Genannt wurden: Verweigerung von Geschlechtsverkehr, Vernachlässigung der Kinder, verschwenderisches Verhalten, dem Mann widersprechen, das Essen anbrennen lassen.
Der türkische Psycho- und Sexualtherapeut Halis Cicek, der seine Praxis in Berlin-Kreuzberg hat und mit einer Deutschen verheiratet ist, ist mal wieder zu Besuch in seiner Heimat Ostanatolien. Seine vier Schwestern leben hier. Alle wurden mit Cousins verheiratet, in die Ehe gezwungen - außer einer.
Nur knapp konnte Cicek als Junge verhindern, dass diese Schwester sich erhängte. Sie liebte einen anderen, wollte lieber sterben, als den für sie ausgesuchten Mann akzeptieren.
Auch heute werden im Süden und Südosten der Türkei noch immer 40% der Frauen zwangsverheiratet, in Ankara sind es 22%. Das ergaben Umfragen der 1993 gegründeten türkischen Menschenrechtsorganisation "Women for Women's Rights" (WWHR).
Seit 1997 gibt es in Diyabakir das Frauenzentrum Kamer, zunächst als Nottelefon. Bis Ende 2002 hatten hier fast 2000 Frauen telefonisch um Hilfe gebeten. 70 von ihnen, weil sie fürchteten von ihrer Familie umgebracht zu werden. Als eine von ihnen tatsächlich ermordet wird, werden die Frauen von Kamer offensiver, gehen an die Öffentlichkeit, suchen Mitstreiter, machen Pressekampagnen. Trotzdem sehen die Aktivistinnen noch einen weiten Weg vor sich.
Der Bruder als Vollstrecker
Die 16jährige Kadriye Demirel war von einem Cousin vergewaltigt worden und im fünften Monat schwanger. Sie hatte die Vergewaltigung bei der Polizei angezeigt. Erfolglos. Die Familie beschloss, sie zu töten, als die sonst übliche Ehrenrettung fehlschlug: den Vergewaltiger heiraten.
Als dessen Familie ablehnt, wird Kadriyes 18jähriger Bruder als Vollstrecker ausgeguckt. Auf offener Straße greift er sie mit einem Säbel an und erschlägt sie dann mit einem Stein. Er wurde mit mildernden Umständen zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.
Die 35jährige Semse Allak hatte, da die Eltern starben, ihre Geschwister großgezogen und war für türkische Verhältnisse eigentlich zu alt, um zu heiraten. Sie verliebte sich in einen verheirateten Mann, Vater von zehn Kindern, sollte Zweitfrau werden, das typische Schicksal von in die Jahre gekommenen Bräuten.
Doch die beiden nehmen die Ehe vorweg. Als Semse schwanger wird, lassen sie sich schnell von einem Imam trauen. Für die Ehre der Familie bleibt die Reihenfolge dennoch falsch. Sie steinigt die beiden, während der 10jährige Sohn des Mannes zusehen muss.
Initiativen gegen Ehrenmorde
"Die Zeitungen berichten etwa jeden dritten Tag von einem Ehrenmord, das sind rund 150 im Jahr. Und das ist natürlich nur die Spitze des Eisbergs", sagt Pinar Ilkkaracan von WWHR in Istanbul. "Aber wir sind sehr glücklich, dass das jetzt überhaupt öffentlich wird. Die Frauen in der Türkei haben in den letzten zwei Jahren eine Revolution erlebt."
Offenbar auch auf Druck der EU. Im Jahr 2000 hatte der Europarat "alle Verbrechen im Namen der Ehre" verurteilt. Und die Forderung der Europäischen Union nach Gleichstellung der türkischen Frau als eine der Voraussetzungen für den EU-Beitritt zeigt nun selbst im konservativen Osten und Südosten Wirkung.
2001 hat die Novellierung des türkischen Zivilgesetzbuches Männer und Frauen offiziell gleichgestellt. Und die Strafrechtsreform dieses Jahres hat mehr als 30 Veränderungsvorschläge der Frauenrechtsgruppen aufgenommen.
Sie ahndet Ehrenmorde, für die es früher - mit dem Argument der Provokation - mildernde Umstände gab, zum Beispiel jetzt mit lebenslanger Haft. Sie macht Vergewaltigung in der Ehe erstmals strafbar, und erlaubt Jungfernschaftstests, die früher auch ein Schuldirektor anordnen konnte, nur noch nach richterlicher Entscheidung.
Vor den 80er Jahren, vor dem Einfluss der Hisbollah in der Kurdenregion, sei das Leben in Diyabakir ganz anders gewesen. "Die Frauen konnten sich frei bewegen und kurze Ärmel tragen", erinnert sich Nebahat Akkoc, Vorsitzende von Kamer. "Aber seit zwei Jahren wird das Leben für die Frauen wieder spürbar freier." Seither hätten sich allein in Diyabakir rund 100 Frauen mit eigenen Geschäften selbstständig gemacht.
Sicherlich begrüße die Mehrheit der türkischen Frauenrechtlerinnen einen EU-Beitritt, meint Pinar Ilkkaracan. Doch es sei wichtig zu betonen, dass "wir NIEMALS die EU als Argument für unsere Kampagne benutzt haben. Ganz im Gegenteil."
Man habe immer gesagt, die türkischen Frauen verlangten Selbstbestimmung und Menschenrechte. Die Sexualität und der Körper der Frau gehöre nicht dem Mann oder der Familie, sondern ausschließlich ihr selbst und sei ein Menschenrecht.
Lisa Renard
© Qantara.de 2004