Ein Künstler als lebende Zielscheibe
Einen Monat lang setzte sich der irakische Künstler Wafaa Bilal dem virtuell gesteuerten Beschuss durch ein Paintball-Gewehr aus. Über 60.000 Mal zielten Internetbesucher auf den Wehrlosen. Ariana Mirza sprach mit dem in den USA lebenden Künstler über seine Motive und das Resümee der provokanten Aktion.
Die Rauminstallation "Domestic Tension", aufgebaut in einer Chicagoer Galerie, glich schon nach wenigen Tagen einem Schlachtfeld. Wände und Plexiglasscheiben voll gelber Farbspritzer zeugten vom unentwegten Beschuss.
Hier, im selbst gewählten Hausarrest, verbrachte der irakische Künstler Wafaa Bilal seine Zeit als lebende Zielscheibe, angreifbar durch jeden zufälligen Besucher der Webseite. Im angeschlossenen Chatroom attackierten einige der virtuellen Schützen den Iraker auch verbal. "Es kam zu Äußerungen von erschreckender Brutalität. Das hatte ich nicht erwartet, und es hat mich sehr erschreckt."
Indes bezeugten einige der virtuellen Besucher dem Künstler auch ihre Solidarität. Eine kleine Gruppe von Hilfsbereiten bildete sogar eine Art Schutzschild, indem per Tastendruck der Schuss des Angreifers vom Ziel abgelenkt wurde. "Der Zugang war für alle gleichzeitig offen, so konnte auch auf die Aktion eines anderen Besuchers direkt reagiert werden", erklärt Bilal die technischen Möglichkeiten seiner Installation.
Reflexion des Irak-Konfliktes
Wie bezeichnet man eine solch drastische Aktion? Ist das interaktive Kunst? Oder schlicht Provokation? "Ich wollte die Grenze zwischen Leben und Kunst einreißen," sagt Wafaa Bilal. Seine extreme Performance habe in ihrem Wahnwitz nur den Irrsinn des Krieges im Irak gespiegelt.
Der Künstler, der seit 1992 im Exil in den USA lebt, verlor in diesem Krieg bereits seinen Vater und seinen Bruder. Letzterer starb 2005 in Nadschaf im Feuerhagel amerikanischer Soldaten. Erst durch seine jetzige Performance, so erklärt der Künstler, habe er das Gefühl der Ohnmacht überwinden können, das ihn angesichts der Todesnachrichten aus der Heimat befiehl.
In Wafaa Bilals "Domestic Tension" drückten zumeist amerikanische Besucher auf die lebende Zielscheibe ab. Iraker waren seltener zu Gast auf der Seite, und wenn, dann wollten sie ihrem Landsmann Mut zusprechen. "Einige reisten sogar zu mir nach Chicago. Sie kamen mit Lebensmitteln in die Galerie."
Diese spontane Anteilnahme und eine positive Berichterstattung lassen Wafaa Bilal – trotz teils erschreckender Erfahrungen – ein optimistisches Resümee ziehen. Er betont, dass sein Glaube in die Wirkungskraft der Kunst bestärkt worden sei. Und die anonyme Grausamkeit, die er erlebt habe, werde durch die wiederholten Gesten der Menschlichkeit und die Erfahrung einer "liebenden Gemeinschaft" bei weitem aufgewogen.
Furcht vor dem Hass anonymer Angreifer
Die Zahlen, die "FLATFILEgalleries" vor einigen Tagen in Chicago veröffentlichte, geben dem Iraker Recht. Denn von 80.000.000 Zugriffen auf die Seite endeten nur 60.000 mit einem Schuss.
Während der 30 Tage der Performance, sei er zu einer derart positiven Sichtweise jedoch kaum fähig gewesen, gibt Wafaa Bilal zu. Zumeist habe er seine Tage verängstigt verbracht, voll Furcht vor dem Hass der anonymen Angreifer. "Zwischendurch habe ich irgendwann sogar den Realitätssinn verloren."
In diesen Situationen fürchtete der Künstler tatsächlich um sein Leben. Dabei wusste er natürlich, dass ein Treffer durch das Paintballgeschoss kaum gefährlich ist. Das, so meint Bilal, sei der entscheidende Unterschied zur allgegenwärtigen tödlichen Bedrohung, der die Menschen im Irak ausgesetzt sind.
Auch auf einem anderen Gebiet verweist Bilals Kunstaktion auf die Realität. Für die meisten Menschen in den USA ist der Krieg im Mittleren Osten ein mediales Ereignis. Weder sie noch ihre Angehörigen kommen ihm leiblich nahe.
Kunstaktion als Mittel gegen den Krieg
Um diese tatsächliche Ferne auch in "Domestic Tension" spürbar zu machen, verzichtete der Künstler in seiner Installation auf Ton. So birgt seine Arbeit den Moment der Annäherung und veranschaulicht dennoch die Distanz zum Kriegsgeschehen.
Die Schützen, die auf Wafaa Bilal zielten, hörten weder den Schuss noch den Einschlag. Ein gespenstisches Szenario, das sich durch seine differenzierte Inszenierung deutlich von martialischen Computerspielen unterscheidet.
Wafaa Bilal möchte mit den Mitteln der Kunst dazu beitragen, dass sich die Menschlichkeit durchsetzt. Seine Arbeit sei eine flehende Bitte, den irrsinnigen Krieg im Irak zu beenden, heißt es in seinem Abschluss-Statement. Die Hoffnung auf Frieden, so meint er, sei nicht unbegründet: "Mittlerweile sind schon 60 Prozent der Amerikaner dafür, die Truppen abzuziehen."
Ariana Mirza
© Qantara.de 2007
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