Warum hinter „Weltliteratur“ oft ein westlicher Blick steckt

Buchmesse in Sharjah, UAE (picture alliance / Anadolu | Waleed Zein)
In der Türkei oder am Golf werden ebenso Bücher von Weltrang geschrieben wie im Westen – Buchmesse in den Emiraten, November 2023 (Foto: Picture Alliance / Anadolu | W. Zein)

Nur wenig internationale Literatur wird ins Deutsche übersetzt. Die großen Verlage sind nicht interessiert, kleine dringen kaum durch. Wer Bücher jenseits des Westens derart marginalisiert, demonstriert, dass er sie nicht ernst nimmt.

Essay von Gerrit Wustmann

Als im vergangenen Jahr im Oktober die Frankfurter Buchmesse ihre Tore für die internationale Literaturszene öffnete, gab es – wie jedes Jahr – ein umfangreiches Medienecho. So viel Aufmerksamkeit wie rund um die Messe gibt es im restlichen Jahr so gut wie nie für Bücher, zumal zahlreiche deutsche Leitmedien ihre Feuilletonbeiträge deutlich reduziert haben.

Aber immerhin ist die Messe alljährlich der Termin, zu dem Büchern, Autor:innen und Verlagen ausnahmsweise etwas mehr Platz als üblich eingeräumt wird. Ob der Spiegel oder auch TV-Sender und Onlinemagazine: Viele präsentieren vor der Messe alljährlich ihre Bestenlisten und Lesetipps. 

Allerdings haben so gut wie all diese Angebote eine Gemeinsamkeit: Kleine Verlage und nichtwestliche Literatur spielen dort, von wenigen Ausnahmen abgesehen, so gut wie keine Rolle. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen gibt es in den großen Medien kaum jemanden, der sich mit Literatur aus Asien, Afrika oder Lateinamerika auskennt, weshalb folglich auch die Literaturen der islamisch geprägten Länder kaum je in den Fokus geraten. 

Das einzige, was sich in den letzten Jahren ein wenig gebessert hat, ist der Blick auf die Werke von in Deutschland lebenden Autorinnen und Autoren mit entsprechendem Background, das aber vorwiegend deshalb, weil sie nun öfter in Publikumsverlagen publiziert und mit Preisen geehrt werden.

Nichtwestliche Literatur ist ein Zuschussgeschäft

Ebensowenig im Blick ist die Arbeit der Klein- und Kleinstverlage. Dabei sind sie es, die literarische Vielfalt überhaupt noch am Leben erhalten. Während unzählige große Publikumsverlage von Konzernen wie Penguin Random House oder Holtzbrink geschluckt wurden, bei denen Gewinnaussichten wichtiger sind als Qualität und verlegerisches Selbstverständnis, ist die nichtwestliche Literatur auch in anderen größeren Häusern allenfalls noch ein Randgeschäft. 

Wenn Autorinnen und Autoren medial bekannt, skandalträchtig oder schon sehr lange dabei sind, dann werden ihre Bücher weiterhin gemacht. In den Programmen muss man Übersetzungen aus dem Arabischen, Persischen, Türkischen allerdings mit der Lupe suchen.

Und die Kleinverlage, die täglich ihre Fühler in den islamisch geprägten Kulturraum ausstrecken, die gute Kontakte zu Verlagen in Teheran, Istanbul, Abu Dhabi, Kairo haben?

Sind längst auf Unterstützung wie den jährlich vergebenen Deutschen Verlagspreis sowie auf Übersetzungsförderungen (zum Beispiel von Litprom, der Sheikh Zayed Stiftung oder dem Deutschen Übersetzerfonds) angewiesen, um überhaupt weitermachen zu können. 

Auch wenn das kaum jemand gerne zugibt, aber nichtwestliche Literatur in deutscher Übersetzung ist (auch hier: von wenigen Ausnahmen abgesehen) ein Zuschussgeschäft, das sich kaum je von selbst trägt. 

Die mediale Aufmerksamkeit ist zu gering, ebenso das Interesse des Publikums an allem, was man als „fremd“ empfinden könnte, und im Buchhandel haben es kleine Verlage und weniger bekannte Autorinnen und Autoren ohnehin schwer, was auch, aber nicht nur, an der Marktmacht großer Ketten und Onlinehändler liegt, die auf schnellen Umsatz zielen, nicht auf kulturelle Nachhaltigkeit.

Arroganz und Hybris

Nun mag manch einer fragen: Warum ist das denn so schlimm? Ist es nicht normal, dass in Deutschland, in der EU, vor allem hiesige, also im weitesten Sinne westliche Literatur gelesen wird? Und ja, dass darauf der Schwerpunkt liegt, ist natürlich nachvollziehbar und verständlich.

Doch um das Ausmaß des Problems zu begreifen, werfe man einen genaueren Blick auf all jene Bestenlisten und Literaturpreise, die mit dem Begriff „Weltliteratur“ hausieren gehen. Wer den von Goethe erdachten Begriff ernst nimmt, dem müsste an Ausgewogenheit liegen, also daran, möglichst in ähnlicher Gewichtung Literatur der ganzen Welt aufzunehmen, anstatt die „Weltliteratur“ als geschmäcklerische Wertung einer Literatur von vermeintlichem Weltrang zu kategorisieren. 

Aber Weltliteratur-Listen bestehen in aller Regel überwiegend oder sogar ausschließlich aus Westliteratur. Gelegentlich gibt es mal eine, die auf plus-minus zehn Prozent nichtwestlicher Literatur kommt, also Bücher von Autorinnen und Autoren, die nicht aus Europa oder Nordamerika stammen. 

Das ist nicht nur ein Beleg für weltliterarische Unkenntnis, sondern es schwingt darin auch eine gehörige Portion Arroganz und Hybris mit: Wer die Literaturen jenseits des Westens derart marginalisiert, demonstriert nicht zuletzt, dass er sie nicht ernst nimmt, für weniger wichtig hält als westliche Werke. 

Faktisch ist das natürlich Unsinn. In Iran, Ägypten, der Türkei, in Saudi-Arabien wird ebenso Prosa und Lyrik von Weltrang geschrieben wie in Deutschland, den USA oder Frankreich. Wir kriegen davon bloß hierzulande wenig mit. Weil wenig übersetzt wird und die wenigen Übersetzungen meist übersehen werden. 

Aber um die Weltliteraturdiskrepanz nochmal zu verdeutlichen: Goethe findet sich auf solchen Listen meistens. Natürlich. Hafez hingegen nicht. Dabei zählt das dichterische Werk des persischen Klassikers zweifellos zu den zeitlosesten in der Literaturgeschichte.

Two men sit and talk at a table. A teapot and cups is laid out in front of them.
Der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan (r.) bei Bundespräsident Steinmeier im März 2019: Durch seine journalistische Arbeit für westliche Medien bekommt auch sein literarisches Werk die verdiente Aufmerksamkeit. (Foto: Picture Alliance/dpa | W. Kumm)

Nach neuen deutschen Übersetzungen aus dem Persischen musste man auf der Buchmesse im vergangenen Jahr, wieder mal, mit der Lupe suchen. Selten sind die Jahre, in denen es mal mehr als fünf Bücher sind. In manchen erscheint gar keines. 2024 lag, immerhin, mit „Die Rose von Nischapur“ ein neues Buch von Amir Hassan Cheheltan vor (in der Übersetzung von Jutta Himmelreich bei C.H. Beck). 

Cheheltan kennt man in Deutschland inzwischen. Vor allem in den Zeitungsredaktionen hat man ihn auch deshalb schon lange auf dem Schirm, weil er viel für westliche Medien über iranische Politik geschrieben hat. Zugleich ist er ein Musterbeispiel für die oben skizzierte Lage. 

Erstmals erschien 2009 ein Roman von ihm auf Deutsch, „Teheran, Revolutionsstraße“, und zwar im kleinen und inzwischen leider aus Altersgründen des Verlegers nicht mehr aktiven Verlag Peter Kirchheim in München. Kirchheim hat als Verleger stets den neugierigen „Blick in die Welt“ (Goethe) kultiviert, ein enorm starkes Buch gefunden und es publiziert. Als der Roman Aufmerksamkeit erhielt und sich gut verkaufte, schlug C.H. Beck zu, wo Cheheltan seither erscheint. Aber nicht nur.

Sein mit Abstand stärkster Roman „Iranische Dämmerung“ erschien 2015 wieder bei Kirchheim, wohl auch weil man den Text bei Beck für das deutsche Publikum zu schwierig fand. Und dabei soll das hier nicht als Fundametalkritik an C.H. Beck verstanden werden, denn dort wird oft genug noch ein gutes Programm gemacht. 

Nur ist es eben mitunter so, dass die Kleinverlage erst unter oft großem wirtschaftlichen Risiko interessante, lesenswerte Weltliteratur aufspüren – und wenn diese dann ausnahmsweise mal über alle Hürden hinweg den Sprung zu einem größeren Publikum schafft, schlagen große Verlage zu. Dass die Autor:innen da mitmachen kann man ihnen kaum verdenken. 

Zerrbilder werden reproduziert

Das liegt auch am Umgang mit den Werken, wenn sie denn mal produziert werden. Einige Publikumsverlage, allen voran diejenigen in der Penguin Random House-Gruppe, neigen dazu, die Gestaltung in Klischees zu versenken. Büchern aus islamisch geprägten Ländern wird fast durchweg entweder eine verschleierte Frau oder eine Moschee aufs Cover geklatscht, und das sogar dann, wenn im Buch selbst gar keine Moscheen vorkommen, wie im Fall von Hakan Gündays exzellentem Roman „Verlust“

Das Problem ist nicht nur, dass damit Zerrbilder über bestimmte Länder reproduziert werden und der Verlag demonstriert, wie wenig er selbst diese Literatur ernstnimmt. Nein, es sorgt auch dafür, dass die Bücher sich deutlich schlechter verkaufen, als es möglich wäre. Denn während das kleine ohnehin interessierte Publikum von diesen Covern dauergenervt ist, greifen andere erst gar nicht zu, weil sie keine Bücher über den Islam lesen wollen. Dass es in den Werken meist um ganz andere Dinge geht, erfahren sie dadurch nie. 

Und wenn dilettantisches Marketing von Großverlagen und die Unsichtbarkeit von Kleinverlagen auf Ignoranz in Medien und Handel sowie auf Zurückhaltung beim Publikum treffen, dann ist das Reden von der Weltliteratur weiterhin nichts als ein frommer Wunsch. „Wer Bücher liest, blickt in die Welt, und nicht nur bis zum Zaune“, sagte Goethe so treffend und formulierte damit aus, was der Begriff „Weltliteratur“ eigentlich meint. Gerade in Zeiten multimedialer Polarisierung und grober Vereinfachung ist das umso wichtiger. 

Man kann Länder und Kulturen kennenlernen, indem man sie bereist und mit Menschen vor Ort oder Menschen, die von dort stammen, in Austausch tritt. Aber das stößt rasch an Grenzen. Wer kann schon all die Länder der Welt je wirklich ausführlich bereisen? 

So viel Zeit bietet ein Leben nicht. Aber lesen kann man, sich die Welt erlesen. Jeder Roman, jedes Gedicht bietet einen Blick hinter die Kulissen, bietet historisch-kulturelle Einblicke, die man bei reinem Nachrichtenmedienkonsum nicht erhält. Literatur hilft, einen differenzierten Blick zu schärfen und dabei auch sich selbst, das eigene Wissen und Nichtwissen zu reflektieren. Aber das geht nur, wenn entsprechend Bücher in Übersetzung vorliegen und man sie auch wahrnehmen kann.

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