Ausbruch aus der sozialen Isolation

In Afghanistan leiden als Folge des Krieges viele Menschen an Traumata. Psychotherapeutische Beratung und Hilfe gibt es bisher kaum – mit Ausnahme eines deutschen Therapiemodells.

Von Martin Gerner

​​Bis vor kurzem entfielen in Afghanistan durchschnittlich 28 Psychologen und Psychiater auf rund 30 Millionen Menschen. Auch wird medikamentöse Behandlung als Lösung noch immer groß geschrieben. Erst langsam kommen auch Modelle der psychologischen Beratung zum Tragen, allerdings ohne dass die internationalen Hilfsorganisationen hier generell umsteuern.

Ein Beispiel hierfür ist Karte Seh – ein Wohnviertel im Südwesten von Kabul, das nach wie vor von zerstörten Häusern und Fassaden geprägt ist. Zur Zeit des Bürgerkrieges, von 1992 bis 1996, schlugen hier phasenweise bis zu 1000 Geschosse täglich ein. Viele Menschen sind bis heute traumatisiert.

An einer der Hauptstraßen in Karte Seh liegen, in rund 600 Meter Entfernung, zwei Einrichtungen die – jede auf ihre Art – versuchen, Opfern zu helfen.

Triste Realität in der "Mental Health Clinic"

Das eine Gebäude beherbergt die "Mental Health Clinic" von Kabul, Afghanistans einzige staatliche psychiatrische Aufnahmestelle. In einem der Gebäudeflügel sind rund 30 Patienten untergebracht, die an Depressionen oder Schizophrenie leiden. Im anderen Flügel befinden sich in zwei Zimmern Drogenabhängige, die auf Entzug sind. Auf den Fluren ist es schmutzig und dunkel, ein Winkel dient als Kochstelle, die Zimmer riechen muffig.

"Wir heilen hier in zehn Tagen die Drogenabhängigen", sagt Dr. Korechi, der Leiter der Klinik. "Die Fälle von Depression und Schizophrenie werden, nach einer Aufnahmeuntersuchung, mit Injektionen oder medikamentös behandelt."

Der Glaube an die Heilkraft von Medikamenten in Afghanistan ist groß. Bis zu 30 verschiedene Tabletten am Tag nehmen die Patienten ein. Auf dem Basar preisen Händler ohne Fachwissen allerlei Pillen an. Oft muss man viel Geduld und Ausdauer haben, um die Menschen davon zu überzeugen, es auch einmal ohne zu probieren.

Heilung über die Psyche, nicht über Medikamente

Genau das versucht das Projekt "Window for Life" (Fenster zum Leben), am anderen Ende der Hauptstraße. "In unserer Einrichtung versuchen wir den Körper über die Psyche zu heilen, nicht über Medikamente, wie das in Afghanistan verbreitet ist", erklärt Farhad Habib den Unterschied zur benachbarten Klinik. Habib ist einer der "counsellors". So nennen sich die psychosozialen Berater, die hier tätig sind.

​​Das Haus in Karte Seh ist eines von insgesamt zwölf Beratungszentren in Kabul. Die Beratung ist kostenfrei. Träger ist Caritas International mit Sitz in Freiburg, das Geld kommt vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Insgesamt arbeiten in den zwölf Zentren 32 Afghanen, Männer wie Frauen. Unter ihnen sind viele Ärzte, Apotheker, Krankenschwestern und Lehrer, die hier ihre Fachausbildung bekommen haben. Geschlechtergleichheit wird groß geschrieben.

Jeden Monat geben die "counsellors" mehr als 1800 Beratungsstunden. "Ziel ist es, dass die Menschen, die zu uns in die Zentren kommen, aus ihrer sozialen Isolation herauskommen", beschreibt Inge Missmahl den Einstieg in die Beratung.

Hilfe im Einklang mit dem Wertesystem

Die Psychologin aus Süddeutschland hatte vor zwei Jahren die Idee zu diesen Beratungszentren und leitet jetzt ihren Aufbau. Zuvor hatte sie unter anderem bei der Organisation "Medica Mondiale" in Afghanistan Erfahrung in Trauma-Arbeit gesammelt.

"Vielfach sind den Patienten durch die ökonomische und die gesellschaftliche Situation Grenzen gesetzt ", beschreibt sie den Handlungsspielraum. "Helfen können und wollen wir nur entsprechend ihrem eigenen Wertesystem.

"Es geht darum, den Menschen zu helfen, ohne sie in eine Außenseiterposition zu bringen. Wenn jemand zum Beispiel unter den Bedingungen einer Zwangsheirat leidet, da kann man nicht sagen 'Lauf weg!' oder 'Lass dich scheiden!'. Wo soll die Frau, wo sollen die Kinder hin? Das geht nicht. Da muss man schauen, wie man eine Beziehung so gestalten kann, dass sie lebbar wird", erklärt Inge Missmahl.

Damit kann gemeint sein, dass Mann und Frau gemeinsam überlegen, was jeder dazu beitragen kann, damit sich der Konflikt entspannt.

Über zwei Jahrzehnte Krieg und die Verknüpfung von Tradition, Gewalt und Religion haben den Raum für individuelle Bedürfnisse fast vollkommen verstellt. Häusliche Gewalt ist vielfach kulturell legitimiert und akzeptiert.

Beispiel: eine Therapie-Gruppe, in der neun von zehn Frauen erklären, jede Woche geschlagen worden zu sein, auch mit harten Gegenständen wie Stöcken oder Kalaschnikows auf den Kopf. In einigen Familien seien Kinder sogar zu Tode geprügelt worden.

Krieg als Ursache psychischer Krankheiten

"60 bis 70 Prozent der psychosozialen Fälle, mit denen wir konfrontiert sind, haben ihre Ursache im Krieg, 20 bis 30 Prozent in der Zeit nach den Taliban", schätzt Abdul Fatlah, einer der Berater.

Der Einfall der Moderne nach Kabul, die rasch wachsende Unübersichtlichkeit und die Präsenz von Ausländern mit ihren kulturellen Maßstäben haben das Wertegfüge vieler Afghanen kräftig durcheinander geschüttelt. Gerade Männer flüchten sich in die Familie als eine letzte Bastion, um wenigstens dort noch Kontrolle ausüben zu können.

"Doch nicht immer sind Männer Ursache von Familienkonflikten", relativiert Beraterin Mariam Zurmaty diesen Umstand. "Manchmal sind es die Mütter. Oft ist das Mutter-Tochter-Verhältnis das Schlechteste in der Familie und von Misstrauen geprägt. Es gibt viele Tabus: über den Partnerwunsch der Tochter wird höchstens in fünf Prozent der Kabuler Familien gesprochen. Und wenn eine Frau Menstruationsprobleme thematisiert, kann das ein Gefühl von Scham in der ganzen Familie auslösen."

Rückgang häuslicher Gewalt

Gut zwei Jahre nach dem Start zeigt das "Window for Life"-Programm positive Ergebnisse. Demnach ist die häusliche Gewalt in den Familien der Patienten rückläufig. Für die Berater war die Ausbildung eine wichtige Selbsterfahrung. "Ich habe früher immer meine Kinder geschlagen. Jetzt gehe ich raus und mache eine Runde um den Block, wenn ich Wut verspüre, aber ich schlage nicht mehr meine Kinder", berichtet die Beraterin Sunita Kohestani.

"Das Problem ist", sagt Inge Missmahl, "dass man den Geldgebern den Erfolg des Projekts nicht so leicht sichtbar machen kann wie etwa beim Bau einer neuen Straße. Die Straße kann man anfassen. Was wir vermitteln, tragen die Menschen in sich, vermutlich sogar auf lange Zeit."

Ihr Fazit ist dennoch ernüchternd: "Etwa 80 Prozent aller Probleme im Land haben psycho-soziale Ursachen, aber nicht mal 0,1 Prozent der Gelder werden darauf verwendet."

Martin Gerner

© Qantara.de 2007

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Das Projekt "Window for Life" als pdf-File (1,2 MB)