Fata Morgana in der Wüste?

Seit 2003 wurden in der Sahara immer wieder Europäer entführt. Offiziell macht man dafür die islamistische Gruppe Al-Qaida im Islamischen Maghreb verantwortlich. Alfred Hackensberger sprach mit dem Anthropologen Jeremy Keenan, der bei Entführungsfällen als Spezialist und Vermittler konsultiert wurde.

Entführte italienische Geiseln in Mauretanien; Foto: dpa
"Da ging es um viel Geld, weniger um ideologische oder politische Konflikte": Laut Jeremy Keenan half der algerische Geheimdienst DRS beim Aufbau islamistischer Terrororganisationen im Mahrgeb.

​​ Ende Juli versuchten französische Kommandos in der Sahara den Entführten Michel Germaneau zu befreien. Die Aktion schlug fehl. Was war passiert?

Jeremy Keenan: Die Franzosen konnten diese Aktion auf fremdem Territorium sicherlich nicht allein durchführen und mussten mit Algerien und seinem Geheimdienst kooperieren.

Wollen Sie damit sagen, aufgrund der Zusammenarbeit mit dem algerischen Geheimdienst DRS wurden weder Terroristenlager, noch Geisel gefunden?

Keenan: Das ist nahe liegend.

Weil der algerische Geheimdienst "Al-Qaida im Islamischen Maghreb" (AQIM) erfunden und die Entführungen inszeniert hat, wie man nach der Lektüre Ihrer Bücher und Artikeln glauben muss?

Keenan: Man kann nicht behaupten, dass dahinter totale Kreation und Inszenierung steckt. Die Wahrheit ist wesentlich komplexer.

Wie meinen Sie das?

Keenan: Die Ursprünge der Beziehung von DRS und militanten Islamisten liegen in den 1990er Jahren, als noch die Groupe Islamique Armé (GIA) den algerischen Staat bekämpfte. Ab 1994 konnte der algerische Geheimdienst deren Führung unterwandern. Damals waren sowohl das Militär, der Sicherheitsdienst, als auch die Islamisten in der "Schwarzen Ökonomie" tätig.

Schmuggel von Lebensmitteln, Waffen und Drogen?

Amari Saifi alias Abderrezak El Para; Foto: AP
Terroristisches Crossover: Amari Saifi alias Abderrezak El Para, der 2003 die erste Entführung von Europäern in Algerien leitete, ist laut Keenan ein Agent des algerischen Geheimdienstes.

​​ Keenan: Ja, das war eine düstere Geschichte. Da ging es um viel Geld, weniger um ideologische oder politische Konflikte. Man kannte sich und tat sich gegenseitig kleinere und größere Gefallen. So kamen die Kontakte zwischen den eigentlich verfeindeten Parteien zustande. Ein Crossover würde man heute sagen. In dieser Zeit taucht auch "El Para" auf.

Amari Saifi alias Abderrezak El Para, der 2003 die erste Entführung von Europäern leitete und von dem Sie sagen, er war ein Agent des algerischen DRS.

Keenan: Er war damals auch als Schmuggler tätig und seine Beziehung zum DRS könnte aus dieser Zeit stammen. Man sollte festhalten, dass er keiner dieser Gegenagenten ist, die nach James Bond Manier verpflichtet werden. Das funktioniert nicht nach einem Schwarz-Weiß-Muster. Da gibt es viele Grauzonen, komplexe Beziehungsstrukturen, in denen erst gemeinsame Interessen kurzfristig oder auch für längere Zeit entstehen.

Ganz naiv gefragt, wie kreiert jemand, der ein Agent des DRS ist, eine "Terrorgruppe", mit der man Touristen entführt?

Keenan: Die Gruppe um El Para umfasste etwa 60 Mitglieder. Diese Männer hatten sehr simple salafistische Vorstellungen, waren jedoch zum Großteil authentische Islamisten. Nur El Para selbst und seine Unterkommandeure, etwa Abdel Hamid Abu Zaid, arbeiteten mit dem DRS zusammen.

Abu Zaid ist einer derjenigen, der für die Kidnappings der letzten Jahre verantwortlich ist.

Keenan: Ja, Abu Zaid, aber auch Yahia Djouadi.

Da gab es also echte islamistische Militante und einen oder mehrere Agenten des DRS, denen man sagte, organisiert doch eine Terrorgruppe. Das kann für uns hilfreich sein.

Michel Germaneau; Foto: AP
Tragisches Ende einer Entführung: Bei der Ende Juli versuchten Befreiung des von der AQIM entführten Franzosen Michel Germaneau kam dieser ums Leben.

​​ Keenan: Das ist zu vereinfachend. Eine Infiltration ist ein Prozess, der oft Jahre dauern kann. Wir wissen nur, dass die Führungsspitze der Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat (GPSC), eine Nachfolgeorganisation der GIA, im Norden Algeriens unterwandert wurde. Genaue und umfassende Details über das wann, wo und wie sind nicht bekannt.

Ist etwas mehr über die Entführer bekannt, die zuletzt eine Gruppe Spanier und mehrere Franzosen kidnappten?

Keenan: Der Typ in der Gruppenhierarchie ganz oben und ein, zwei seiner Unterchefs stehen in irgendeiner Weise in Beziehung zum DRS. Man weiß nur nicht, in welcher Art: Werden sie erpresst, bezahlt, sind sie echte Agenten, einfache Komplizen, Freiberufler, arbeiten sie ständig oder nur punktuell mit dem DRS zusammen.

Aber El Para war ein echter Agent, der seine Befehle direkt vom algerischen Geheimdienst bekam?

Keenan: Ja, ja. Es gibt keinen Zweifel, dass er ein Agent des DRS war. Natürlich existieren keine konkreten Beweise dafür, er hatte ja keinen Agentenausweis bei sich. Aber alle Ereignisse um seine Gruppe wären ohne die Unterstützung des DRS nicht möglich gewesen. Alles war manipuliert, die "Terroristen" instrumentalisiert.

Können Sie Beispiele nennen?

Keenan: Als El Para 2003 die 32 Europäer entführt hatte, kreisten Hubschrauber der algerischen Armee über dem Terroristenlager, obwohl es immer wieder verlegt wurde.

Woher wissen Sie das?

Keenan: Die Geiseln haben davon berichtet. Auch die Kommandoaktion, bei der 17 der Entführten frei kamen, war inszeniert. Obwohl es Tote und Verwundete gegeben haben soll, hatten die Geiseln nichts davon beobachtet. Vielmehr sei es ihnen vorgekommen, als seien sie zu einem Treffpunkt gebracht worden. Keine Spur von einer Überraschungsaktion des algerischen Militärs.

Spanische Al-Qaida-Geiseln Roque Pascual Salazar (unten rechts) and Albert Vilalta (unten links); Foto: dpa
Lohnender Terrorismus: "Die Bedrohung durch Al-Qaida in der Sahara machte Algerien zum Partner der US-Regierung unter Präsident George W. Bush im Kampf gegen den Terror", sagt Jeremy Keenan.

​​ Ist El Para nicht verhaftet und verurteilt worden?

Keenan: Ja, er wurde nach der Lösegeldzahlung Monate später angeblich auf der Flucht von tschadischen Rebellen der Bewegung für Demokratie und Gerechtigkeit (MDJT) aufgegriffen, an libysche Behörden überstellt und von denen wiederum an Algerien geliefert. Im Juni 2005 verurteilt ein Gericht in Algier El Para zu lebenslanger Haft. Allerdings "in absentia", obwohl er seit acht Monaten in Haft sitzen müsste. Im Mai 2007 gab es noch einmal eine Verhandlung, aber die fand erneut ohne den Angeklagten statt. Dabei wurde das Urteil von 2005 aus fadenscheinigen Gründen aufgehoben und das Verfahren vertagt.

Seitdem ist El Para spurlos verschwunden?

Keenan: Nicht ganz. Der Name taucht 2008 bei der nächsten Entführung auf. Die Kidnapper von zwei Österreichern fordern die Freilassung von El Para.

Der sich offensichtlich gar nicht in Haft befand. Was steckte tatsächlich hinter dieser Forderung?

Keenan: Kurz vor dieser zweiten Entführung hatte die Schweiz Akteneinsicht in den Fall der Geiselnahme von 2003 beantragt, da unter den Gefangenen zwei Schweizer gewesen waren. Man beabsichtigte El Para auch zu vernehmen. Ein Wunsch, dem die Algerier nicht nachkommen konnten.

In der Not zog man die Entführerkarte?

Keenan: Ja, da hat jemand wohl Abu Zaid angerufen und ihm gesagt, er soll sich einige Touristen greifen. Was er dann ganz offensichtlich im Süden von Tunesien getan hat.

Und Algerien konnte damit sein diplomatisches Problem lösen?

Keenan: Die Schweizer mussten einsehen, dass El Para in dieser Krisensituation, in der das Leben der beiden gefangenen Europäer von ihm abhing, nicht ausgeliefert werden konnte. Erst einmal musste das Ende der Entführung abgewartet werden. Aber die dauerte noch Monate und damit verstrich die fünfjährige Frist, innerhalb der die Schweiz ihr Auslieferungsverfahren beantragen konnte.

Welchen Nutzen gab es für die algerische Regierung bei der Entführung 2003 unter der Leitung von El Para und all den anderen Kidnappings?

​​ Keenan: Sehen Sie, nach dem blutigen Bürgerkrieg in Algerien, bei dem 200.000 Menschen umkamen, hatte das Land keine internationale Reputation mehr, war ein Paria-Staat und die Armee verfügte nur noch über veraltete Waffen. Die Bedrohung durch Al-Qaida in der Sahara machte Algerien zum Partner der US-Regierung unter Präsident George W. Bush im Kampf gegen den Terror. Das Weiße Haus hebt das Waffenembargo auf, liefert modernes Equipment und Algerien avanciert über die Jahre zum angesehenen Terrorbekämpfer Nummer eins in der Region.

Und die USA?

Keenan: Die benutzten die Entführung der 32 Touristen von El Para als Rechtfertigung für neue Militärbasen in der Sahara.

Die USA wussten, dass El Para ein Agent des algerischen Geheimdienstes war?

Keenan: Sehen Sie, im August, September 2002 präsentiert das Defense Science Board der US-Regierung dem damaligen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ein neues Programm, um Terrorismus zu bekämpfen. Terrorgruppen sollen unterwandert, zu Aktionen provoziert werden.

Sie meinen die Initiative Präventive Operation, kurz P20G.

Keenan: Ja, und das erste Pilotprojekt dieses neuen Programms ist El Para.

Ein Pilotprojekt, das nur mithilfe von Algerien durchgeführt werden konnte.

Keenan: Beide Seiten hatten ein Interesse, Terrorismus zu fabrizieren.

Und heute?

Keenan: Einige der neuen Entführungen sind Unfälle, wie die von Michel Germaneau. Er wurde von zwei Gangstern gefangen und dann an Al-Qaida weiterverkauft. Das Ganze hat sich verselbstständigt und ist nicht immer unter der Kontrolle des algerischen DRS.

Interview: Alfred Hackensberger

© Qantara.de 2010

Jeremy Keenan ist Professor für Anthropologie an der School of Oriental and African Studies der Universität London. Zuletzt erschien von ihm "The Dark Sahara. America's War on Terror in Africa" (Pluto Press 2009).

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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