Belastete Nachbarschaft

Es ist Sonntagmorgen und kalt in der alten Kirche, als Fadi al-Barkil sich von den Gläubigen abwendet, zum Altar geht und die Arme hebt. Mit tiefer Stimme stimmt der Priester zum Gebet an. Dabei schimmert sein goldbestickter Umhang im Morgenlicht, das durch ein Fenster in die Apsis fällt.
Nach einigen Versen dreht sich Barkil den Holzbänken zu, wo ein paar Dutzend Männer, Frauen und Kinder in ihren Winterjacken sitzen. Es ist eine Gemeinde, die bis in die Frühzeit des Christentums zurückreicht. In der kleinen Steinkirche am Rande des Klosters der Heiligen Sergius und Bacchus wird seit dem 4. Jahrhundert gebetet – ursprünglich auf Aramäisch, der Sprache Christi, mittlerweile auf Arabisch.
Auch hier hat der Bürgerkrieg Narben hinterlassen: Die antiken Ikonen, die früher den Altar zierten, sind verschwunden, alte Gemälde durch billige Imitate ersetzt.

Das Kloster liegt am Rande einer Schlucht, die eine Bresche durch die Qalamun-Gebirgskette schlägt. Das Gotteshaus thront über dem Städtchen Maalula, das sich malerisch am Berghang hochzieht. Nur eine Autostunde von der Hauptstadt Damaskus entfernt, lebt eine der ältesten christlichen Gemeinden Syriens. Im Alltag wird teilweise noch Aramäisch gesprochen.
Im Krieg zog sich der Frontverlauf zwischen Rebellen und den Truppen Assads entlang der Gebirgskette, Maalula lag ungeschützt im Niemandsland. Das nutzte 2013 die dschihadistische Nusra-Front, als sie über den Ort herfiel, die Kirchen plünderte, mehrere Einwohner:innen erschoss und zwölf Nonnen verschleppte. Erst nach einigen Monaten konnte das Regime die Rebellen zurückdrängen, die Nonnen kamen in einem Gefangenenaustausch frei.
Die Rebellen stellen heute die Regierung
Das Trauma hat sich tief in die kollektive Erinnerung der lokalen Bevölkerung eingegraben. Die Angst keimte wieder auf, als die Rebellen unter Führung der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) im Dezember 2024 das Assad-Regime vertrieben und eine Übergangsregierung ausriefen. Die Miliz hat sich aus der Nusra-Front entwickelt und wird von den USA weiterhin als Terrorgruppe eingestuft.
In einer Gesprächsrunde, die sich nach der Predigt im Gemeinschaftsraum des Klosters zusammengefunden hat, wird eifrig debattiert, ob das Christentum im neuen Syrien eine Zukunft hat. Eine Frau zieht ihr Handy aus der Tasche und zitiert die sozialen Medien: In Homs sollen Kirchenmitglieder verhaftet worden sein, weil sie die Glocke geläutet hatten.
Barkil beschwichtigt: „Wir werden einen Weg finden, zusammen in Frieden zu leben“, beruhigt er die Frau. Der Priester fühlt sich verantwortlich für seine Gemeinde und die etwa 250 christlichen Familien in Maalula. Er will verhindern, dass sie aus Syrien flüchten, wie schon so viele Christ:innen seit Ausbruch des Bürgerkriegs.
Vor 2011 lebten rund 1,5 Millionen von ihnen in Syrien, laut einem Bericht der christlichen NGO „Aid to the Church in Need“ sind davon nur ein Fünftel im Land geblieben. Zu groß war die Angst vor den dschihadistischen Gruppen in den Reihen der Rebellen. Die geschrumpfte Glaubensgemeinde blickt nun nervös auf die neuen Machthaber.
„Wir wollen bleiben, das hier ist unser Land. Aber wir haben Angst, dass wir eines Tages gezwungen sind, Syrien zu verlassen“, sagt Tamar Serkis, eine Kindergärtnerin, die mit ihrem Mann und drei Kindern in Maalula lebt.
Das neue Regime sendet positive Signale
Barkil glaubt nicht, dass sich ihre Sorgen bewahrheiten werden. „Die Menschen in Maalula fürchten, dass Hayat Tahir al-Sham nur die Nusra-Front mit neuem Namen ist. Das stimmt aber nicht“, sagt er im Gespräch mit Qantara.
Vielmehr versuche die neue Regierung, die Christ:innen zu schützen und ihnen die Angst zu nehmen, meint der Priester. So wurde die gefürchtete Suleiman-Shah-Brigade aus Maalula abgezogen, die nach dem Vormarsch der Rebellen auf Damaskus in der Stadt stationiert war. Die radikale Miliz mit engem Draht in die Türkei wird beschuldigt, im Norden Syriens schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben.
Stattdessen sind nun Männer aus dem Umland an den Checkpoints vor der Stadt zu finden. Doch was wohl als vertrauensbildende Maßnahme gedacht war, entpuppte sich schnell als Fehlgriff, sagen die Anwohner:innen.

"Assad schützt nur sich selbst"
Syriens Diktator Baschar al-Assad präsentiert sich als Beschützer der religiösen Minderheiten im Land, insbesondere der Christen. Doch immer mehr syrische Christen im Exil wehren sich gegen diese politische Vereinnahmung. Martina Sabra berichtet
Das mehrheitlich christliche Maalula ist von muslimischen Dörfern umgeben. Seit 2013 ist das Verhältnis zwischen Stadt und Land angespannt; die Bewohner:innen Maalulas hegen den Verdacht, dass einige aus der muslimischen Nachbarschaft die Nusra-Front unterstützen.
Die mutmaßlichen Helfer:innen wurden vom Assad-Regime aus der Gegend verbannt, kehrten aber nach seinem Sturz zurück. Genau diese Männer sind es nun, die als Sicherheitskräfte von der neuen Regierung eingesetzt werden, behauptet die christliche Gemeinde in Maalula.
„Die gleichen Leute, die damals den Terroristen halfen, haben sich zur Polizei gemacht. Wir können ihnen nicht trauen, sie haben damals die Kirchen leergeräumt“, schimpft Serkis.
Das Misstrauen sitz tief
Mitten in Maalula liegt die Sankt-Georgs-Kirche. Das Gotteshaus ist größer als die Kirche auf dem Berg, mehrere hunderte Gläubige finden hier auf den Bänken Platz. Auch hier ist die Inneneinrichtung karg, nur am Eingang stehen noch ein paar Holztafeln, die darauf gemalten Gesichter wurden von plündernden Dschihadisten zerkratzt. Im Hof steht ein Sockel, auf dem der berittene Sankt Georg eine Lanze in den am Boden liegenden Drachen stößt.
Daneben sitzt Priester Jalal Ghazal auf einem Stuhl und erzählt von den Tagen nach dem Sturz Assads, als Muslime in der Stadt mit Sturmgewehren in die Luft schossen, um das Ende des Diktators zu feiern.
Der 59-Jährige spricht langsam und überlegt: „Die christlichen Bewohner bekamen Angst, viele Familien flohen nach Damaskus, aber schon nach einer Woche waren die meisten wieder hier“, sagt er. Doch nachdem auch muslimische Bewohner:innen aus ihrer Verbannung wieder in die Gegend zurückgekehrt waren, kam es schon bald zu Konflikten zwischen christlichen und muslimischen Familien, so Ghazal.

Einer der Zurückgekehrten, Abdelsalam Diab, versuchte die Ernte des Christen Ghassam Zekhem zu stehlen. Dieser erschoss ihn daraufhin. Der Vorfall drohte eine Familienfehde auszulösen, die leicht zum blutigen Konflikt zwischen der christlichen und der muslimischen Gemeinde hätte eskalieren können.
Das erkannte auch die Regierung in Damaskus und schickte einen Gesandten nach Maalula, um zwischen den beiden Familien zu vermitteln. Die Anstrengung verlief jedoch nicht wie erhofft: „Bei der Versammlung stand ein Bruder auf und schrie, dass er die Christen töten werde, die für den Tod von Abdelsalam verantwortlich sind“, sagt Ghazal. Der Wutausbruch besorgt den Priester, der die Machtverhältnisse in der Gegend kennt. „Die Diab-Familie sitzt jetzt an den Checkpoints“, sagt er.
Gibt es dennoch Grund zur Hoffnung?
Barkil bestätigt die Schilderungen seines Kollegen. Genau wie die neue Regierung ist er um Dialog und Ausgleich bemüht. Der Priester überzeugte Zekhem, sich nach der Tat den Behörden zu stellen. Er war es auch, der nach dem Sturz Assads Gespräche zwischen Christ:innen und Muslim:innen in der Gegend einleitete. Er bleibt überzeugt, dass ein friedliches Miteinander möglich ist.
Es gibt Expert:innen, die seinen Optimismus teilen. HTS pflegte schon lange gute Kontakte zur christlichen Minderheit, die in den Rebellengebieten ohne Diskriminierung leben konnte, schreibt Gregory Waters vom Atlantic Council, einem amerikanischen Thinktank. Auch die Offensive, die Assad zu Fall brachte, war mit intensiven Bemühungen verbunden, christliche Würdenträger auf ihre Seite zu bringen.

„Ich bin der einzige Überlebende meiner Familie“
Überlebende der Anfang März in syrischen Küstenstädten entfesselten Gewalt erzählen Qantara ihre Geschichte. Warnung: Die Berichte enthalten Details über die wahllosen Tötung von alawitischen Zivilist:innen und können verstörend sein.
Der Hass der Rebellen gilt weitgehend den Alawit:innen, einer muslimischen Minderheit, der auch der Assad-Clan angehörte. Da Alawiten die wichtigsten Posten im alten Regime besetzten und einen großen Teil der berüchtigten Sicherheitsdienste stellten, befürchtet die Bevölkerungsgruppe den Ausschluss von der politischen Teilhabe.
„Für die anderen Minderheiten gibt es positive Indikatoren, dass sie Teil des Post-Assad-Syriens sein werden“, schreibt Waters. Einer dieser Indikatoren ist das Ende März ernannte Kabinett. Der Übergangspräsident und HTS-Führer Ahmed al-Schaara berief Minister:innen aus vielen der Minderheitengruppen Syriens, darunter eine Christin und ein Alawit.
In Maalula herrscht dennoch Ungeduld, es geht um politische Teilhabe: „Wir können uns nicht sicher fühlen, bis es ein Parlament gibt, das das ganze syrische Volk in seiner Vielfalt vertritt“, fordert Serkis.
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