''Danke, dass ich den Krieg noch einmal hören darf!''
Der Libanese Mazen Kerbaj gilt als Pionier der frei improvisierten Musik in Beirut. Vor kurzem hat er ein neues Weblog eröffnet – mazenkerblog.blogspot.com. "Danke, dass ich den Krieg noch einmal hören darf", bemerkt er darin zynisch. Kerbaj wurde 1975 geboren, zur Zeit des libanesischen Bürgerkrieges. Er sei nostalgisch nach jener Zeit, sagt er mir in einem Gespräch: "Jeder sehnt sich zurück nach seiner Kindheit, und meine Kindheit spielte sich nun mal im Krieg ab. Ich kannte nichts anderes."
Bekannt ist Kerbaj zudem für seine Comics und Karikaturen - auf seinem Blog liefert er jetzt Kostproben seiner Kunst im Stundentakt. Eben spielte er noch mit seiner Trompete in Europa. In diesen Tagen hätte er eigentlich in die USA fliegen sollen, was nach dem Bombardement des Flughafens wohl nicht klappen wird.
Trompetensounds wie Salven eines Maschinengewehrs
Kerbaj's Soloauftritte mit der Trompete haben mich immer wieder beeindruckt. Kerbaj nutzt alle möglichen Spieltechniken: Er spielt mit und ohne Mundstück, manchmal bläst er durch einen langen Schlauch, den er sich um den Bauch schlingt, oft nimmt er dabei seine Trompete senkrecht zwischen die Beine, legt Blechdosen auf den Trichter und variiert zwischen Blas-, Saug- und perkussiven Geräuschen. Auf seiner Solo CD "brt vrt zrt krt t" hören wir seine Trompete zischen, grunzen, gurgeln, in höchsten und tiefsten Lagen,oft mehrstimmig, rhythmisch immer präzis.
Der Trompetensound im Stück "Tagadagadaga" erinnert an die Salven eines Maschinengewehres. In "Taga of Daga" rattern die Rotoren eines Hubschraubers, scheint es. Es war der befreundete österreichische Trompeter Franz Hautzinger, der Kerbaj auf die Ähnlichkeiten zwischen seinen Sounds und Kriegsmaschinen aufmerksam gemacht hatte. Seither grübelt Kerbaj darüber nach, wie denn die Kriegssounds aus seiner Kindheit mit seiner heutigen Musik zusammenhängen.
Früher habe er gegen die libanesische High Society, gegen Konservatorium und klassische Trompetenschule, rebellieren wollen. Jetzt merke er, dass es nicht nur dieses Abgrenzen war, dass ihn zu John Coltrane, Evan Parker, zu Peter Brötzmanns Album "Machine Gun – Automatic Gun for Fast and Continuous Firing" und zu anderen Musikern des Free Jazz und der frei improvisierten Musik hingezogen hatte. "Wahrscheinlich imitiere ich auf meiner Trompete die Geräusche aus meiner Kindheit. Ich habe zudem eine spezielle Beziehung zu Stille. Stille ist zwar ein Synonym für Frieden, aber Stille war immer auch bedrohlich: Ein Warten auf den nächsten Bombenhagel."
Die Wunden des Krieges heilen
Allgegenwärtig ist der Krieg auch in Rana Eid's Musik. Vor zwei Jahren hat sie auf ihrer CD eine Art Monolog mit Geräuschen aus Beirut zusammengestellt. Als ich mit ihr spreche klingt sie aufgelöst, beinahe hysterisch. Eid vertont fast alle wichtigen libanesischen Filme. Als der Himmel während der israelischen Invasion 1982 vibrierte und Bomben auf Westbeirut fielen, da hat sich Eid als Kind einen Walkman über die Ohren gestülpt und Musik gehört: Die majestätischen Ornamentierungen der ägyptischen Diva Umm Kulthum, die besänftigenden Lieder der Libanesin Fairuz, und die politisierten Musiktheater ihres Sohnes Ziad Rahbani.
Eids Vater war Kommunist. Große, bärtige, ungepflegte Männer hätten früher in der Wohnstube gesessen und mit lauten Stimmen heftig diskutiert, erinnert sie sich. Zuerst hätte sie Angst gehabt, dann sei sie mehr und mehr in die Welt ihres Vaters eingetaucht und hätte die politischen Lieder von Marcel Khalife, Ahmad Kabour und Khaled el Haber auswendig gelernt. Nach dem Krieg wollte sie keine Musik mehr hören. Während ihres Studiums an der Uni aber begann sie mit Freunden, Bekannten und Fremden über Kriegserinnerungen zu sprechen. Sie nahm die Gespräche auf. "Mich fasziniert, wie Spannung und Lage einer Stimme wechseln, wenn ein Mensch erzählt", erklärte sie in einem Interview.
Später begann Eid, die Geräusche ihrer Stadt aufzunehmen. Es sind Geräusche, an die ich jetzt auch zurückdenke: Fußgänger, die dem Taxifahrer zurufen, wohin sie fahren wollen. Mal bestimmt und laut, mal zögernd, zurückhaltend: "Achrafieh", "Basta", "Mathaf", "Tabaris", quietschende Reifen auf dem Beiruter Asphalt, Hupgeräusche aus allen Richtungen, stotternde Mercedes-Motoren. Das Surren der vielen elektrischen Drähte, das mich in den ersten Tagen in Beirut nicht Einschlafen ließ. Das Klingen der Kirchenglocken, der Ruf des Muezzins zum Gebet. Das Hämmern und Bohren aus dem rasant wachsenden Stadtzentrum, das die halbe Stadt überzieht. Und vieles mehr. Eid wollte ein Sound-Archiv ihrer Stadt aufbauen, daraus sei allerdings leider nie was geworden.
Bald arbeitete Eid immer erfolgreicher als Sound-Designerin für Film und Video. Mit ihrer Arbeit versuche sie langsam die Wunden des Krieges zu heilen. "Ich weiß nicht, wie ich dieses Toben am Himmel aushalten soll", sagt sie jetzt am Telefon: "Alle Erinnerungen kommen zurück. Ich will weg hier und will gleichzeitig bleiben. Da ist meine Familie. Ich weiß nicht, was ich tun soll."
Soundcollagen aus dem libanesischen Bürgerkrieg
Ich denke an Raed Yassine. Letzte Woche habe ich einen ganzen Tag lang mit ihm diskutiert und Musik ausgetauscht. In seinem dreiundzwanzig Minuten langen Werk "Featuring Hind Rostan" hat er Musik, politische Reden, Kriegsgeräusche, Werbespots, Radio-Jingles und Fernsehmelodien aus dem libanesischen Bürgerkrieg zu einer Soundcollage verpackt. Es sind Hör-Erinnerungen, die viele Libanesinnen und Libanesen aus ihrem Gedächtnis streichen wollten, die aber noch immer sehr präsent sind. Es sei sehr schwierig gewesen, diese Archivaufnahmen überhaupt zu bekommen, erzählte Yassine.
"Auch die Radio- und Fernsehstationen mögen nicht in jene Zeit zurückschauen." Im Stück hört man die christlichen Milizenführer Samir Geagea und Bachir Gemayel reden, manchmal unterbrochen durch den letztes Jahr ermordeten Kommunisten-Führer Georges Hawi oder den Clan-Leader der Drusen, Walid Jumblatt. Dazwischen immer wieder Fetzen von Funk, Jazzrock, Synthesizer-Pop, die damals in Beirut gespielt wurden – trotz Krieg: Discos und Clubs florierten in jener Zeit; die Partygemeinde wollte tanzen, wollte vergessen.
Werbespots von verschiedenen Radiostationen bereichern die Collage. Sie stehen in absurdem Kontrast zum Alltag, in dem die libanesischen Krieger und Zivilisten in jener Zeit lebten: "Ich habe selten Zeit, herumzusitzen", sagt eine amerikanische Stimme, "und ich habe selten Zeit für eine richtige Mahlzeit. Darum esse ich Snickers. Ohne Snickers geht's nicht." Es soll während des Bürgerkrieges rund 200 Radiostationen gegeben haben. Jede Gemeinschaft, jede Miliz hatte ihren eigenen Sender, der laufend informierte, wer welche strategischen Schritte gemacht hatte, wer getötet worden war, welche Straße gerade befahrbar war und welche nicht. Nach dem Krieg wurde das Fernsehen wichtiger.
Beiruts wüste Vergangenheit
"Hi Tom, wir haben wieder ein Blutbad hier", schreibt mir Gharo Gdanian von der Death Metall Band "Weeping Willow" per SMS: "Ich bin zuhause und dresche wütend auf meine Gitarre ein. Geht's Dir gut? Hoffe auf bessere Zeiten." Noch heute träume er manchmal vom Krieg. Er schaue Horrorfilme, Happyends möge er nicht, hat Gdanian vor einer Woche erzählt: "Meine Musik spielt auf der dunklen Seite des Lebens, der Song 'Remains of a Bloodbath' handelt von Beiruts wüster Vergangenheit. Ich habe in meinem Leben einiges gesehen." Weeping Willow ist – oder war? - der extreme, laute Flügel einer aufstrebenden, subkulturellen Musikszene in Beirut.
Am anderen Ende der Skala war vielleicht Ziyad Sahhab. Mit ihm habe ich eben noch das Stück "Ma ana bahibb ar-Rawwaq" analysiert. Eine arabische Oud, ein arabischer Qanoun, eine Geige, Gitarre und E-Bass spielen diese so wunderbar verzierte und doch behutsam sich entwickelnde Melodie. Sahhab singt über sie hinweg mit seiner tiefen, Leonard Cohen Stimme, dass er aus Fehlern lernen und sich in Ruhe weiterentwickeln möchte. Sahhab versucht, seinen persönlichen künstlerischen Weg zu finden. Wie viele Musiker hier: Zeid Hamdan mit seinen Trip-Hop-Gruppe Soap Kills und seiner Post-Rock-Band "The New Government", Hayaf Yassine mit seiner selbstgebauten Santur, auf der er alte arabische Musik spielt; Rayess Bek, der davon rappt, dass sich die verschiedenen Religionsgemeinschaften in Libanon noch immer voller Misstrauen begegnen, die Pianistin Joelle Khoury, die immer wieder internationale Komponisten und Musiker zu Workshops einlud und vor zwei Wochen mit einem Orchester aus klassischen Musikern, Free Jazzern und Jazz-Musikern Kompositionen von John Cage spielte. Nach dem Konzert war sie überglücklich und meinte, dies seien die seltenen Momente, für die es sich gelohnt habe, so lange zu kämpfen.
Alle diese Musiker – und einige mehr – gründeten eigene CD-Labels, vernetzten sich international und entschieden sich dafür, im Libanon zu bleiben und etwas aufzubauen. Sie waren in guter Gesellschaft. Die Zivilgesellschaft wurde größer, unabhängige Medienplattformen wie "indymedia Beirut", die Schwulen- und Lesben NGO "Helem", Naturschutzorganisationen und viele mehr sprachen Tabus und neue Themen an. Sie wollten Schritt für Schritt vorwärts gehen, glaubten aber nicht mehr an die großen politischen Lösungen.
Nationaler Dialog als politisches Theater
Zwar beteiligten sie sich an den Massendemonstrationen, die im letzten Frühjahr zur Bildung einer neuen Regierung führten, aber sie trauten den Politikern nicht, die bereits im Krieg dirigiert hatten und sich in letzter Zeit versöhnlich zeigten. Den "National Dialogue", der in den letzten Monaten immer wieder alle politischen Clan-Führer des Landes – inklusive Nasrallah – an einen Tisch geführt hatten, empfanden viele als Theater. Es scheint, sie hatten Recht. Liefen die Reformen zu langsam? Wird Libanon jetzt dafür bestraft? Oder wäre dieser Krieg ohnehin nicht zu verhindern gewesen? Diese aktive Szene ereichte immer breitere Bevölkerungsschichten.
Sie war drauf und dran, dieses Land zu verändern. Der eher düstere intellektuelle Film "A Perfect Day" von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige etwa wurde in den Multiplex-Kinos der großen Beiruter Shopping Malls gezeigt, im Herzen also der libanesischen Konsumwelt, die vielen Intellektuellen und Künstler so auf die Nerven geht. "Mit extremem Konsum verdrängen die Libanesinnen und Libanesen die Erinnerungen an den Bürgerkrieg", schreibt Samir Khalaf, Soziologe und Professor an der Amerikanischen Universität Beirut.
Die jungen Künstler haben dieses und andere Tabuthemen immer öfter angesprochen. Sie haben es geschafft, damit erste Brücken zur Bevölkerung zu schlagen. Diese Brücken – wie auch jene aus Stein - sind nun erst einmal brutal kaputt gebombt worden. Mazen Kerbaj hat sich inzwischen ganz auf Kriegsmusik umgestellt. Er nennt die israelischen Piloten in seinem Blog "Soundkünstler", und er hat seine MP3-Aufnahme einer Bombennacht ins Internet gestellt.
Thomas Burkhalter
© Qantara.de 2006