Nationale Fronten?
Während der Kampagne zu den Kommunal- und Europawahlen richtete Marine Le Pen Anfang 2014 einen offenen Brief an ihre "Freunde, die harkis und pieds-noirs". Es ging um die Beurteilung des früheren französischen Präsidenten Charles de Gaulle, des Gründervaters der V. Republik.
In ihrem Schreiben an die ehemaligen Soldaten der französischen Hilfstruppen im Algerienkrieg, die harkis, und die Algerienfranzosen, die pieds-noirs, stellte die Vorsitzende des rechtsextremen Front National (FN) klar, de Gaulle habe die beiden Gruppen, "die so sehr unter seiner Algerienpolitik gelitten haben, auf kriminelle Weise im Stich gelassen". 60 Jahre nach seinem Beginn scheint der Algerienkrieg die Gemüter immer noch zu bewegen.
Ein "rotes Allerheiligen"
Als am 1. November 1954 die algerische Befreiungsbewegung Front de Libération Nationale (FLN) mit einer Anschlagsserie ihren Kampf für die Unabhängigkeit von Frankreich aufnahm, glaubte man in Paris zunächst an eine unbedeutende Episode. Dieses "rote Allerheiligen" war jedoch der Auftakt zu einem der erbittertsten Kolonialkriege des 20. Jahrhunderts.
In den fast acht Jahren des Konflikts kamen Hunderttausende muslimische Algerier ums Leben. Durch Terroranschläge beider Seiten geriet auch die Zivilbevölkerung ins Visier. Besonders während der Schlacht um Algier 1957 praktizierten französische Truppen außerdem systematisch Folter und Ermordung Gefangener. Und auch innenpolitisch kam Frankreich nicht zur Ruhe.
Die "pieds-noirs"
1954 lebten in Algerien etwa eine Million Siedler europäischer Herkunft. Die pieds-noirs waren gegenüber den fast neun Millionen muslimischen Algeriern zwar klar in der Minderheit, politisch verfügten sie aber über ein ungleich größeres Gewicht. So torpedierten die Algerienfranzosen die Lösungsversuche der sozialistischen Regierung, die 1956 mit dem Versprechen, den Konflikt beizulegen, die Wahlen gewonnen hatte.
Als das "Mutterland" ihnen wieder zu zögerlich erschien, initiierten rechtsgerichtete pieds-noirs und Offiziere im Mai 1958 sogar einen Staatsstreich und brachten General de Gaulle an die Macht – die bis heute bestehende V. Republik nahm ihren Anfang. Bei seinem ersten Besuch in Algerien rief de Gaulle der begeisterten Menge zu: "Ich habe euch verstanden!"
Schon bald fühlte sich die Siedlerlobby vom Präsidenten jedoch überhaupt nicht mehr verstanden, sondern – wie Le Pen in Erinnerung rief – vielmehr im Stich gelassen: Ausgerechnet der Held des Zweiten Weltkriegs setzte nicht auf einen militärischen Sieg, sondern auf Frieden. Daraufhin wagten dieselben Kreise, die de Gaulle zur Macht verholfen hatten, im April 1961 einen zweiten Putsch – dieses Mal gegen den Nationalhelden, dieses Mal erfolglos.
Geschlagen gaben die Anhänger der Algérie française sich damit allerdings noch nicht: Generäle und rechtsradikale Siedlerführer gründeten die Terrorgruppe Organisation armée secrète (OAS), die den mit den Verhandlungen von Évian 1961 begonnenen Friedensprozess zum Scheitern bringen wollte. Die OAS verübte Attentate auf FLN-Kämpfer, muslimische Zivilisten und französische Politiker, darunter auch mehrere (fehlgeschlagene) auf den Präsidenten der Republik.
Unabhängigkeit und Exodus
Das Unvermeidliche konnte sie dennoch nicht aufhalten: Im März 1962 vereinbarte die Pariser Regierung in Évian mit der algerischen Nationalbewegung einen Waffenstillstand. Am 5. Juli erlangte Algerien endlich die Unabhängigkeit. Mit dem Mut der Verzweiflung intensivierte die OAS ihre terroristische Kampagne und versuchte, die Algerienfranzosen am Verlassen des Landes zu hindern.
Das Einzige, was die radikalen pieds-noirs damit erreichten, war freilich ein umso heftigerer Gegenterror der muslimischen Algerier, vor dem schließlich alle Nachfahren europäischer Siedler nach Frankreich flohen – unter ihnen auch die algerischen Juden, die seit langem die französische Staatsbürgerschaft besaßen.
Zum Zeitpunkt des Waffenstillstands dienten außerdem über 260.000 Muslime in der französischen Armee. Diese harkis wurden vom siegreichen FLN nun als Verräter verfolgt, vertrieben oder getötet. Diejenigen, die sich nach Frankreich retten konnten, mussten jahrelang in Lagern ihr Dasein fristen und erhielten vom französischen Staat kaum Unterstützung.
Doch die algerische Gemeinde in Frankreich besteht nicht nur aus ehemaligen harkis. Schon seit dem Ersten Weltkrieg waren Gastarbeiter nach Frankreich gekommen. Hier, unter den Arbeitern in Paris und Marseille, und nicht etwa in Algier oder der Kabylei, war sogar die algerische Unabhängigkeitsbewegung entstanden. Die Verwüstungen der Jahre 1954 bis 1962 verstärkten die Einwanderung nur noch. Heute leben in Frankreich nach verschiedenen Schätzungen insgesamt etwa vier Millionen Menschen mit algerischen Wurzeln.
"Südstaatlerei auf französische Art"
Laut dem Historiker Benjamin Stora waren diese Einwanderer gerade nach dem Algerienkrieg häufig nicht gern gesehen: "Ihr wolltet die Unabhängigkeit Algeriens, warum seid ihr also noch in Frankreich?", lautete eine gängige Argumentation. Noch heute, so Stora weiter, sei diese Bevölkerungsgruppe "Hauptopfer rassistischer Verbrechen in Frankreich."
Der Experte für den Algerienkrieg – der selbst einer jüdischen Familie aus dem ostalgerischen Constantine entstammt und als Kind nach Frankreich kam – spricht gar von einem "Südstaatlertum auf französische Art", einer Form von Rassismus, die sich vor allem gegen Muslime richtet. Dieser beruhe wesentlich auf der Ideologie der Siedlungskolonisation in Algerien, nach der die Einheimischen allgemein als minderwertig, bestenfalls als billige Arbeitskräfte, galten – ganz ähnlich wie die Afroamerikaner in den Südstaaten zur Zeit der Rassentrennung.
Dieser Rassismus halte sich zäh, so Stora: "Mit dem Aufstieg des Front National reaktivierte die extreme Rechte ein revanchistisches Gedächtnis, das sich gegen die Immigranten wendet und sich aus den lebendigen Erinnerungen an das französische Algerien speist." Man sollte die pieds-noirs auf keinen Fall pauschal als rechtsradikal betrachten. Allerdings geben Algerienfranzosen und ihre Nachfahren – laut dem Pariser Centre de recherches politiques gut drei Millionen Wahlberechtigte (von insgesamt 46 Millionen) – ihre Stimme heute überdurchschnittlich dem Front National.
Die Partei Le Pens – die bei der Europawahl 2014 zur stärksten politischen Kraft Frankreichs avancierte – bedient gern die Nostalgiker der Algérie française. Seine Hochburgen hat der FN nicht zufällig im Süden des Landes, wo sich auch die meisten pieds-noirs angesiedelt haben. Seit diesem Jahr stellen die Rechtsextremen dort zahlreiche Bürgermeister – die französische "Südstaatlerei" gewinnt sechs Jahrzehnte nach Ausbruch des Algerienkriegs wieder an Stärke.
Jakob Krais
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