''Ein Tsunami des Atheismus''
"Echo" ("Baztab") heißt das derzeit meistgelesene und zitierte Nachrichtenportal im Iran. Zu seinem Aufstieg hat der heraufziehende Präsidentenwahlkampf ebenso beigetragen, wie die schützende Hand von Mohsen Rezai, der Mahmud Ahmadinedschad beerben möchte.
Der mächtige Mann hinter "Baztab" und ehemalige Kommandeur der Revolutionsgarden, rechnet sich zwar kaum Chancen bei den Wahlen aus, doch will er es, wie bereits vor Jahren, noch einmal versuchen. Als ob das Webportal ihrem Namen gerecht werden will, reflektiert "Baztab" seit Wochen wie ein Echo fast alle Themen dieses Wahlkampfes.
Außerdem wird auf der Webseite erstaunlich offen und kritisch über viele Probleme des Alltages berichtet. Dabei werden sogar manche roten Linien überschritten und viele Tabuthemen angesprochen. Vor kurzem beschäftigte sich das Medium mit dem Tabuthema "Atheismus in der Islamischen Republik".
Wie ein Tsunami habe der Atheismus, der Aberglauben und die Sektengläubigkeit Irans Jugend erfasst und mitgerissen. Der Grund für dieses "beschämende Phänomen" sei der Missbrauch der Religion durch die Regierung, so "Bazatab".
Der kurze Beitrag liest sich wie eine Mischung aus Analyse, Kommentar und Warnung zugleich. Doch wichtiger und interessanter als der Text selbst sind die zahlreichen Kommentare, in denen einige Leser ihre Beobachtungen der alltäglichen Missachtung der Religion schildern, manche auch ihre Gründe für die Abkehr der Jugend vom Islam aufzählen oder einige sogar sich selbst zur Gottlosigkeit bekennen.
Leere Moscheen
Dieses "Phänomen", das die "Baztab"-Redaktion als "beschämend" bezeichnet, ist für einen Teil der Opposition sehr gut nachzuvollziehen. Außerdem offenbart die Debatte eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen dem Iran und allen anderen islamischen Ländern: Während in den arabischen Staaten der Islam privat wie politisch an Bedeutung gewinnt, leeren sich ausgerechnet in der Islamischen Republik die Moscheen.
Auf ihrer spirituellen Sinnsuche wenden sich viele Menschen dem Christentum, den Derwischorden oder den Psychosekten zu. Für die Sicherheitsbehörden ist aber der Kampf gegen Anhänger jener Bekenntnisse, die die theoretische Grundlage der Islamischen Republik in Frage stellen, existentiell und kompliziert zugleich.
Mit anderen Worten: Einerseits müssen religiöse Minderheiten zwar toleriert werden, andererseits muss gegen religiös "Anrüchiges" zu Felde gezogen werden, denn schließlich gehe es dabei nicht mehr um irgendeine religiöse Überzeugung, sondern um die Bedrohung der nationalen Sicherheit. Und jedes Mal, wenn irgendeine ausländische Organisation oder Regierung gegen die Verfolgung der religiösen Minderheiten im Iran protestiert, wiederholt Mohammed-Javad Laridschani, der Vorsitzende der iranischen Menschenrechtskommission: "Niemand wird im Iran wegen seines Glaubens verfolgt".
Psychosekte hoch im Kurs
Laridschanis Satz von der angeblichen Glaubensfreiheit in der Islamischen Republik hörte man in letzter Zeit öfters, als in der Stadt Shahrud im Nordosten des Landes elf Hausfrauen wegen ihrer Zugehörigkeit zu der Sekte "Interuniversale Mystik" verhaftet wurden.
Die Frauen hätten wöchentlich eine sechsstündige Lehrsitzung veranstaltet, die Lehrerin des Kurses, eine Juristin, sei dafür sogar extra aus der rund 700 Kilometer entfernten Stadt Isfahan angereist. Die Frauen hätten sich nicht nur mit der "obskuren Mystik", sondern auch mit einer schädlichen Psychotherapie, der sogenannten "Meta-Therapie" beschäftigt, meldete die Nachrichtenagentur "Fars" am 20. Dezember 2012.
Für die einen ist die "Interuniversale Mystik" ein Versuch der Vereinigung mit der Welt und der Wiederfindung des inneren Friedens. Für die Religions- und Moralwächter ist sie aber eine verfälschte Mystik, eine subversive und gefährliche Strömung, die die Jugend manipuliere und den Islam aushöhle.
Die "Interuniversale Mystik" ist eine Mischung aus Sinnsuche und Psychotherapie. Neben der Welterklärung bietet die Sekte auch eine Art Therapie an, die sich im Persischen "Faradarmani", d.h. Meta-Therapie, nennt.
Erstmals stieß sie vor fünf Jahren bei Studierenden und innerhalb der städtischen Mittelschicht auf Resonanz, breitete sich jedoch rasch über das ganze Land aus, wie der jüngste Fall aus der Provinzstadt Shahrud zeigt. Das Credo der Sektenanhänger: Alles in der Welt besitze ein Bewusstsein und strahle Energien aus. Es gelte nur die negative Energie abzuwenden, so der Gründer der Sekte, Mohammad Ali Taheri, der inzwischen zu sieben Jahren Gefängnis und 70 Peitschenschlägen verurteilt wurde.
So wie bei Rumi und anderen Großmeistern der iranischen Mystik steht auch bei den "Interuniversalen" die Einheit des Seins im Mittelpunkt. Demnach sei alles letztlich eine Erscheinung Gottes. Als die Sekte mit ihren Aktivitäten begann, konnte sie sogar auf das Wohlwollen der Behörden zählen, denn sie berief sich auf den Islam und auf die traditionelle Mystik des Iran.
In mehreren Büchern konnten die Anhänger ihre Glaubenslehre erläutern, an Universitäten durften Seminare abgehalten werden. Sogar im Ausland warb man für die Lehre, etwa in Armenien, in der Türkei oder in Südkorea. Sektengründer Mohammad Ali Taheri bereiste zahlreiche Länder und rühmte sich, zwei Ehrendoktortitel von ausländischen Universitäten zu besitzen. Sogar das staatliche Fernsehen würdigte sein Engagement.
Doch das ist längst Vergangenheit. Seit der Wiederwahl Ahmadinedschads vor dreieinhalb Jahren, steht offenbar der "umfassende Kampf" gegen "jede Form falscher Mystik" auf der Tagesordnung – geführt von der höchsten Stelle der religiösen und politischen Autorität des Landes. Das "Seminar zur Reinhaltung des Geistes" an der theologischen Hochschule Ghom schätzt die Zahl der "Interuniversalen" auf rund 300.000.
Untertrieben und unterschätzt, sagen die Betreiber der zahlreichen Internetseiten, die sich dem Kampf gegen die "falsche Mystik" verschrieben haben. Die "Interuniversalen" schienen nicht mehr ein harmloser mystischer Zirkel zu sein, sondern wie eine gefährliche Strömung, beinahe eine kleine Massenbewegung, die die Grundsätze der Islamischen Republik in Frage stellt.
Ende der Schonzeit
Die offizielle Kampagne gegen die "falsche Mystik" wurde vor mehr als zwei Jahren von Ayatollah Khamenei persönlich zur Chefsache erklärt. Der Revolutionsführer hielt sich im Oktober 2010 eine Woche lang in der heiligen Stadt Ghom auf, wo er sich mit mehreren Großayatollahs traf.
Am letzten Tag seiner Visite verkündete er in einer Grundsatzrede vor versammelten Theologiestudenten: "Die Verbreitung der Zügellosigkeit, die Propagierung der falschen Mystik und der sogenannten Hauskirchen sind Versuche der Zionisten und anderer Feinde, den Islam zu bekämpfen."
Kaum hatte der mächtigste Mann des Landes das Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit verlassen, erließ ein Ayatollah nach dem anderen eine Fatwa gegen die "falsche Mystik". Die Verbreitung ihrer Lehre bedeute Apostasie und Frevel.
Doch trotz der Repressionen wächst bis heute die Zahl der Menschen, die das Heil in Sekten oder bei anderen religiösen Minderheiten suchen. Die Zahl der Neu-Christen, die sich in Untergrundkirchen organisieren, soll in den vergangenen Jahren auffällig gestiegen sein. Die evangelikale Organisation "Open Doors" behauptet auf ihrer Internetseite, dass die Zahl der Christen im Iran von einst rund 300.000 inzwischen auf 460.000 gestiegen sei.
Belegen lassen sich diese Zahlen zwar nicht, doch der Trend, sich zu einem anderen Glauben als dem muslimischen zu bekennen, ist unverkennbar. Die vom Staat propagierte Version des Islam habe die meisten Iraner von ihrer Religion entfremdet, bedauert der angesehene Theologe Mohsen Kadivar. Die Suche nach einem spirituellen Ausweg höre aber niemals auf, deshalb glaubten manche Menschen ihr Heil im Christentum, im Buddhismus oder eben in den Sekten finden zu können.
Ali Sadrzadeh
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de