"Die documenta steht vor einem Scherbenhaufen"
Herr Professor Mendel, die documenta hat das wegen seiner antisemitischen Bildsprache kritisierte Banner von Taring Padi abgehängt. Ist die Antisemitismus-Debatte damit erledigt?
Meron Mendel: Nein, die Debatte hat erst begonnen. Natürlich gibt es unterschiedliche Vorstellungen, wie es jetzt weitergehen soll - welche personellen Konsequenzen gezogen werden müssen oder wie mit den Künstlerinnen und Künstlern umzugehen ist. Aber wichtig scheint mir: Wie können wir den Dialog mit den Künstlern des Globalen Südens hier nicht schon abbrechen, sondern aufnehmen?
Wo verlaufen die Frontlinien in diesem Streit?
Mendel: Es gibt viele Stimmen und Positionen, die sich nur schwer auf eine Frontlinie reduzieren lassen. Wir sollten nicht alle Künstler aus dem Globalen Süden in einen Topf werfen. Ein Argumentationsstrang bei den Verteidigern von Taring Padi lautet, man müsse die Motive auf dem Banner im Kontext des Globalen Südens sehen. In muslimisch geprägten Ländern sei das unproblematisch und gehöre zum Mainstream. Aus ihrer Sicht entsteht das Problem daraus, dass das Werk in Deutschland oder Europa zu sehen ist. Dabei sollte klar sein: Juden als Blutsauger darzustellen, sollte nicht nur im deutschen Kontext ein Problem sein, sondern überall auf der Welt.
Auf der anderen Seite steht die ebenso inhomogene Gruppe der Kritiker. Auch wenn alle das Banner als antisemitisch sehen, werden aus dem Skandal unterschiedliche Forderungen abgeleitet. Auch in der Frage, wie weit Antisemitismus in der documenta verbreitet ist, gibt es unterschiedliche Einschätzungen.
Unterschiedliche Sichtweisen prallen aufeinander
Geht es, wie Hanno Loewy, der Direktor des Jüdischen Museums Hohenems sagt, auch um einen sehr verschiedenen Blick auf den Nahen Osten: Man fällt übereinander her, ohne die Perspektive des jeweils anderen anzuerkennen?
Mendel: Tatsächlich beschreibt das zum Teil die Dynamik; es prallen unterschiedliche Blicke auf den Nahostkonflikt aufeinander. Da gibt es zum einen den Blick aus Europa, aus Deutschland auf Israel - als dem Land der Holocaust-Opfer, die Zuflucht in Israel gefunden haben und für die Israel bis heute als sicherer Hafen gilt.
Aus Sicht des Globalen Südens werden die europäischen Juden, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Palästina kamen, eher als Kolonialisten betrachtet. Das ist ein verzerrtes Verständnis von der Gründung Israels.
Aber das ist nur ein Teil des Problems: Denn die antisemitischen Bilder auf dem Banner von Taring Padi kommen aus dem europäischen Kulturraum. Diese Narrative entstanden nicht im globalen Süden. Die Juden als Blutsauger oder als Vampire, diese Narrative stammen teilweise aus dem Mittelalter, aus dem christlichen Antijudaismus. Die Juden mit Nazis zu vergleichen, das sehen wir auch bei den Rechten in Deutschland.
Wir haben es also mit einem vielschichtigen Problem zu tun - mit der Tradierung von antisemitischen Bildern, die sich praktisch als europäisches Exportgut in die ehemals kolonialisierten Länder eingeschrieben haben.
Führen wir hier eine sehr deutsche Debatte?
Mendel: Sicherlich hat die Debatte vor dem Hintergrund der spezifisch deutschen Geschichte des Nationalsozialismus eine besondere Brisanz. Aber ähnliche Kämpfe, vielleicht nicht in einem solchen Ausmaß, werden auch in anderen europäischen Ländern geführt.
Deutschland steht in einer historischen Verantwortung. Wird das im Ausland, auch von den documenta-Kuratoren, nicht ausreichend verstanden?
Mendel: In einer öffentlich finanzierten Ausstellung Bilder von Juden als Blutsauger zu präsentieren oder Juden als Nazis darzustellen, sollte nirgendwo auf der Welt stattfinden, egal, in welchem kulturellen Kontext. Weil es menschenverachtend ist. Genauso bin ich dagegen, wenn schwule Menschen diffamiert oder Frauenrechte missachtet werden. Es geht um etwas Grundsätzliches - um Menschenrechte. Sie mögen ein westliches Konstrukt sein, aber sie sind universal und aus meiner Sicht unverhandelbar. Egal, woher die documenta-Kuratoren kommen.
Ist das auch den Deutschen noch präsent?
Mendel: Abgesehen von der AfD, die eine Kehrtwende in der Erinnerungskultur fordert, gibt es dazu einen politischen Konsens in Deutschland. Fragt man die Bevölkerung, etwa in Erhebungen, ist dieser Konsens schon deutlich fragiler. Es gibt also unter den Deutschen sehr unterschiedliche Auffassungen, welche Verantwortung sich aus der Nazivergangenheit für die Gegenwart ergibt und welche nicht.
Muss Deutschland mehr erklären? Gerade in Richtung Globaler Süden?
Mendel: Deutschland ist nicht der Oberlehrer des Globalen Südens. Aber wenn Menschen aus anderen Ländern hier ausstellen, liegt die Verantwortung natürlich auch bei den Gastgebern. Der Bundespräsident hat das sehr prägnant in seiner Eröffnungsrede gesagt. Er sagte: "Verantwortung lässt sich nicht outsourcen." Deshalb kann sich niemand hinter dieser Schutzbehauptung verstecken und sagen, allein die Leute aus dem Globalen Süden tragen die Verantwortung. Es geht nicht nur um Antisemitismus, sondern um Menschenrechte als Grundlage des Zusammenarbeitens.
Hat die documenta durch den aktuellen Eklat Schaden genommen?
Mendel: Der Schaden ist enorm. Die documenta steht vor einem Scherbenhaufen. Das ist besonders tragisch, weil großartige Arbeiten von bald 1500 Künstlerinnen und Künstlern durch wenige Arbeiten komplett überschattet werden. Deshalb betone ich: Das ist keine antisemitische documenta.
Mich beschäftigt jetzt die Frage: Wie kann man die Diskussion auf der documenta und die documenta selbst noch auf eine produktive Schiene ziehen?
Das Gespräch führte Stefan Dege.
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Professor Meron Mendel, Jahrgang 1976, ist seit 2010 Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Seit 2021 ist Meron Mendel zudem Professor für transnationale soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und forscht u.a. zur Gegenwart des Antisemitismus und zur Zukunft der Erinnerungskultur.