"Das Volk will den Sturz des Regimes"
Die Spannung in Damaskus ist kaum auszuhalten. Schon eine Stunde nachdem die Besucherin in das im Kolonialstil erbaute Hotel am Marja-Platz im Stadtzentrum eingecheckt hat, öffnet sich im Gebäude gegenüber ein Fenster. Ein Mann mit dunkler Lederjacke und ebenso dunkler Sonnenbrille beobachtet fortan beständig, was in der Herberge vor sich geht. In der Lobby sitzen Herren in grauen Anzügen, die anscheinend nichts anderes zu tun haben als stundenlang Zeitung zu lesen. Auf der Straße begegnet man selbst in der zwei Kilometer entfernten Altstadt Menschen, die man kurz zuvor am Marja-Platz auch gesehen hat. Das Klicken im Handy hört sich anders an als eine bloße Verbindungsstörung. Als dann auch noch der Computer einen Virus-Alarm signalisiert, ist es eindeutig: die Überwachung der Staatssicherheit ist komplett und lückenlos.
Jagd auf Journalisten
Seitdem die syrische Regierung hinter den Unruhen im Land eine ausländische Verschwörung wittert, gilt jeder Ausländer als potentieller Verschwörer. Journalisten scheinen dabei als besonders schlimm zu gelten. Seit Wochen werden keine Visa für Medienvertreter mehr ausgestellt. Auf die wenigen, die sich noch im Land befinden, wird gnadenlos Jagd gemacht.
Der im Golfstaat Katar beheimatete arabische Nachrichtensender Al Jazeera war das einzige ausländische Medium, das bis vor Kurzem mit einer eigenen Korrespondentin aus Syrien über die Aufstände berichten konnte. Nach 19 Tagen in Gefangenschaft, wurde die Journalistin nun über Iran zurück nach Doha geschickt.
Gleichzeitig schreibt die iranische Zeitung "Hamshahri", dass Syrien destabilisiert werden solle, weil das Land Widerstandsorganisationen unterstütze und meint damit wohl die Hamas im Gazastreifen, die Hizbollah im Libanon oder die Aufständischen im Irak. Auch Libyen springt dem syrischen Regime bei und sagt, dass die Unruhen dort von Ausländern geschürt werden. Das staatliche libysche Volkskomitee für internationale Zusammenarbeit fordert in einer Erklärung ein Ende der ausländischen Einmischung in die Angelegenheiten Syriens und spricht von einem "imperialistischen Propagandafeuer".
Das Propagandafeuer indes, besorgt derzeit fast ausschließlich die Regierung in Damaskus selbst. So werden nahezu täglich Menschen im staatlichen Fernsehen vorgeführt, die gestehen, einer Bande anzugehören, die das Regime stürzen wolle. Insgesamt sollen sich bereits 8881 Menschen gestellt haben. Doch davon lassen sich die gut 20 Millionen Einwohner Syriens nicht beeindrucken. Die Proteste weiten sich von Tag zu Tag mehr aus, die Zahl der Demonstranten nimmt zu.
Blutige Machtkämpfe der Baath-Partei
Abdallah sitzt im Schreibwarenladen in einer Seitenstraße vom Marja-Platz neben dem Verkäufer und ist verzweifelt. Gerade habe sich sein Land nach langen Jahren der Isolation wieder vorsichtig geöffnet. Der Tourismus begann zu florieren. "Die Franzosen waren die ersten, die wieder zu uns kamen." Abdallah hat sich gefreut, denn er spricht Französisch und konnte sich durch Führungen ein kleines Zubrot zu seiner Rente hinzuverdienen. Doch jetzt sind die Grenzen wieder dicht. Frankreich, das nach dem Ersten Weltkrieg das Völkerbundmandat für Syrien und Libanon erhielt, konnte seine Herrschaft bis zum 17. April 1946 aufrechterhalten, als die Arabische Republik Syrien ausgerufen wurde. Abdallah war damals zehn Jahre alt.
Seitdem ist viel passiert: drei Kriege gegen Israel; der Zusammenschluss Ägyptens und Syriens zur Vereinigten Arabischen Republik, die nur knapp drei Jahre währte; blutige Machtkämpfe der Baath-Partei, aus denen Hafiz al-Assad siegreich hervorging; Aufstände und Unruhen. Assad konterte stets mit Härte und stets wurde er rücksichtsloser und brutaler. Als er vor elf Jahren starb, hinterließ er seinem Sohn Baschar einen Machtapparat mit 17 unterschiedlichen Sicherheitsdiensten und Spezialeinheiten.
"Das Volk will das Regime stürzen", riefen die Demonstranten am 14. April, an dem Tag, als die Proteste zum ersten Mal auch die Hauptstadt Damaskus erreichten. Nahezu flächendeckend gehen die Leute seit Wochen auf die Straße. Angefangen in Deraa im Süden, an der Grenze zu Jordanien, breitete sich der Aufruhr wie ein Flächenbrand in den Norden, Westen und zuletzt auch Osten Syriens aus. Überall rufen die Menschen nach Veränderung. Während am Anfang Forderungen nach Reformen, einer verbesserten Infrastruktur, mehr Jobs, weniger Korruption und vor allem die Aufhebung des seit 50 Jahren geltenden Ausnahmezustands im Vordergrund standen, verlangen sie jetzt mehr und mehr den Sturz des Präsidenten.
Mit jedem Schuss auf Demonstranten wächst der Zorn gegen den Machthaber und seine Entourage. Menschenrechtler wollen schon fast 1000 Tote gezählt haben. Unzählige Verletzte füllen die Krankenhäuser, unzählige Verhaftete die Gefängnisse. "Hört auf zu schießen", rufen 250 jugendliche Männer und Frauen auf dem Arnous-Platz im Stadtzentrum von Damaskus. "Wir wollen eine freie Zivilgesellschaft!" Mit Bussen macht die Geheimpolizei Jagd auf die Demonstranten: "Ihr Zuhälter, ihr Spione! Ihr wollt Freiheit? Wir werden euch Freiheit geben!", schreien sie aus den Fahrzeugen heraus. Die anschließenden Schüsse sind in der ganzen Innenstadt zu hören.
Flächenbrand der Proteste
Hervine hat kein Mitleid mit dem Präsidenten. Er habe elf Jahre Zeit gehabt, etwas zu ändern, sich mit seinen Ideen gegen die alte Garde durchzusetzen. Seiner charismatischen Rede nach der Machtübernahme von seinem Vater, in der er Reformen, eine Liberalisierung der Wirtschaft und der Gesellschaft versprach, seien keine Taten gefolgt. Auch er kenne nur Knüppel.
Die kleine Frau hört sofort auf zu sprechen, als ein Mann im grauen Anzug den Schreibwarenladen betritt. Sie bezahlt Stift und Notizblock und geht langsam und beherrscht auf die Straße. An einer belebten Ecke bleibt sie stehen und redet weiter. Schon im Frühjahr 2004 hätten sie die eiserne Faust von Bashar al-Assad zu spüren bekommen, als es bei Demonstrationen zu Zusammenstößen mit den Sicherheitsdiensten kam und hunderte syrischer Kurden, darunter auch Kinder, verhaftet und getötet wurden. Die Proteste fanden damals in Qamishli, Amuda und Afrin, im Nordosten Syriens, statt, wo die meisten Kurden leben. Auch jetzt gehen dort wieder Menschen auf die Straße. Sie haben das Regime aufgefordert, alle politischen Häftlinge im Land freizulassen.
Das Freiheitsstreben der Kurden und der Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung haben nicht nur in Syrien in der Vergangenheit immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen geführt. Auch die Nachbarn Irak und Türkei haben die Säbel gegen ihre Kurden erhoben. Im Juni 1963 gingen Hafiz al-Assad und Saddam Hussein sogar gemeinsam gegen die Minderheit vor.
Doch während in all den Jahren Konflikte und Aufstände zumeist lokal begrenzt und auf eine Region oder eine Stadt beschränkt waren, ist der Protest heute im ganzen Land verteilt. Armee, Polizei und Staatssicherheit hetzen von einem Ort zum anderen. Ziehen die Panzer aus Deraa im Süden ab, rollen sie nach Banja im Nordwesten. Ist Aleppo im Norden "befriedet", brechen Unruhen in Latakia am Mittelmeer aus.
"Unser Freiheitsstreben hat jetzt alle erfasst", ist Hervine sichtlich stolz. Die Menschen würden nicht mehr in ethnische und religiöse Schubladen gesteckt. Das Volk gegen die Herrschenden sei das Gebot der Stunde. "Kommt drauf an, wer länger durchhält? Wir oder die?" Und sie zeigt auf ein übergroßes Plakat, das Bashar al-Assad zusammen mit seinem Vater Hafiz abbildet und das überall in Damaskus zu sehen ist. Einige sind zerrissen, andere mit Farbe beworfen.
Svenja Andersson
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