Die Ruhe vor dem Sturm
Es herrscht Ruhe im Viertel Salaheddine, wenn auch nur für einige Stunden. Nur vereinzelt sind Schüsse zu hören. Einige Bewohner nutzen die Gelegenheit, um in den Trümmern ihrer zerstörten Häuser nach Habseligkeiten zu suchen. Über ihren Köpfen kreisen Drohnen und Kampflugzeuge, die ausnahmsweise an diesem Tag nicht angreifen.
Die Stille in dem seit drei Wochen umkämpften Stadtteil Aleppos ist ungewöhnlich. Eine Verschnaufpause, die die Rebellen nutzen, um neue Kämpfer in Stellung zu bringen und die zur Neige gegangenen Munitionsdepots wieder aufzufüllen.
Das Ziel der Freien Syrischen Armee (FSA) ist es, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Die Regimetruppen von Präsident Baschar al-Assad haben die Rebellen an den Rand von Salaheddine gedrängt. "Merkwürdigerweise sind sie aber nicht weiter vorgerückt", sagt Ahmed, ein Aktivist der Opposition. "Stattdessen haben sie in Gebäuden und auf Dächern Scharfschützen positioniert. Sie überblicken die Gegend und kontrollieren sie."
Das Viertel im Südwesten der syrischen Wirtschaftsmetropole hat große strategische wie symbolische Bedeutung. Als die FSA am 20. Juli Teile Aleppos besetzte, trafen die unterschiedlichen Rebellenmilizen in Salaheddine zusammen. Sie gründeten die "Union der Einigkeit" und konzentrierten dort einen Großteil ihrer Kämpfer.
Kein Wunder, das die syrische Armee ihre Offensive auf diesen Stadtteil richtete. Für sie ist es der Schlüssel zur Rückeroberung der Industriemetropole Aleppo aus der Hand der "Terroristen und ausländischen Kämpfern."
Ständig im Visier
Zuerst ist es nur ein bedrohliches Surren und ein kreisender brauner Punkt am Himmel. Danach ein tiefes Rauschen, wenn das Flugzeug den Bug nach unten neigt und in den Tiefflug geht. Wenige Sekunden später feuert die Luftbodenmaschine vom russischen Typ Sukoi eine Salve aus ihren 23 Millimeterkanonen und steigt wieder nach oben. Die Munition, die beim Aufprall explodiert, reißt die Fassade eines Geschäfts weg und zerstört die Wohnräume im ersten Stock.
"Die Angriffe der syrischen Luftwaffe machen uns am meisten zu schaffen", sagt Abu Ali, ein Rebellenkommandant, der mit seinem Bataillon in Salaheddine tagelang gekämpft hat. Der 25-Jährige erholt sich gerade in Azaz, das rund 45 Kilometer von Aleppo entfernt liegt.
Azaz ist eine der syrischen Grenzstädte zur Türkei, die in Rebellenhand ist. Abu Ali ist am Bein verletzt, die ihm ein Splitter einer Panzergranate zufügte. Aber deswegen ist er am allerwenigsten zu Hause. Obwohl er nur auf Krücken gehen kann, fährt er bald wieder an die Front, um sein Bataillon mit dem Funkgerät in der Hand zu dirigieren.
Siegesgewiss – mit oder ohne Waffen
In seiner Heimatstadt Azaz ist der junge Kommandant ein Held, der von allen überschwänglich begrüßt und geküsst wird. Man merkt, wie sehr der 25-jährige in seiner Rolle aufgeht und sie genießt. "Wir brauchen nicht mehr Kämpfer", versichert Abu Ali, "wir brauchen nur mehr Waffen, um den Krieg zu gewinnen." Panzerabwehrwaffen, um den T-82 auseinanderzunehmen, aber vor allen Dingen Luftabwehrwaffen gegen Flugzeuge und Helikopter." Dann stünde außer Zweifel, dass die Rebellen den Krieg gewinnen.
Für die meisten der Bewohner von Azaz und anderer Dörfer und Städte im Rebellengebiet steht ein Sieg außer Frage. Mit oder ohne neuen Waffen. "Wir können nur gewinnen", ruft eine Frau, die im Bürgerkrieg ihre drei Söhne als Märtyrer verloren hat. "Wir haben doch den Islam und das Regime hat keine Religion." Da könne man unmöglich verlieren.
Der Islam spielt in dieser erzkonservativen Gegend eine wichtige Rolle für die Revolution. Gottvertrauen als Motivationsschub für die Kämpfer und Religion ein positives Gegenmodell zum teuflischen Assad-Regime. "Ich brauche keine kugelsichere Weste", meint Diab, ein junger FSA-Mann und klopft sich mehrfach mit der Faust auf die Brust. "Allah wird die Kugeln abwehren. Und wenn meine Zeit gekommen ist, gehe ich als Märtyrer ins Paradies."
Etwas zuviel Gottvertrauen
Diab breitet dabei beide Hände aus und hält sie zum Himmel. Etwas zuviel Gottvertrauen könnte man sagen, wenn sie sich an der Front bewegen, als wären sie unverwundbar. Wie Abulabed etwa, der ein Taxi fuhr, bevor er sich der Revolution anschloss. Er stellt sich mitten auf die Straße und ruft mit dem Finger in den Himmel zeigend: "kein Problem!" Dabei kreist eine Luftbodenmaschine über ihm, die das daneben liegende Rebellenhauptquartier von Aleppo im Visier hat.
Jeden Augenblick kann sie zum Tiefflug ansetzen und losfeuern. Diesmal geht noch alles gut. Abulabed lächelt: "Gott ist auf unserer Seite." Am nächsten Tag hat ihn Allah jedoch verlassen. Abulabed wird erschossen.
Auf der türkischen Seite der Grenze gibt es Gerüchte, dass schwere und moderne Waffen eingetroffen seien. "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie in Syrien eingesetzt werden", versicherte Abu Zaid, ein Oppositionsaktivist in Antakya.
Das als römische Stadt der Antike bekannte Antiochia ist eine Basis der FSA. Von hier aus wird der Nachschub an Munition und Kämpfern nach Aleppo organisiert, Verwundete in geheim gehaltenen Krankenhäusern behandelt oder Urlaub vom Krieg gemacht. Die Türkei lässt der FSA völlig freie Hand und ihr Geheimdienst hilft sogar bei Waffenlieferungen über die Grenze.
Saudische Schützenhilfe
In Adana wurde eine Kommandozentrale eingerichtet – in Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien und Qatar. Beide Golfstaaten sind die Hauptsponsoren der Rebellen. Sie unterstützen sie finanziell und mit Waffenlieferungen. Davon geht nicht alles an die FSA.
"Die Saudis geben am liebsten ihr Geld an die Muslimbruderschaft", meint ein Rebell, der unerkannt bleiben will, da er mit der Aufgabe der Akquirierung von Waffen und Finanzmittel betraut ist. "Und die Muslimbrüder beteiligen sich gar nicht am Kampf gegen Assad." Sie hätten Schläfer-Bataillone, die sie erst einsetzten, wenn die Revolution vorbei sei. "Dann werden sie uns, die FSA bekämpfen."
Die Region Antakya ist Ziel von Tausenden neuen Flüchtlingen aus Aleppo. In den ersten zwei Wochen nach der Besetzung durch die Rebellen hatte kaum jemand die Stadt verlassen. Seit aber die Regimetruppen ihre Offensive verstärkten, wird an allen Orten gepackt. Familien versuchen, ihr Hab und Gut auf den Ladeflächen von Kleinlastern unterzubringen. Lampen, Möbel, Teppiche, Geschirr, Matratzen und sogar die Gasflaschen vom Herd aus der Küche.
Wer keinen fahrbaren Untersatz hat, schleppt schwere Taschen mit sich herum. Voll bepackt der Vater, die Mutter mit einem Baby auf dem Arm und ein Kind an der Hand. Auf der Suche nach einem Bustaxi, das sie möglichst schnell von hier wegbringt.
Im Windschatten des Krieges
Die Bewohner Aleppos hatten seit Beginn des bereits seit 17 Monate andauernden Bürgerkriegs weitgehend ein normales Leben führen können. Es gab nur wenige und kleine Protestdemonstrationen. Die Industriemetropole galt als Bastion des Regimes in Damaskus.
Doch mit dem Frieden war es abrupt vorbei, als die FSA einmarschierte. Lebensmittel wurden knapp und verteuerten sich um das Fünffache. Für Brot muss man heute stundelang anstehen, Elektrizität fällt immer wieder aus und Benzin ist nur mehr auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen zu bekommen. Viele Menschen sind verärgert über die FSA und den Krieg, den sie nach Aleppo brachten. "Natürlich will ich Freiheit, aber nicht auf diese Art und Weise", erklärt ein älterer Geschäftsbesitzer. Er ist einer der wenigen, der dieser Tage noch seinen Laden aufgesperrt hat.
Mit der Ruhepause ist es in Aleppo schlagartig vorbei. In Salaheddine kommt es erneut zu schweren Gefechten. Die syrische Armee beschießt mit schwerer Artillerie den angrenzenden Stadtteil von Saif al-Dawla und die westlich davon gelegenen Viertel von Bustan al-Qasr and Al-Masharaqa.
"Die Armee versucht uns mit allen Mitteln aus diesem Teil von Aleppo zu vertreiben", meint Abu Ali, der verletzte Kommandant aus Azaz. Man merkt ihm an, dass er nicht lange zu Hause bleiben wird. Bald steht er mit seinen Krücken wieder in Salaheddine und gibt über Funk Anweisungen an die Kämpfer seines Bataillons.
Peter Steinbach
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de