Die Stunde Null in Syrien
„Die Ewigkeit ist vorbei“, schieb der syrische Intellektuelle Yassin al-Haj Saleh am Samstag, den 7. Dezember 2024, auf X, verbunden mit einer Nachricht an seine vor elf Jahren verschwundene und wahrscheinlich von Islamisten getötete Frau: „Ich wünschte, du könntest dabei sein.“
16 Jahre hatte Saleh als junger Mann in syrischen Foltergefängnissen verbracht – „lebendig begraben ohne lebendig zu sein“, wie er sagt. Jetzt schaute er von Berlin aus zu, wie ein Gefängnis nach dem anderen von den vorrückenden Islamisten befreit wurde und Tausende Verschwundene und Totgesagte ungläubig ins Leben zurückkehrten.
„Assad bis in alle Ewigkeit“ war das Glaubensbekenntnis syrischer Regimeanhänger; die Ewigkeit dauerte 54 Jahre. 1970 hatte Hafiz al-Assad, der Vater des jetzt gestürzten Präsidenten Bashar al-Assad, die Macht an sich gerissen. Er machte aus der von Instabilität und Militärputschen geplagten jungen Republik Syrien ein sozialistisches Einparteienregime und einen hochkorrupten Polizeistaat – das „Königreich des Schweigens“, wie ein syrischer Dichter es einst beschrieb.
Dass dieses für die Ewigkeit errichtete Regime innerhalb von nur zehn Tagen in sich zusammenbrechen würde, damit hatte niemand gerechnet – nicht einmal die Kämpfer selbst. Militante Islamisten von Hayat Tahrir al-Sham hatten ihren Vormarsch im Nordwesten des Landes am 27. November begonnen. Ziel war es, die Luftangriffe Assads und Russlands auf Idlib zu stoppen. Als sie auf kaum Gegenwehr stießen, marschierten sie weiter, eroberten Aleppo, Hama und Homs.
Ihr Siegeszug ermutigte andere. Rebellengruppen in der südlichen Provinz Daraa formierten sich neu und rückten von Süden auf die Hauptstadt Damaskus vor; drusische Milizen in Sweida vertrieben das Regime aus dem Südosten. In der östlichen Provinz Deir al-Zor eroberten die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) einen entscheidenden Grenzübergang zum Irak. Dadurch waren die Nachschubwege für schiitische Kämpfer und Waffen aus dem Iran und Irak abgeschnitten.
Weder Russland noch die Islamische Republik Iran waren bereit und in der Lage, Assad ein weiteres Mal zu retten – Russland beschäftigt mit dem Krieg in der Ukraine, Iran und Hisbollah geschwächt von der Auseinandersetzung mit Israel. Und wie sollten sie auch ein Regime an der Macht halten, dessen eigene Leute nicht bereit waren, es zu verteidigen?
Darf man sich jetzt freuen?
So endete die Herrschaft der Assads in der Nacht auf Sonntag, den 8. Dezember 2024, und Millionen Syrerinnen und Syrer – innerhalb des Landes, in den Nachbarstaaten und weltweit – stürzten in ein Wechselbad der Gefühle. In die Begeisterung, Dankbarkeit und Freude über den Sturz des verhassten Regimes mischten sich Sorgen um die Zukunft und Angst vor Chaos oder einer weiteren, womöglich islamistischen Diktatur.
Darf man sich freuen, wenn Islamisten Assad-Statuen stürzen? Oder muss man in Solidarität mit den Minderheiten des Landes – Christen, Kurden, Drusen, Ismaeliten und Schiiten – eine Übernahme durch Extremisten fürchten?
Soll man der Türkei für die Waffen danken, mit deren Hilfe das Regime gestürzt wurde? Oder muss man Präsident Erdoğan und seine Söldner für die Angriffe auf kurdische Kämpfer und Zivilisten verurteilen?
Und sind diese kurdischen Kämpfer der SDF nun Partner des Westens im Kampf gegen den IS und Vorreiter eines demokratischen föderalen Syriens oder waren sie doch heimliche Verbündete des Regimes, weil sie sich mit Assad seit 2011 arrangiert hatten?
Fragen wie diese spalten – bei allem gemeinsamen Jubel – die syrische Gesellschaft innerhalb des Landes und im Exil. Und sie überfordern viele westliche Beobachter, die sich dann mit den üblichen Floskeln von Chaos und Bürgerkrieg, Dschihadisten und Gottesstaat in pauschale Freund-Feind-Schemata retten. Syrien lässt sich jedoch nur verstehen, wenn man dieses Entweder-oder überwindet, das viel mit ideologischer Vereinfachung und wenig mit der komplexen Realität vor Ort zu tun hat. Statt schnelle und einseitige Schlüsse zu ziehen, gilt es, Mehrdeutigkeit auszuhalten.
Wenn etwa Menschen in Idlib den Tod von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bejubeln, tun sie das, weil sie jahrelang unter den Hisbollah-Kämpfern an Assads Seite gelitten haben, und nicht, weil sie Israels Militärkampagnen in Gaza und im Libanon gutheißen. Schließlich besetzt Israel bis heute nicht nur palästinensisches Land, sondern auch den syrischen Golan.
Man kann als Syrer also gleichzeitig gegen Israel und gegen die Islamische Republik Iran sein, man kann Palästinenser und Libanesen unterstützen und trotzdem die Hisbollah ablehnen. Ähnlich ist es mit Russland: Wer neun Jahre lang von russischen Kampfjets bombardiert wurde, solidarisiert sich selbstverständlich mit den Menschen in der Ukraine.
Die HTS-Kämpfer sind militante Islamisten, aber keine Dschihadisten mit internationaler Agenda. Sie kämpfen nicht für ein weltweites Kalifat, sondern wollten das Assad-Regime stürzen und in Syrien eine, wie auch immer geartete, islamistische Ordnung errichten. Die Türkei hat mehr als vier Millionen Syrerinnen und Syrer aufgenommen und unterstützt die syrische Exilopposition, deren Interimsregierung vor Jahren mal ein Hoffnungsträger des Westens war, aber kaum Legitimität im Land hat.
Gleichzeitig hat Erdoğan dazu beigetragen, dass Teile der einst gefeierten Freien Syrischen Armee – gegründet im Sommer 2011 von Deserteuren, die Demonstrationen schützen statt beschießen wollten – zu undisziplinierten SNA-Söldnerbanden wurden, die kurdische Frauen verschleppen, töten und schänden. Deshalb löste zuletzt selbst die grün-weiß-schwarze Fahne, die jetzt überall weht, widerstreitende Gefühle aus. Ist sie noch die Flagge einer Revolution für Freiheit und Würde oder nur noch Symbol der von Erdogan gesteuerten islamistisch oder nationalistisch denkenden Regimegegner?
Wer diese Hintergründe kennt, kann besser durch die aktuellen Ereignisse navigieren. Niedergerissene Statuen und Poster Assads lösen Begeisterung und Genugtuung aus, zugleich wecken bärtige Islamisten auf Pickups böse Erinnerungen an die Herrschaft des IS. Während Vertriebene aus Idlib in ihre Heimatorte zurückkehren – Selfies vor der Zitadelle in Aleppo, in der Ummayaden-Moschee in Damaskus oder neben dem Uhrenturm in Homs machen – und dort nach acht Jahren Exil ihre Angehörigen in die Arme schließen, fliehen andere aus Angst vor den Islamisten an die Küste.
Und während längst totgesagte politische Gefangene aus Assads Foltergefängnissen freikommen, packen Kurden im nördlich von Aleppo gelegenen Shahba ihr Hab und Gut und flüchten zu Zehntausenden vor den Söldnern Erdoğans in den Nordosten. Das Glück der einen ist das Leid der anderen, so scheint es. Die bange Frage lautet deshalb: Wird der Neuanfang so geordnet, versöhnlich und unblutig weitergehen wie das Assad-Regime endete?
Die Weihnachtsbäume sind stehengeblieben
Die HTS-Islamisten bemühen sich um Verständigung mit allen Gesellschaftsgruppen, ihr Chef Ahmed al-Sharaa alias Abu Mohammed al-Jolani sendet fast täglich versöhnliche Botschaften. Er fordert seine Kämpfer auf, staatliche Einrichtungen zu schützen und Zivilisten gut zu behandeln. Wo auch immer diese einrücken, befreien sie als erstes die Gefangenen aus den Kerkern des Regimes, verteilen Brot, kümmern sich um Strom- und Wasserversorgung.
Der einstige al-Qaida-Anführer arbeitet seit Jahren an einem Imagewandel, tauschte Turban gegen Anzug und gibt sich gemäßigt, um international als Ansprechpartner anerkannt zu werden. 2013 brach er mit dem IS, 2016 mit al-Qaida, seit 2017 regiert er mit seiner „Heilsregierung“ Teile der Provinz Idlib.
Der Ministerpräsident dieser Heilsregierung, Mohammed al-Bashir, übernahm jetzt die Amtsgeschäfte in Damaskus. HTS hat also auf lokaler Ebene jahrelange Regierungserfahrung, ihre Herrschaft in Idlib gilt als autoritär, aber effektiv. Kritiker würden verfolgt, verhaftet und misshandelt, sagen Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen in Idlib, aber die öffentliche Verwaltung funktioniere. Experten der International Crisis Group, einer NGO im Bereich der Konfliktbearbeitung, forderten deshalb schon länger einen pragmatischeren Umgang mit HTS.
Jetzt tourt al-Jolani, auf den die USA 10 Millionen Dollar Kopfgeld ausgesetzt haben, im Selenski-Look durch das Land – schlichte dunkelgrüne Uniform, kurze Haare, Vollbart. Er spricht von einem „vereinten Syrien“ all seiner Bewohner, versichert den Minderheiten, sie hätten nichts zu befürchten, fordert die Alawiten auf, an einem „Syrien ohne Konfessionalismus“ zu arbeiten. Den Nachbarländern und ausländischen Unterstützern Assads bietet al-Jolani ebenfalls Zusammenarbeit und freundschaftliche Beziehungen an, er steht mit vielen Akteuren innerhalb und außerhalb Syriens in direktem Kontakt und scheint erfolgreich Vertrauen aufzubauen.
Ausgerechnet HTS, ein Bündnis radikaler Islamisten, einst hervorgegangen aus einem al-Qaida-Ableger und deshalb von weiten Teilen der Welt als Terrororganisation eingestuft, schickt sich an, die Syrer zu einen. Kann das funktionieren?
Die ersten Anzeichen sind ermutigend. In Aleppo ist die Lage zwei Wochen nach Beginn der Offensive ruhig. Keine Massaker oder Plünderungen, stattdessen angespannte Normalität. Die Weihnachtsbäume in den christlichen Vierteln sind stehengeblieben, Gottesdienste finden statt, der Strom fließt jetzt länger als zwei Stunden pro Tag, berichten Bewohner. Die Kurden Aleppos wurden von HTS ermutigt zu bleiben, Einheiten der SDF, die zu ihrem Schutz eingerückt waren, konnten die Stadt verlassen.
Gegenüber CNN sprach al-Jolani vom Aufbau neuer Institutionen, die alle Gesellschaftsgruppen abbilden sollten. Es gehe nicht um Personen, sondern staatliche Strukturen. Will er das alte Terrorimage abschütteln, national und international Unterstützung mobilisieren und dann am Ende doch eine radikalislamische Ordnung ähnlich dem Taliban-Regime in Afghanistan errichten? Oder meint der 42-Jährige, was er sagt, und entwickelt sich zu einem muslimischen Che Guevara, der die seit 2011 unvollendete syrische Revolution zum Erfolg führt? Skepsis ist angebracht.
Zunächst müsste HTS die eigenen Verbündeten disziplinieren – Brigaden der von der Türkei finanzierten „Syrischen Nationalen Armee“ (SNA), die in der Provinz Aleppo die kurdischen Kräfte der SDF bekämpfen. Zehntausende Menschen – überwiegend Kurden, aber auch Jesiden und Christen, die im Zuge des türkischen Einmarsches 2018 aus Afrin vertrieben wurden – fliehen jetzt in das Gebiet der Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyrien (DAANES). Diese bittet um internationale Hilfe. SNA-Söldner sollen kurdische Kämpferinnen verschleppen, plündern und Zivilisten vertreiben. Einzelne SNA-Kommandeure seien bereits von HTS verhaftet worden, berichten lokale Quellen.
Allerdings braucht HTS die Türkei für den Nachschub an Waffen, sie muss Erdoğans Interessen deshalb berücksichtigen. Für die Türkei hat der Sturz Assads Grundlegendes geändert. Die beiden wichtigsten Interessen Ankaras – eine Rückführung syrischer Geflüchteter und die Schwächung kurdischer Autonomie – könnten sich von selbst erfüllen. Viele der mehr als vier Millionen syrischen Geflüchteten werden freiwillig in ein befreites Syrien zurückkehren, sobald die Lage stabil ist. Und sollte die kurdisch geführte Selbstverwaltung in einem föderalen Syrien aufgehen und sich von der Dominanz der syrischen PKK-Schwester Partei der demokratischen Union (PYD) befreien, wäre das ein wichtiges Signal an die Türkei.
„Aleppo zeigt, wie schwach Assad ohne Verbündete ist“
Elham Ahmed, Außenbeauftragte von Nordostsyrien, sorgt sich nach der Eroberung Aleppos um die pluralistische Identität der Stadt. Im Qantara-Interview skizziert sie ihre Vision eines dezentralisierten Syriens und äußert sich zu deutschen Debatten über die Abschiebung krimineller Geflüchteter.
HTS könnte Erdoğan davon überzeugen, dass die Türkei von den kurdisch geführten SDF nichts zu befürchten hat. HTS bemüht sich – anders als die Islamisten der SNA – seit längerem um Verständigung mit den Kurden. Die beiden Anführer, HTS-Chef al-Jolani und SDF-Kommandeur Mazlum Abdi, stehen in Kontakt und arbeiten an pragmatischen Lösungen vor Ort.
So konnten etwa die kurdischen Bewohner Aleppos nach Verhandlungen überzeugt werden, zu bleiben. Sollte sich aus dieser ersten Koordination eine tragfähige Kooperation zwischen den beiden mächtigsten bewaffneten Akteuren – islamistischer HTS und kurdisch geführter SDF – entwickeln, würde das entscheidend zur Stabilisierung des Landes beitragen.
Kann HTS zwischen Erdoğan und den Kurden vermitteln?
Auch die USA und Europa sollten Erdoğan zu einem Umdenken ermutigen. Statt Gebiete in Syrien zu besetzen und von kriminellen Söldnerbanden beschützen zu lassen, könnte er sich für einen Wiederaufbau in Syrien einsetzen, damit an der Südgrenze der Türkei ein florierender Wirtschaftspartner entsteht und kein gescheiterter Staat.
Sollte HTS Erdoğan nicht überzeugen können, hoffen manche auf ein Machtwort des künftigen US-Präsidenten. Donald Trump möchte die 900 in Nordostsyrien stationierten US-Soldaten nach Hause holen und sich nicht weiter engagieren – eine schlechte Nachricht für den Kampf gegen den IS, der im Osten des Landes erstarkt und versuchen wird, jedes Machtvakuum für sich zu nutzen. Bereits während seiner ersten Amtszeit zog Trump Truppen aus Syrien ab und ermöglichte der Türkei damit im Oktober 2019 die Eroberung eines Grenzstreifens östlich des Euphrats zwischen Tal Abyad (Girê Spî) und Ras al-Ain (Serê Kaniyê).
Kann die künftige amerikanische Regierung zwischen der Türkei und den syrischen Kurden vermitteln? Wird es Trump gelingen, Erdoğan und die SDF an den Verhandlungstisch holen?
Vieles hängt von der Flexibilität und dem Pragmatismus Erdoğans ab. Eigentlich hatte der türkische Präsident zuletzt vorgehabt, sich mit Assad auszusöhnen und mit ihm gemeinsam das kurdische Autonomieprojekt in Nordostsyrien zu beenden. Doch für eine Normalisierung der syrisch-türkischen Beziehungen bestand Assad auf einem Abzug der Türkei aus den besetzten Gebieten, was Ankara ablehnte. Jetzt birgt der Neubeginn in Syrien auch die Chance für die Türkei, ihre Haltung zu überdenken, die Gelegenheit für eine türkisch-kurdische Annäherung ist so günstig wie nie.
Mit dem Einverständnis Erdoğans könnte sich die syrische Exilopposition in der Türkei mit der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien aussöhnen. Dieser Schulterschluss der Assad-Gegner ist der Schlüssel für eine positive Entwicklung in Syrien. Denn nur wenn Araber und Kurden zusammenarbeiten, kann eine bessere Alternative entstehen – demokratisch, föderal und unter Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen. Die allermeisten Syrerinnen und Syrer wünschen sich jetzt ein solches Szenario – sie sind die „Guten“, die wir nicht mehr sehen.
Dieser Text ist in einer früheren Version am 7. Dezember auf Zeit Online erschienen. Aktualisierung für Qantara.de durch die Autorin.
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