Die verborgenen Opfer des Krieges
Basil steht unschlüssig an der Bordsteinkante. "Ich habe Angst", sagt er, aber dann traut er sich doch. Auf dem Weg zur orthopädischen Werkstatt muss er einen Bordstein überwinden, fast 30 cm hoch. Er will es unbedingt schaffen. Vorsichtig stützt er sich mit dem gesunden rechten Arm auf seine Krücke und schwingt die linke Hüfte leicht nach vorne. Flüchtlingskind Basil und Physiotherapeutin Rasha Qasim stützt seinen Armstumpf und ermutigt ihn. Es gelingt und Basil strahlt.
Basil al-Riyabi ist zehn Jahre alt, er hat zwei unterhalb des Oberschenkels amputierte Beine und seine linke Hand fehlt. Folge eines Angriffs der syrischen Luftwaffe mit Fassbomben auf sein Heimatdorf im Südosten Syriens vor zwei Jahren. Auch im Gesicht und am Oberkörper haben Bombensplitter Spuren hinterlassen. In seinem neuen Leben in Jordanien muss Basil erst noch lernen, mit einer Prothese zu laufen.
Etwa 600.000 syrische Flüchtlinge sind inzwischen offiziell beim UNHCR in Jordanien registriert, zusammen mit den nichtregistrierten sollen es rund 1,5 Millionen sein - bei sechs Millionen Einwohnern. Etwa ein Drittel der Flüchtlinge leidet an einer Behinderung, Kriegsverletzung oder chronischen Erkrankung, das hat eine Studie der Hilfsorganisationen Help Age und Handicap International aus dem Jahr 2014 ergeben.
Kaum Hilfe von den Vereinten Nationen
Offiziell registrierte Flüchtlinge erhalten eine geringe Unterstützung durch die Vereinten Nationen, zusätzliche Mittel für Familien mit behinderten Kindern gibt es jedoch nicht. Die Lebensmittelzuschüsse für syrische Flüchtlinge sind seit Anfang 2015 um bis zur Hälfte zurückgegangen. Es fehlen der UNO die Zusagen der internationalen Geldgeber, um das bisherige Niveau der Versorgung aufrecht zu erhalten. Die Unterstützung der Vereinten Nationen reicht noch nicht einmal für das Existenzminimum, geschweige denn für besondere Härtefälle.
Es sind Nichtregierungsorganisationen wie die Al-Hussein-Society, die sich um die Flüchtlinge mit Behinderung kümmern. Die größte Behindertenorganisation des Landes, 1971 gegründet, betreibt in Amman eine Förderschule für etwa 90 Kinder bis zehn Jahre mit unterschiedlichen Behinderungen.
Basil ist eines von zehn syrischen Flüchtlingskindern, die die Schule besuchen. Er wurde in die erste Klasse eingestuft, weil er nach jahrelangem Unterrichtsausfall in Syrien fast alles vergessen hatte. Nach kurzer Zeit wurde er Klassenbester und gibt jetzt den Klassenclown. Viele Kinder können nach der vierten Klasse auf eine staatliche Schule wechseln. Schulgeld zahlt hier kaum jemand, denn für Kinder aus sozial schwachen Familien, egal ob Jordanier oder Flüchtling, ist der Schulbesuch kostenlos. In Bussen werden die Kinder morgens im gesamten Großraum Amman abgeholt und am Nachmittag wieder in ihre Familien gebracht.
Die Narben des Krieges
Als Basil es bis in die orthopädische Werkstatt geschafft hat, schaut sich Dave Evans, ein US-Amerikaner und Fachmann für Rehabilitation, seine Prothesen gründlich an. Regelmäßige Kontrollen sind notwendig, damit sich kein Gewebe entzündet. Die Prothesen müssen genau passen und immer wieder neu an das Wachstum der Knochen angepasst werden. "Für diesen Jungen wird der Krieg in Syrien nie zu Ende sein", sagt Evans. Aber mit seinem starken Lebenswillen könne er durchaus mit der Zeit ein selbstständiges Leben führen.
Im Moment wird er noch jeden Tag von Helfern getragen, wenn es Treppen und größere Hürden zu überwinden gilt. Die private Hilfsorganisation Syrians across the borders hat ihn in einem ihrer Wohnheime aufgenommen. Dort teilt er sich mit zwei anderen minderjährigen Jungs ein Zimmer. Im obersten Stock des Wohnheims steht auch der Tischkicker, den er über alles liebt. Fußball in jeder Form ist Basils große Leidenschaft. Obwohl er das blau-weiß gestreifte Trikot des argentinischen Fussballhelden Lionel Messi trägt, legt er großen Wert darauf, Real Madrid-Anhänger zu sein. Dass er schwer traumatisiert ist, merkt man ihm nicht an.
Psychologin Salwa Jarah erzählt die ganze Geschichte. Als Basil vor etwa anderthalb Jahren zur Al-Hussein-Society kam, war er schüchtern und aggressiv zugleich. Er schrie ständig und überzog jeden, der sich näherte, mit Schimpfwörtern. Kein Wunder bei dem, was er erlebt hat. Direkt nach dem Luftangriff wurde er im Krankenwagen über die Grenze nach Jordanien gefahren und in Zaatari, einem großen Flüchtlingscamp in der Nähe der syrischen Grenze, operiert. Nur deshalb hat er überlebt. Sein Vater und Bruder kamen ums Leben, das Schicksal seiner Mutter war zunächst ungewiss. Erst in diesem Jahr konnte er wieder Kontakt mit ihr aufnehmen.
Neuer Lebensmut
Nach der lebensrettenden Amputation kam Basil zunächst zu einer Verwandten in der Grenzstadt Ramtha. Diese jedoch missbrauchte ihn zum Betteln in den Straßen der Stadt. Sie stellte Fotos von ihm auf Facebook ein, um mitleidigen Seelen Geld aus der Tasche zu ziehen, auch das gehört zum Schicksal kriegsversehrter Kinder. Nach einer Weile überließ sie den Jungen einfach sich selbst. Helfer der Al-Hussein-Society nahmen ihn auf. Durch die Gespräche mit der Psychologin und einem stabilen Umfeld konnte Basil neuen Lebensmut finden.
Die Al-Hussein-Society finanziert sich aus Mitteln privater Spender, einem geringfügigen Beitrag vom jordanischen Staat und durch internationale Geldgeber. Seit Beginn der Syrienkrise fließen mehr internationale Gelder. Mit Unterstützung der Christoffel-Blindenmission aus Deutschland können Rollstühle, Prothesen und Gehhilfen aus der Werkstatt in Amman im ganzen Land kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Gesundheitsstationen wurden barrierefrei ausgerüstet, damit Behinderte leichteren Zugang haben.
Gesellschaftliche Inklusion fördern
Davon profitieren immer auch die einheimischen Jordanier. Aber die Organisation will nicht nur therapeutische Hilfe bieten, sie will auch die Inklusion in der Gesellschaft voranbringen. Durch die vielen Flüchtlinge sind Kriegsverletzungen heute in Jordanien viel präsenter. Menschen im Rollstuhl oder mit Gehhilfen sind im Straßenbild nicht ungewöhnlich. Das hilft, Vorurteile abzubauen und Behinderung wird für die Gesellschaft selbstverständlicher.
Das ist für die Familien mit behinderten Kindern sehr wichtig, die unter einer ablehnenden Haltung in der Öffentlichkeit leiden. Doaa Wyss, 24 Jahre alt, stammt aus Aleppo. Sie ist mit ihrem Mann, zwei Töchtern und dem inzwischen sechsjährigen Faisal 2013 nach Jordanien geflüchtet, weil die Gesundheitsversorgung in Syrien weitgehend zusammengebrochen ist.
Faisal leidet seit seiner Geburt an den Folgen eines offenen Rückens und braucht intensive Betreuung. Der aufgeweckte Junge geht in die erste Klasse der Förderschule, er malt gerne und ist gut im Rechnen, aber er kann nicht selbstständig laufen und braucht eine spezielle Gehhilfe sowie ständige physiotherapeutische Behandlung.
Nie im Leben könnte Wyss diese Behandlungen bezahlen. Ihr Mann hat zwar als Mechaniker in Zarqa Arbeit gefunden, trotzdem reicht es hinten und vorne nicht für die fünfköpfige Familie. In der Al-Hussein-Society trainiert eine Physiotherapeutin jede Woche mit dem Jungen die Beweglichkeit seiner Beine. Die Mutter wurde so geschult, dass sie auch Zuhause mit ihm üben kann.
Doaa Wys kann sich nicht vorstellen, jemals nach Syrien zurückzukehren. Dort könnte Faisal gar nicht behandelt werden. In Jordanien sei auch die Akzeptanz wesentlich höher. "In Syrien musste ich mir manches über Faisal anhören", sagt sie. "Hier gibt es weniger Vorurteile und die Nachbarn lieben ihn". So ist die Hilfe für Flüchtlingskinder wie Basil und Faisal nicht nur eine große Herausforderung für Jordanien. Sie birgt auch die Chance auf mehr Anerkennung von Menschen mit Behinderung.
Claudia Mende
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