Die Narben der Flüchtlingskinder
"Wenn ein Flugzeug über den Himmel fliegt, erschrickt mein Sohn. Wenn er Trümmer im Fernsehen sieht, weint er und umklammert seine Mutter. Er weint häufig." Tränen treten jetzt auch Mohamad in die Augen. Vor acht Monaten sind der 47-jährige Ingenieur und seine Familie vor dem Krieg aus Syrien geflüchtet. Die Gräuel, die sie dort erlebt haben, kann er kaum in Worte fassen. Zu brutal sind sie, selbst für einen gestandenen Mann wie ihn.
Über zwei Millionen Menschen sind laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR inzwischen vor dem syrischen Bürgerkrieg ins Ausland geflüchtet. Mehr als die Hälfte davon sind Kinder. Sie alle sind zwar vor dem Krieg geflohen - entkommen sind sie ihm aber nicht.
Blutige Kinderzeichnungen
Wer zum Beispiel in eine Schule für syrische Flüchtlingskinder geht, sieht Zeichnungen von Tod und Not: Frauen, die um ihre Männer weinen, Panzer und Armeehubschrauber, die hilflose Menschen erschießen. Stapel von Papier, getränkt in Schwarz und Blutrot.
2012 baten Wissenschaftler aus der Türkei, den USA und Norwegen Kinder in einem Flüchtlingscamp darum, einen Menschen zu malen. Einige der Kinder fügten eigenständig Blut, Tränen oder Waffen zu ihren Bildern hinzu. "Die syrischen Kinder wachsen mit einem Gefühl von Misstrauen, Betrug und Angst auf", schreiben die Autoren der Studie, Serap Özer und Selcuk Sirin, in der New York Times.
Im Treppenhaus des Bildungs- und Begegnungszentrums Kirikhan (BBZ) ist von Blut und Tränen allerdings keine Spur. Von Kinderhand gemalte Bilder zeigen Frauen mit Kopftuch, Männer mit Krawatte, viele lächelnd, alle bunt eingerahmt. Mohamads Kinder besuchen hier Malkurse. Dabei landet die Farbe nicht immer nur auf Papier, sondern auch auf der Mauer des Zentrums - oder gleich im Gesicht: Glücklich trägt ein kleines Mädchen zwei Herzen auf den Wangen, ein kleiner Junge hat die syrische Flagge quer über Stirn, Nase und Mund gemalt.
Kinder können stärker sein
Petek Akman kümmert sich um die psychologische Betreuung im BBZ. Zuvor hat sie sechs Jahre lang für die türkische Hilfsorganisation Roter Halbmond gearbeitet, auch in Flüchtlingscamps. Ereignisse wie ein Krieg seien höchst traumatisch, vor allem, wenn die Kinder das Gefühl der Sicherheit verlieren: "Sie hören die Bomben, sehen, wie ihr Haus einstürzt und wie Menschen sterben. Und oft sagen sie dann: Meine Eltern können mich auch nicht beschützen."
"Aber", fährt Akman fort: "Kinder sind widerstandsfähig. Oft sind sie sogar zäher als Erwachsene." Kinder könnten leichter wieder in ihr normales Leben zurückkehren, weil ihnen die Folgen des Krieges nicht so sehr bewusst sind. "Kinder sind offen für Veränderung." Besonders wichtig sei dabei allerdings der Rückhalt durch die Familie.
Auch deshalb geht es im BBZ eigentlich vor allem um die Erwachsenen: Für sie gibt es berufliche Weiterbildungen und Sprachkurse. Mohamad etwa lernt einmal die Woche Türkisch und Englisch. Hinzu kommen Fußballturniere, Theaterkurse oder gemeinsame Teepausen, während die Kinder ein Stockwerk höher über bunte Gummimatten toben.
Ein Ort zum Sein
"Die Leute können hier etwas lernen, das ihnen vielleicht in der Zukunft hilft. Und sie können ein Stück weit vergessen, was sie erlebt haben", sagt Erdem Vardar, Vertreter des Deutschen Volkshochschulverbandes (DVV International) in der Türkei. Gemeinsam mit anderen lokalen Nichtregierungsorganisationen betreibt der DVV International das Zentrum.
Mehr als 200 Menschen haben sich inzwischen für die Kurse registriert, dabei wurde das BBZ erst Mitte August eröffnet. Bis Ende des Jahres läuft die Finanzierung durch das deutsche Bundesentwicklungsministerium und die Diakonie Katastrophenhilfe. "Bildung und psychologische Beratung brauchen aber viel länger als vier oder fünf Monate, um eine Bedeutung zu haben", sagt Vardar. In der Umgebung gebe es viele Hilfsorganisationen, die Essen, Medizin oder Obdach bieten würden. "Aber die Leute brauchen auch einen Ort, an dem sie ankommen und miteinander reden können."
Ein Ort zum Sein, selbst wenn er fern der Heimat liegt. Beherzt tupft sich Mohamad die Tränen weg. "Ich habe gelernt, meinen Sohn und die Mädchen zu beruhigen, indem ich sie häufig umarme und selbst ruhig bleibe", sagt er und lächelt. Lächeln bringt Erleichterung, macht das Erlebte weniger real. "Einige meiner Nachbarn sind zusammengebrochen und die Kinder wurden hysterisch vor lauter Angst." Mohamad aber will stark sein. Für seinen Sohn, seine Töchter - und auch für sich selbst.
Monika Griebeler
© Deutsche Welle 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de