Das Ende der Türkischen Republik, wie wir sie kennen
Etwas ist grundlegend falsch an der journalistischen Aufarbeitung des Doppelanschlags auf eine Friedenskundgebung in Ankara – des verheerendsten Terrorangriffs auf türkischem Boden mit mehr als einhundert Toten (nach inoffiziellen Angaben der "Demokratischen Partei der Völker" (HDP)) und mehreren Hundert Verletzten. Es war ein Anschlag, der das Land desorientiert zurücklässt. Als ginge es um einen Kriminalroman, stellen die meisten Kommentatoren die Frage nach dem Täter und folgen damit getreu den Grundregeln des Genres, die sensationshungrigen Leser unter Spannung zu halten – bleibt doch der Täter nach den ersten Emittlungen meist lange im Dunkeln.
Dies ist auch das Manko des ansonsten aufschlussreichen Kommentars von Simon Tisdall zu den Anschlägen in Ankara in der britischen Tageszeitung The Guardian, wo er auf den "Islamischen Staat", die ultranationalen Grauen Wölfe oder sonstige rechte Gruppen im Sicherheitsapparat der Türkei als mutmaßliche Täter verweist. Wie es der Übergangsministerpräsident Ahmet Davutoğlu getan hat, könnte man auch die PKK und die marxistisch-leninistische Untergrundorganisation DHKP-C auf diese Liste setzen.
Verschwörungstheoretiker dürften zudem ausländische Geheimdienste auf ihrer Rechnung haben. Doch die Frage nach dem Täter ist redundant, wenn nicht gar fadenscheinig, wenn man den näheren und weiteren Kontext der Bombenattentate betrachtet.
Keine Sicherheitsdefizite…nirgendwo
Spielt es denn wirklich eine Rolle, ob der Butler oder der Gärtner der Mörder ist, wenn sich jemand einfach unter eine Kundgebung mischen kann, die im Zentrum der Hauptstadt und nur wenige Kilometer entfernt von der Zentrale des Nationalen Nachrichtendienstes stattfindet? Jemand, der unentdeckt bleibt und sich dann selbst in die Luft sprengt.
Wenn die Bereitschaftspolizei "nach" den Explosionen am Tatort eintrifft, nur um die Menschen, die sich um die Verletzten kümmern, mit Wasserwerfern und Reizgas zu vertreiben und das Eintreffen der Rettungsfahrzeuge fast eine halbe Stunde lang zu blockieren?
Wenn das Gesundheitsministerium Meldungen über Blutknappheit dementiert, während gleichzeitig die sozialen Medien mit Aufrufen der Überlebenden, der Verwandten der Verletzten und des Rettungspersonals überschwemmt werden, zum Blutspenden in die Krankenhäuser zu kommen? (Nebenbei bemerkt war der türkische Ärzteverband einer der Veranstalter der Friedenskundgebung.)
Wenn der Übergangsinnenminister lächelnd vor laufender Kamera behauptet, es gäbe keine Sicherheitsdefizite?
Wenn die Köpfe der politischen Partei, die das Land seit 13 Jahren im Alleingang führt, und deren angestellte oder freiwillige Trolle in den sozialen Medien sofort die Opposition beschuldigen, insbesondere die HDP – die selbst mehrere ihrer Mitglieder bei den Attentaten verloren hat? Und das, obwohl die Zahl der Opfer zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht beziffert werden konnte!
Wenn dieselbe Regierung bislang unfähig ist, die Urheber der vorherigen Attentate aufzuspüren – also des Terroranschlags auf die Kundgebung der HDP in Diyarbakir im Juni 2015 oder des Massakers in Suruc im Juli 2015?
Wenn ein bekannter Mafiaboss nur einen Tag vor dem Anschlag in Ankara ein Treffen veranstaltete, auf dem er erklärte, man werde das Blut der Terroristen vergießen und es werde "Blut in Störmen fließen"? Anschließend forderte eben dieser Mafiaboss dazu auf, die Regierungspartei und ihren Präsidenten Erdoğan in den anstehenden Parlamentswahlen zu unterstützen.
"Einheit" und "Brüderlichkeit"
Doch anstatt diese rhetorischen Fragen zu stellen, konzentriere ich mich lieber auf das große Ganze und setze bei der Rede von Präsident Erdoğan nach dem Bombenanschlag an. "Ich verurteile diesen abscheulichen Anschlag aufs Schärfste, (der) auf unsere Einheit, Brüderlichkeit und die Zukunft der Gesellschaft abzielt", sagte ein trotziger Erdoğan.
Das Problem mit dieser standardisierten, banalen Verurteilung ist leicht auszumachen, sogar für diejenigen, die mit den Feinheiten der türkischen Politik nicht so vertraut sind. Niemals in ihrer Geschichte war die Türkei so gespalten und polarisiert wie in den letzten Jahren von Erdoğans Regierungszeit.
Wahrheit, Einheit und Brüderlichkeit (sic) sowie der Glaube an eine gemeinsame Zukunft bilden die Fundamente jeder Nation; umso mehr der türkischen Nation, die seit ihrer Gründung im Jahre 1923 durch eine geradezu exzessive Sehnsucht nach Homogenität und Einheit gekennzeichnet ist.
Es ist kein Zufall, dass die Präambel der geltenden Verfassung der Türkei mit den Worten beginnt: "Diese Verfassung, die die ewige Existenz des türkischen Vaterlandes und der türkischen Nation sowie die unteilbare Einheit des Großen Türkischen Staates zum Ausdruck bringt...". Zudem wird darin unmissverständlich klargestellt, "dass keinerlei Aktivität gegenüber den türkischen nationalen Interessen, der türkischen Existenz, dem Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums ... geschützt wird" [Hervorhebung durch den Verfasser].
Selbstverständlich entsprach die von den Gründern der Republik angestrebte Einheit nicht der damaligen Wirklichkeit. Im Laufe des 20. Jahrhunderts musste viel Energie aufgebracht und viel Blut vergossen werden, um aus der heterogenen Bevölkerung "Türken" zu machen. Doch die Risse, die durch die Gesellschaft gingen, erweisen sich als hartnäckig. Sie zeigen – und mehren – sich in jeder größeren Krise, die das Land in den 90 Jahren seiner Existenz durchlebt hat.
Die Entscheidungsschlacht
Allerdings waren die Zeiten nicht immer stürmisch. Es gab durchaus Phasen, in denen Hoffnung auf ein friedliches Miteinander in Vielfalt aufkeimte, Ruhepausen, in denen die Zukunft vielversprechender aussah und der Wille zur Demokratie ausgeprägter war.
Zuletzt gab es diese Phase unter der Regierung von Erdoğan selbst, als seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) einen Friedensprozess mit den Kurden einleitete, die sogenannte "demokratische Öffnung". Der Prozess dauerte mehr oder weniger intensiv bis Anfang 2015 an. Die vom Staat eingeführten Reformen waren zugegebenermaßen eher kosmetischer Natur, der Prozess war von oben diktiert, undurchsichtig und abhängig von den Launen der beiden Akteure Erdoğan und Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Führer der PKK. Der Waffenstillstand zwischen den türkischen Streitkräften und der PKK dauerte mehr als zwei Jahre. Viele glaubten, der Prozess sei unabhängig von den (wahren) Intentionen der Akteure unumkehrbar.
Auf lange Sicht ist er das möglicherweise sogar. Dass er es auf kurze Sicht nicht ist, wird durch die Ereignisse belegt, die sich nach Ende des Waffenstillstands im Nachgang zu den Wahlen vom 7. Juni zutrugen.
Es ist nicht nur die Kurdenfrage, über die sich die AKP und ihr unumstrittener Führer Erdoğan entfremdet haben. Die AKP hat jeden Riss, der die Gesellschaft spaltet, weiter vergrößert und die Liberalen, Linken, Ultranationalisten (aller Schattierungen), Aleviten, Säkularisten und sonstigen politischen Islamisten (einschließlich der Gülen-Bewegung, ihres einstigen Verbündeten) gegen sich aufgebracht. Sie stützt sich dabei lediglich auf eine loyale Verfassung, was immer noch ausreicht, ihr eine Mehrheit im Parlament zu sichern.
Doch das Land ist nicht mehr das, das sie im Jahr 2002 übernommen hat. In Anlehnung an einen Text von Pink Floyd könnte man sagen: "Der rostige Draht, der den Korken umspannt und den Ärger zurückhält" (sei es das Militär, gemeinsame Ideale, gemeinsame Symbole oder sonstige Faktoren) ist nicht mehr an seinem Platz. Die Entscheidungsschlacht steht unmittelbar bevor – sofern sie nicht bereits im Gezi-Park, in Suruc oder nun auch in Ankara stattgefunden hat.
Eine Nation in Angst
Das Fazit mag für einige unbequem sein, aber es muss deutlich ausgesprochen werden: Was wir in den letzten beiden Jahren erlebt haben und was in den schrecklichen Szenen vom 10. Oktober in Ankara gipfelte, ist das Ende der Türkischen Republik, wie wir sie kennen. Das bedeutet nicht, dass die territoriale Integrität des Landes auf dem Spiel steht. Doch der Zorn, der die eine Hälfte der Gesellschaft gegen die andere aufbringt, ist zu stark und die Risse, die sich durch verschiedene ethnische, religiöse oder ideologische Gruppen ziehen, sind zu tief, um übertüncht zu werden.
Wie bereits erwähnt, ist die Forderung der Kurden nach vollständiger Anerkennung ihrer eigenen Identität und Rechte, insbesondere im Zusammenhang mit den Entwicklungen im Irak und in Syrien, auf lange Sicht unumkehrbar. Ganz gleich, wie die am 1. November anstehenden Wahlen ausgehen werden (sofern sie stattfinden), die Türkei wird sich auf eine lange und schmerzhafte Entwicklung zu einem "weniger einheitlichen" und weniger zentralisierten System begeben.
Am 10. Oktober bemerkte Simon Tisdall in dem von mir eingangs genannten Artikel: "Unter den Folgen des schlimmsten Terrorangriffs auf ihrem Boden ist die Türkei eine Nation im Schockzustand. Und sie ist auch eine Nation in Angst". Leider liegt Tisdall hier falsch: Im herkömmlichen Sinne ist die Türkei bereits keine Nation mehr.
Umut Ozkirimli
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers