Der Bärendienstleister
Auf seine alten Tage hat sich Günter Grass in das größte Wespennest gesetzt, das die gegenwärtige Weltpolitik zu bieten hat: das iranische Atomprogramm und die israelische Haltung dazu. Nun kochen die Emotionen in den Feuilletons hoch und Grass scheint seinen Ruf als aufklärerischer Schriftsteller endgültig zu verspielen.
Warum tut Günter Grass sich das an? Folgen wir dem von ihm veröffentlichten Text, hat er einfach Angst um den Weltfrieden, genauer, Angst vor einem israelischen Atomschlag gegen den Iran, vor der Auslöschung des iranischen Volkes.
Versuchen wir, ganz sachlich zu bleiben. Tatsächlich behält sich Israel das Recht vor, den Iran anzugreifen, um zu verhindern, dass der Iran Atomwaffen baut. Das sagen die israelischen Politiker selbst – und diese Haltung wird von vielen Kommentatoren innerhalb und außerhalb Israels für unklug gehalten.
Obama selbst hat Israel zur Geduld im Umgang mit dem Iran aufgefordert. Ungewöhnlich ist bei Grass allein die Unterstellung, Israel plane womöglich einen atomaren Erstschlag mit "alles vernichtenden Sprengköpfen". Nun ist zwar viel von einem möglichen Angriffskrieg Israels gegen Iran die Rede, von einem atomaren Erstschlag hingegen selten.
Bezug zur deutsch-israelischen Vergangenheit
Gleichwohl ist Grass zuzugestehen: Auch der atomare Erstschlag wird diskutiert. Der bekannte israelische Historiker Benny Morris schrieb bereits am 17. Juli 2008 in der New York Times: "An Israeli nuclear strike to prevent the Iranians from taking the final steps toward getting the bomb is probable" ("Ein israelischer Nuklearschlag, um die iranische Bombe zu verhindern, ist wahrscheinlich").
Dass die Auslöschung des iranischen Volkes bevorsteht, scheint aber selbst dann als eine Übertreibung. Ein atomarer Erstschlag würde nicht auf die Bevölkerung zielen, sondern auf militärische Einrichtungen. Kein großer Trost für die Opfer, aber doch ein wichtiger und deshalb erwähnenswerter Unterschied.
Was die Gemüter in Deutschland aufbringt, sind jedoch nicht die apokalyptischen Ängste von Grass, sondern seine Bezugnahme auf die deutsch-israelische Vergangenheit und die Frage, welche Lehren daraus zu ziehen seien.
Während Bundeskanzlerin Merkel daraus die Verpflichtung ableitet, "die Sicherheit Israels zu schützen" (Rede am 9.11.2008), bedeutet dies für Grass, Israel davor zu bewahren, seinerseits einen Holocaust am "iranischen Volk" zu begehen. Den meisten Kommentatoren erscheinen diese Zeilen von Grass als überheblich und selbstgerecht. Einige aber lesen daraus sogar einen latenten oder akuten Antisemitismus heraus und verweisen darauf, dass Grass als Siebzehnjähriger in der Waffen-SS diente.
Antisemitismus: Ein dehnbarer Begriff
Schaut man sich die Kommentare in den Zeitungen an, vor allem in der neokonservativen WELT, fällt freilich sofort auf, wie weit der Begriff des Antisemitismus gedehnt werden muss, um Grass' Äußerung noch darunter zu fassen. Im landläufigen Sinn ist Antisemitismus ja nichts anderes als Judenhass. Einen primitiven Judenhass jedoch, wie ihn die Nazis pflegten, unterstellt selbst die WELT Grass nicht.
Um Grass Antisemitismus zu unterstellen, muss der Umfang dieses Begriffs daher kräftig gedehnt werden. Er wird dann verstanden als ein pathologischer Zustand (Regina Grünenberg in der FAS vom 8.4.2012) in Gestalt tiefsitzender, oft unbewusster Vorbehalte und Vorurteile gegen Juden oder gegen den Staat Israel.
Besonders letzteres ist wichtig. Denn ohne diese Ausweitung des Begriffs "Antisemitismus" auf die Kritik an der israelischen Politik wird der Vorwurf oft gegenstandslos. Auch im Fall von Grass würde er nicht funktionieren. Die Worte "Jude" oder "jüdisch" kommen im Gedicht gar nicht vor; nur von Israel ist die Rede.
Genau hier aber berühren wir den wunden Punkt der Debatte. Wenn jede Kritik an der israelischen Politik Antisemitismus wäre, dann hätte Grass recht, und man dürfte die israelische Politik offenbar wirklich nicht kritisieren.
In Wahrheit sind es jedoch nur extrem rechtslastige und auffälligerweise oft islamfeindliche Kommentatoren oder Medien wie etwa die WELT oder islamfeindliche Blogs wie "Politically Incorrect" und die "Achse des Guten", die so weit gehen, jede Kritik an der israelischen Politik sogleich als eine moderne Spielart des Antisemitismus zu brandmarken.
Tatsächlich ist die Behauptung, Israel könne oder dürfe (vor allem in Deutschland) nicht kritisiert werden, genauso unsinnig wie die Behauptung – übrigens genau derselben rechtslastiger Publizisten und Blogs - der Islam könne oder dürfe hierzulande ja nicht kritisiert werden.
Nein, Grass und seine Kritiker haben gleichermaßen unrecht: Man kann die israelische Politik kritisieren, sogar in Deutschland; und wer dies tut, ist nicht automatisch ein Antisemit, selbst dann nicht, wenn er in seiner Jugend in der Waffen-SS war und dies – aus Scham! - allzu lange verschwiegen hat.
Ein banaler Text
Nüchtern betrachtet ist die Debatte um das Gedicht daher so substanzlos wie das Gedicht selbst, das ja nicht einmal als Prosagedicht einen lyrischen Wert hat. Es wirkt unbeholfen, ja schülerhaft. Es ist peinlich, nicht weil sein Inhalt so skandalös wäre, sondern weil es ein schwacher, banaler Text ist.
Schlimmer sind jedoch die verheerenden Folgen dieses Textes. Er leistet der Sache, die er zu verteidigen vorgibt, einen wahren Bärendienst. Diese Sache ist der Pazifismus, verstanden nicht als absolutes, blauäugiges Prinzip, sondern als Wille, Konflikte nicht bis zur Gewaltanwendung eskalieren zu lassen und sie stattdessen friedlich zu lösen, solange es geht.
Um dies zu tun, ist aber nichts wichtiger als Sachlichkeit, als Klarheit der Positionen und Argumente. Zuspitzungen und apokalyptische Visionen wie im Gedicht von Grass taugen dazu nicht. Sie rufen nur die Scharfmacher und Kriegstreiber auf den Plan und bieten ihnen eine willkommene Gelegenheit, diejenigen, die eine gewaltfreie Lösung suchen, zu diskreditieren.
Nach diesem Gedicht ist eine sachliche Auseinandersetzung über die Frage, ob die gegenwärtige israelische Iranpolitik klug ist oder nicht, noch schwieriger, noch verminter, als sie es ohnehin schon war.
Geradezu nebensächlich mutet dagegen die andere üble Folge an, die das Gedicht hat. Ich meine die Rufschädigung, die Grass sich selbst antut. Nicht weil er ein Antisemit wäre; sondern weil er, der Literaturnobelpreisträger, auf seine alten Tage ein kraftloser und offenbar von miserablen Beratern umgebener Literat geworden ist.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2012
Stefan Weidner ist Islamwissenschaftler, Übersetzer und Chefredakteur von Fikrun wa Fann/Art & Thought. Von ihm erschien zuletzt: "Aufbruch in die Vernunft: Islamdebatten und islamische Welt zwischen 9/11 und den arabischen Revolutionen." (Dietz-Verlag, Bonn)
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de