Die unsichtbaren Muslime
Hat sich für Muslime etwas verändert, nachdem am 13. November 2015 durch einen weiteren Anschlag in einer langen Reihe dschihadistischer Attentate 130 Menschen getötet wurden? Wie nach jedem anderen terroristischen Akt gab es Debatten über die Religion des Islams und 'ihre' Rolle in den Anschlägen. Im Zuge dessen kam es in Europa nicht nur zu verstärkten Sicherheitsmaßnahmen bis hin zur Ausrufung des Ausnahmezustands in Frankreich selbst, sondern auch zu Kriegserklärungen.
Vermutlich war es nicht der letzte Anschlag und die europäischen Gesellschaften müssen sich auf einen Alltag gefasst machen, wie er andernorts normal geworden ist. Mit Anschlägen und Toten. Die europäischen Gesellschaften im Allgemeinen und ihre Muslime im Besonderen werden sich auch in Zukunft mit den gleichen Fragestellungen wie der Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit auseinandersetzen müssen. Muslime werden weiterhin diskutieren, welche Reaktion die vernünftigste und zielführendste sein kann. Distanzierung? Oder Verurteilung? Braucht man die x-te Fatwa gegen den Terror im Allgemeinen und gegen Daesh im Speziellen? Und wenn ja, wer braucht sie eigentlich?
Etwa die europäischen Bevölkerungen, die dem Islam eine essentielle Gewaltaffinitität zuschreiben? Oder jene jungen Muslime, die vor dem Hintergrund der rassistischen Ausgrenzung und der bruchstückhaften Rückkehr zu ihrem Islam nach religiöser Orientierung suchen? All diese Fragen werden wir vermutlich auch in naher Zukunft wieder und immer wieder diskutieren.
Was macht dieser Diskurs mit den Muslimen?
Ich möchte in diesem Artikel jedoch auf etwas anderes hinweisen, das in Wirklichkeit allgegenwärtig ist, aber kaum explizit angesprochen wird. Nämlich: Was macht dieser Diskurs mit den Muslimen? Was geschieht unter der Oberfläche, schreibt sich als Begleiterscheinung dieser Diskurse über Islam und Terror immer tiefer und tiefer in das Selbstverständnis von Muslimen ein? Zur Veranschaulichung nehme ich als Ausgangspunkt ein Posting auf Facebook. Vor kurzem postete eine gut gebildete, politisch aktive und erwachsene Muslimin anlässlich ihrer Geburt:
"Habe im christlichen Krankenhaus XY mit Nonnen als Schwestern und einer kopftuchtrageden Muslimin beim Empfang, einen XY, genannt nach dem schönsten Menschen und Propheten XY, mit dem schönsten Charakter und einer beispielhaften Lebensgeschichte auf die Welt gebracht. Vor meinem Bett ein Kreuz und das Abbild von Maria und ihrem Sohn, dem Propheten Jesus. Religiöse Symbole? Für mich die perfekte Begleitung zu einem wundervollen neuen Leben!"
Der Hintergrund war vermutlich, dass wenige Tage zuvor ein Chefredakteur einer österreichischen Tageszeitung anknüpfend an die Aussagen eines Vertreters der Christdemokratie eine Kopftuchverbotsdiskussion zu initiieren trachtete.
Das Statement wirft viele Fragen auf: Was veranlasst eine Frau, die das erste Mal neues Leben gebärt und dabei vermutlich Gefühle unbeschreiblichen Glücks empfinden muss, dazu, dieses einzigartige Erlebnis in einen politischen Kontext zu stellen? Was geht in diesen Menschen vor? Die Beantwortung dieser Frage führt uns vermutlich zu einer der größten Herausforderungen, die dem muslimischen Subjekt heute global und besonders im Westen begegnet. Denn das muslimische Subjekt ist im diskursiven Spinnennetz eines allgegenwärtigen Islamdiskurses gefangen.
Damit meine ich, dass es für das muslimische Subjekt von heute nicht mehr denkbar ist, sich abseits der verbreiteten Wissensbestände über den Islam, die den Islam mit Diskursen über Terror, Gewalt, Trennung von Religion und Gesellschaft in Verbindung setzen, zu denken und in letzter Folge zu sein. Einfach nur sein. Mensch sein. Eine Geburt erleben, ohne das Kreuz, die Nonnen- und Muslim-Schwester abseits ihres Menschseins deuten zu müssen. Eine Geburt erleben und leben. Frei zu sein von all dem, was ständig auf das muslimische Subjekt projiziert wird.
Konzept des "doppelten Bewusstseins"
Der bedeutende afro-amerikanische Denker W.E.B. DuBois (1868 – 1963) beschreibt in seinem The Souls of Black Folk mit dem Konzept des "doppelten Bewusstseins" den Zustand des Schwarzen, der es nur mehr vermochte, sich selbst durch die Augen der Anderen (Weißen) zu betrachten, sich selbst also nie vollständig als Mensch wahrzunehmen, weil er sich immer in einer Dichotomie befindet; er will Mensch – also normal – sein und ist Schwarz – also abseits der Norm.
Das unterwürfige Subjekt versucht sich diesem diskursiven Druck zu entziehen, indem es sich unsichtbar macht. Der Psychoanalytiker Frantz Fanon sprach im Kontext von Algerien von der Begierde ehemalig kolonialisierter Subjekte, weiß sein zu wollen.
Viele gaben diesen Minderwertigkeitskomplex an ihre Kinder weiter, um ihnen das Leben zu erleichtern, indem sie sie unsichtbarer machten, wie Jean-Paul Sartre in seinem Vorwort zu Fanons Die Verdammten dieser Erde zeigt. Und heute gibt es viele dieser unsichtbaren Muslime, die sich – weil sie Mensch sein wollen, sprich normal sein wollen – unsichtbar machen.
Und es gibt jene, die sich dennoch öffentlich zum Islam bekennen und damit alle Herausforderungen und diskursiven Auseinandersetzungen eingehen. In ihrem Ansinnen, dem hegemonialen Diskurs entgegenzusteuern, übersehen sie, wie gefangen sie in genau diesem diskursiven Netz sind. Sie müssen sich positionieren. Sie können nicht schweigen. Denn Schweigen könnte ja als Zustimmung zu diesem oder jenem Terroranschlag gewertet werden.
Tendenz zur Selbst-Disziplinierung
Kürzlich schrieb ein ehemaliger Klassensprecher an die Facebook-Pinnwand seiner ehemaligen muslimischen Schülerin: "Zum Terror in Paris (und anderswo) nichts zu sagen heißt ihn akzeptieren oder ihn sogar billigen". Bekennt sich das muslimische Subjekt zu ihrem Islam, muss es Rede und Antwort stehen. Macht es sich unsichtbar, entgeht sie dem Druck.
Dieser diskursive Druck führt in einem zweiten Schritt dazu, dass das muslimische Subjekt beginnt, sich selbst zu disziplinieren. Eltern versuchen, ihren Kindern keine Spielzeugwaffen zu geben, weil sie ja sonst als radikal wahrgenommen werden könnten. Mütter und insbesondere Väter erlauben ihren jungen Töchtern nicht, das Kopftuch auf dem Weg in die Moschee zu tragen, weil sie sonst Unterdrückung-witternde Blicke auf sich ziehen würden.
Die Eltern beginnen ihre Kinder nach Maßstäben zu erziehen, die sich an den im Diskurs befindlichen negativen Stereotypen, Verschwörungstheorien und Schreckens-Imaginationen abarbeiten.
Im diskursiven Netz gefangen scheint es schwierig, den Hauch der Freiheit einzuatmen, Mensch zu sein, abseits der Vorwürfe, Unterstellungen und des Misstrauens zu leben. Gerade aber diese Befreiung wäre die erste und fundamentalste Voraussetzung, um als Mensch zu denken und zu sein. In Würde.
Farid Hafez
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