Verlorenes Vertrauen, viel Unsicherheit

Kaltes Deckenlicht und gepolsterte Baumarkt-Stühle auf dem Teppichboden. Am 16. Februar, genau eine Woche vor der Bundestagswahl, geht es um Politik, um den Platz der Muslime in der deutschen Gesellschaft. Etwa 200 Gläubige sind in die Dar As-Salam-Moschee in Berlin-Neukölln gekommen, auf der Suche nach Informationen, nach Klarheit, vielleicht auch nach einer Wahlempfehlung. Männer auf der linken Seite, Frauen auf der rechten.
Nicht alle sind fleißige Moscheebesucher. Neben mir sitzt Hassan, ein Mann in den Zwanzigern, im Alter von drei Jahren ist er mit seiner Familie aus Palästina geflüchtet. Er hat durch Instagram von der Veranstaltung erfahren, erzählt er.
Hassan wundert sich über die Reserviertheit der Deutschen, wenn es um ihre Wahlpräferenzen geht. Da sei man schweigsam, wie beim Geld.
„Wen würdest du also wählen?“, frage ich ihn.
„Bis vor drei Jahren habe ich auch gewählt, meistens SPD. Jetzt nicht mehr.“
„Und wenn du wählen müsstest?“
„Dann wahrscheinlich AfD.“

Debatten um Nahost, Migration und Antisemitismus
Am 23. Februar wird in Deutschland gewählt. Wie positionieren sich die Parteien zu Migration, Israel und Gaza, Antisemitismus und zur Zukunft Syriens?
Bevor ich nach den Gründen fragen kann, geht es los. „Mus(lim)s Wahl“ heißt die Podiumsveranstaltung, die der Rat der Berliner Imame organisiert hat. Und wie der Name verrät, soll es um Grundsatzfragen gehen. Fragen, die auch Hassan hierhergebracht haben: Dürfen Muslime wählen? Sollen sie sogar? Unter seinen Freunden werde viel diskutiert über dieses Thema.
Man weiß mittlerweile, dass Hassan nicht allein ist mit seinen Überlegungen. Sechs Prozent der Muslime haben, so eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen, bei der letzten Bundestagswahl am 23. Februar die AfD gewählt, eine in Teilen rechtsextreme Partei, die den Islam als „kulturfremd“ bezeichnet. Klare Wahlsieger bei den Bürgern muslimischen Glaubens waren Die Linke mit 29 Prozent und, knapp dahinter, die SPD mit 28 Prozent der Stimmen.
Während die Wahlbeteiligung insgesamt bei 82,5 Prozent der Wahlberechtigten lag, so hoch wie nie seit der deutschen Wiedervereinigung 1990, liegt sie bei Muslimen schon seit Jahren unter dem Bundesdurchschnitt – und sie dürfte dieses Mal noch weiter gesunken sein. Darauf deutet die jüngste Untersuchung des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa). Zwei Drittel der befragten Muslime setzten kaum noch Hoffnung in deutsche Politiker. 2022 war es es noch die Hälfte.
Der Vertrauensverlust fiel unter Muslimen deutlich dramatischer aus als bei der Mehrheitsgesellschaft – auch stärker als bei anderen rassistisch markierten Personengruppen. Warum?
Muslime sollen wählen
Die Gastgeber machen sofort klar, warum die Veranstaltung so wichtig ist: In den sozialen Medien wimmelt es nur von selbsternannten Scheichs und Predigern, die einem oft sehr jungen Publikum erklären, warum es als Muslim haram sei, in einem nicht-muslimischen Land zur Wahl zu gehen.
Um ihre Auffassung zu stützen, reißen die bärtigen Online-Propagandisten Koranverse und Hadithe, also Prophetenüberlieferungen, aus dem Kontext. Vor allem die Gruppierung „Realität Islam“, die der islamistischen und in Deutschland verbotenen Organisation „Hizb-ut Tahrir“ nahesteht, warb für einen Wahlboykott. In einem Video erklärt ein Sprecher der Gruppe, „der Islam“ erlaube es nicht, sich an einem Prozess zu beteiligen, an dessen Ende Menschen und nicht Allah darüber entscheiden, was richtig und was falsch ist. Die Gruppe erreicht mit solchen Botschaften Zehntausende.
Das sei aber nicht nur ein Verdienst gut gemachter Propaganda-Videos, sagt einer der anwesenden Imame: „Viele Muslime spüren, dass ihr Platz in der Gesellschaft nicht selbstverständlich ist. Politiker sprechen von Remigration, als wären wir Fremde, dabei haben wir dieses Land mitaufgebaut.“

„Die Idee eines deutschen Islam ist nicht abwegig“
Ender Çetin ist einer der ersten Imame, die in Deutschland ausgebildet wurden. Sind sie die Brückenbauer, die wir jetzt brauchen?
An der Frage, ob man sich als Muslim an der Wahl in einem nicht-muslimischen Land beteiligen soll, zeigt sich die ganze identitäre Unsicherheit der deutschen Muslime. Dieser Verunsicherung wollen die Imame eine theologische Perspektive entgegensetzen.
Eine Weile funktioniert das auch. Juanita Villamor, die Sprecherin des Rats der Berliner Imame, eine junge Islamwissenschaftlerin mit blau gefärbtem Haar, rekapituliert mit einer Bildschirm-Präsentation die Grundlagen der Demokratie. Das Grundgesetz, Minderheitenrechte, Karl Popper. Politische Bildung in der Moschee.
Ender Çetin, einer der ersten in Deutschland ausgebildeten Imame, nennt daraufhin Fatwas aus verschiedenen islamischen Gelehrtenhäusern, vom ägyptischen Fatwa-Haus bis zum internationalen Fiqh-Rat, zum Thema Wahlen. Sie alle gestatten Muslimen ausdrücklich die Teilnahme an Wahlen, meistens aber unter einer Bedingung: „Wenn es den Muslimen nützt oder Schaden von ihnen abwendet“.
Alltag der Ausgrenzung
Doch im Publikum regt sich Widerstand. Ein hochgewachsener Mann mit Brille ist besonders aufgebracht. In der Pause schimpft er: „Die haben keinen einzigen Hadith, keinen einzigen Koranvers gebracht. Was interessieren mich ihre Fatwas und persönlichen Meinungen?“

Sein Freund versucht, ihn zu beruhigen, doch das macht ihn nur noch wütender: „Jetzt ist Schluss mit Ruhe. Nach 15 Monaten Gaza ist Schluss mit Ruhe!“
Ich nutze die Pause, um Hassan, den AfD-Sympathisanten, nach seinen Wahlmotiven zu fragen.
„Warum gerade die AfD? Als Muslim?“
„Da weiß man wenigstens, was auf einen zukommt. Bei den anderen weiß man es nicht. Oder ja, eigentlich weiß man es: immer die gleiche Hetze, immer gegen Muslime, in den Medien, in der Politik. Es ändert sich eh nichts.“
Karl Popper, der Philosoph, der zu Beginn der Veranstaltung zitiert wurde, definiert eine Gesellschaft als demokratisch, wenn es möglich ist, die Herrschenden „ohne Blutvergießen durch eine Abstimmung loszuwerden”. Stimmt. Was aber, wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sich nur die Herrschenden, nicht aber die herrschenden Verhältnisse absetzen lassen?
Die gereizte Stimmung kommt bald auch am Podium an. Dort versucht man, das Unbehagen in ausgeglichene Worte zu fassen. Das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Ständig und jederzeit einem Pauschalvorwurf ausgesetzt zu sein. „Schon in der Schule heißt es: Die Muslime und die Deutschen. Dass es deutsche Muslime gibt, ist für viele noch immer schwer vorstellbar“, sagt Imam Ender Çetin.
2015, als im langen Sommer der Migration eine Million Flüchtender nach Deutschland kamen, hätten sich viele hier lebende Muslime zum ersten Mal verantwortlich gefühlt, wie im eigenen Haus. Sie schufen Anlaufstellen in den Moscheen, übersetzten und informierten. Früher wurde man integriert, jetzt leistete man selbst Integrationsarbeit. Doch in den Medien sei davon kaum etwas angekommen. „Die schauen meistens erst hin, wenn es irgendwo brennt.“

Laute Islamkritiker, leise Islamversteher
Wissenschaftler diskutierten bei einer Veranstaltung in Berlin, wie differenziertes Sprechen über Islam und Muslime möglich ist. Mit ihren Forschungsergebnissen müssten sie stärker in die öffentliche Debatte eingreifen, fordert René Wildangel in seinem Essay. Nur so könne Wissenschaft der Desinformation durch Populisten wirksam entgegentreten.
Dass der Rat der Berliner Imame selbst zur Zielscheibe geworden ist, spricht an diesem Tag niemand an. Das Springer-Blatt „Die Welt“ veröffentlicht seit Jahren regelmäßig Artikel, die einige der Imame als „islamistisch“ bezeichnen und die finanzielle Unterstützung durch den Berliner Senat kritisieren. Das mutmaßliche Vergehen der Imame: Sie predigen in Moscheen, in denen nach Angaben des Verfassungsschutzes auch Salafisten aktiv seien.
Ein Islam made in Germany
Einer der als islamistisch inkriminierten Imame sitzt heute mit auf dem Podium, Ahmad Abu Jebril, auch Scheich Ahmad genannt. Er ist sichtlich genervt von der Diskussion, ob man als Muslim überhaupt wählen gehen darf.
Jebril versetzt sich in einen Nicht-Muslim, der heute die Veranstaltung mitbeobachtet. „Was soll der sich denken, wenn er uns sieht? Da draußen ist eine Partei, die uns am liebsten die Staatsbürgerschaft entziehen würde. Wir haben Angst um unsere Kinder, unsere Zukunft, berechtigterweise – aber zugleich streiten wir immer noch darüber, ob wählen haram ist!“
Jebril hält an diesem Nachmittag ein leidenschaftliches Plädoyer für einen „Islam made in Germany“. Die Muslime in Deutschland hätten bis jetzt immer versucht, ihre Probleme zu lösen, indem sie irgendeine Lehre oder Strömung aus ihren Herkunftsländern, aus dem Libanon oder aus der Türkei, nach Deutschland importierten.
Was es stattdessen brauche, um die Identitätskrise der Muslime zu lösen: einen Islam, der sich in Europa selbständig weiterentwickelt und mit den säkular-demokratischen Werten dieses Landes vereinbar ist. „Wir sind eine Bereicherung, das ist unsere Identität!“, sagt Jebril.
Auf der rechten Seite des Publikums, da, wo die Frauen sitzen, gibt es kräftigen Applaus. Unter den Männern: auffälliges Schweigen. Einer murmelt verärgert: „Alles muss made in Germany sein, sogar unsere Religion. Der klingt doch selbst wie die AfD.“ Die Frage, inwieweit der Islam zu einem demokratischen, säkularen Europa gehört, polarisiert.

Worin sich die anwesenden Imame einig sind: Wählen ist wichtig, aber es ist nicht genug. Eine Minderheit müsse laut sein, um ihre Rechte zu verteidigen, um Möglichkeiten der Mitbestimmung einzufordern. Doch leider seien die deutschen Muslime allzu oft zerstritten, uneinig, unfähig zum Kompromiss.
Zumindest einmal sei es gelungen, geschlossen aufzutreten, erzählt der Seelsorger Imran Sagir: als die Berliner Landesregierung den Muslimen versprochen hatte, in den Gefängnissen nicht nur eine christliche, sondern auch eine muslimische Seelsorge anzubieten. Doch dann ruderte die Landesregierung plötzlich zurück.
Als Reaktion ließen mehrere islamische Verbände ihre Mitgliedschaft im Islamforum Berlin ruhen, jenem Austauschgremium zwischen dem Berliner Senat und islamischen Gemeinden, das beiden Seiten sehr wichtig ist.
Das Ergebnis: Seit 2016 gibt es in den Gefängnissen gemeinsame Freitags- und Feiertagsgebete und muslimische Seelsorge-Angebote. „Das sollte uns zeigen: Erst wenn wir geschlossen auftreten können, werden wir zum Ansprechpartner der Politik“, sagt Sagir. „Dann können wir wirklich etwas zum Besseren verändern.“
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