Assad und das Märchen vom kleineren Übel
Der rasche Siegeszug der extremistischen Gruppe ISIS ("Islamischer Staat in Irak und Syrien") hat die schlimmsten Befürchtungen der internationalen Gemeinschaft geschürt, dass was als Arabischer Frühling begann, sich in einen dschihadistischen Alptraum verwandeln könnte. Die Einnahme des Grenzübergangs zu Syrien, gefolgt davon, dass im irakischen Norden die kurdische Regierung ihre Ansprüche gegenüber der Zentralregierung durchsetzte, beflügelt überdies die Angst, dass eine Neuordnung des Nahen Ostens mit unabsehbaren Folgen im Schwange ist.
Neben Irak drückten auch Iran und Saudi-Arabien aus, dass angesichts dieser Bedrohung unbedingt gehandelt werden müsse. Lediglich Baschar al-Assad hält sich bedeckt. Dabei wäre naheliegend, dass er ein unmittelbares Interesse hat, sich diesen Entwicklungen entgegenzustellen. Weite Teile Syriens stehen nicht mehr unter der Kontrolle seines Regimes, und wenn man seinen Worten Glauben schenkt, befindet er sich bereits seit März 2011 im Kampf gegen den Terrorismus. Insofern sollte man annehmen, dass ihm angesichts eines solchen Erfolgs von ISIS, die selbst Al-Qaida zu radikal sind, das Wasser bis zum Halse steht.
Doch, wie auch Karikaturen des syrischen Präsidenten immer wieder hervorheben: Sein Hals ist lang. Noch sieht er keine unmittelbare Bedrohung, denn ISIS hat sich bei ihren Vorstößen in Syrien kaum an die von ihm kontrollierten Gebiete herangewagt.
Abwarten und töten
Alle von der ISIS eingenommenen syrischen Territorien haben sie von anderen Rebellen, nicht vom Regime erobert. Die irakische Grenze liegt weitab von Damaskus, und nur das ist es, was Assad mit aller Macht zu halten trachtet. So übt er sich in dem, was sich für ihn stets als die beste Strategie erwiesen hat: abwarten, während er gleichzeitig unbeirrt mit seinen Bombardements von Zivilisten und andern Rebellengruppen fortfährt.
Obwohl viele Zeitungen in der letzten Woche titelten, dass die syrische Armee erstmals Stellungen der ISIS bombardiert habe, ergab sich für viele Kommentatoren daraus nicht die Frage, was das Regime denn bislang getan habe. Der Tenor lag nicht auf "erstmals", sondern die Nachricht floss in die verbreitete Wahrnehmung von ihm als erbittertem Gegner der Extremisten ein.
Dabei waren die Bombardements des Regimes eher symbolischer Natur. In Raqqa, der einzigen Provinzhauptstadt Syriens, in der ISIS die alleinige Macht ausübt, trafen sie nicht das leicht zu identifizierende Hauptquartier von ISIS, das vormals der Sitz des Gouverneurs in Raqqa war und dessen Koordinaten der Armee daher hinlänglich bekannt sein dürften, sondern knapp daneben.
Die Luftschläge, die der irakische Premier Nuri al-Maliki pries, fanden auf irakischem Territorium, unter anderem auf den Marktplatz der Grenzstadt Qaim statt – nicht auf syrischem Territorium. Der libanesischen Tageszeitung Al-Safir zufolge dienten Assads Angriffe im Irak dazu, eine Ausweitung von ISIS' Einflusssphäre Richtung Jordanien zu unterbinden.
Konflikt als internationale Bedrohung
Das wirft die Frage auf, warum das syrische Regime insbesondere im eigenen Land den Kampf gegen islamistische Extremisten nur sporadisch und halbherzig führt. Das rührt zum einen daher, dass Assad seine Position gestärkt sieht. Seit Beginn der Revolution hat das Regime viele Mühen darauf verwendet, den Konflikt nicht nur als nationale, sondern als internationale Bedrohung darzustellen.
Während er auf seine Souveränität pocht, und selbst Hilfslieferungen in die nicht von ihm beherrschten Landesteile blockiert, hat er nicht versäumt, dunkle Szenarien für andere Staaten auszumalen – wohl wissend, dass das auf internationaler Ebene, auf der Menschenrechte immer stärker Sicherheitsfragen untergeordnet werden, auf fruchtbaren Boden fallen würde.
Beides hat im Zusammenspiel mit einer schwachen und zerstrittenen zivilen sowie gemäßigteren militärischen Opposition in Syrien dazu geführt, dass der Konflikt immer stärker als eine Wahl zwischen Assad oder den Extremisten begriffen wurde.
So geht es auch in der jetzigen Debatte um wenig mehr als wie ISIS militärisch zurückgedrängt werden kann. Es wird nicht thematisiert, dass die Brutalität mit der das Aufbegehren der zivilen Bevölkerung gegen einen Tyrannen niedergeschlagen wurde, sie erst ins Leben gerufen hat.
Auch nicht, dass Assad durch die Aufgabe ausgerechnet der Nordgrenze des Landes erst den Zustrom ausländischer Kämpfer in größerem Stile ermöglicht hat, oder dass er durch die Schaffung eigener Milizen das Gewaltmonopol des Staates selbst aufgegeben hat. Und auch nicht, dass das Zögern des Westens, sein Gewicht hinter die politische Opposition zu werfen und die "Freie Syrische Armee" zu gegebener Zeit zu stärken, extremistischen Kräften und ihren Unterstützern das Feld überlassen hat.
Zerrbild "säkular versus islamistisch"
Den Konflikt in ideologischen Termini zu beschreiben – säkular versus islamistisch – lenkt von der grausamen Realpolitik Assads ab. Es verstellt jedoch auch den Blick darauf, dass es um Fragen der Macht und der Ressourcen geht – um politische und nicht nur Sicherheitsfragen. ISIS Stärke rührt nicht daraus, dass ihre Ideologie für Syrerinnen und Syrer so anziehend ist. Ganz im Gegenteil: Selbst in religiös-konservativen Gegenden möchte die Bevölkerung nicht den rigiden Regeln von ISIS und ihrer drakonischen Umsetzung ausgesetzt sein.
Im nordsyrischen Ort Jarablus beispielsweise war einer der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte und den Kampf lokaler Kräfte gegen ISIS auslöste, das Rauchverbot. Auch das Vorgehen der ISIS gegen jede andere Art des Vergnügens, sei es modische Kleidung oder Fußballschauen, deckt sich nicht mit dem Interesse vieler Syrer, die dies als Teil ihres normalen Lebens begreifen.
Das brachiale und brutale Vorgehen der ISIS hat eingeschüchtert. Kämpfer zu rekrutieren war ihr im Wesentlichen möglich, weil sie – anders als andere Gruppen – keine Geldsorgen hatte. ISIS konnte Gehälter zahlen, Nahrungsmittel verteilen und in Raqqa mit der Stromversorgung und der Übernahme all der Funktionen eines Staates Akzeptanz erkaufen.
Flickenteppich Nordsyrien
Dagegen war das der "Freien Syrischen Armee" nicht möglich, da weder sie noch die oppositionelle "Nationale Koalition" in Istanbul zu keinem Zeitpunkt mit den Mitteln ausgestattet waren, die ihnen ähnliches erlaubt hätten – ganz zu schweigen davon, dass das Regime auch Gebiete, die es längst verloren hatte, weiterhin aus der Luft bombardiert. Dies dient allein um zu verhindern, dass sich dort staatsähnliche Strukturen bilden konnten. Es hatte auch zur Folge, dass Nordsyrien immer mehr wie ein Flickenteppich aussieht, in dem lokale Machthaber einen kleinen Einzugsbereich kontrollieren.
Daran, dass es Assad nicht um Syrien, sondern lediglich um sich selbst geht, hat er nie Zweifel gelassen. Schon in den ersten Monaten der Revolution hinterließen seine Truppen an den Orten ihres Wütens immer wieder das Graffiti: "Assad oder wir brennen das Land nieder". Diese Losung hat er seither konsequent umgesetzt.
Assad hat Chemiewaffen eingesetzt, mit Fassbomben Wohnviertel und ganze Orte in Schutt und Asche gelegt, Hunderttausende getötet und Millionen weitere vertrieben. Dennoch bleibt im Westen die Furcht vor dem, was die ISIS-Islamisten anrichten könnten, gepaart mit der Unlust, sich zu engagieren, so groß, dass Syriens Diktator weiterhin weniger als Teil des Problems begriffen wird und man eher gewillt ist, ihn als kleineres Übel zu sehen.
Bente Scheller
© Qantara.de 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Bente Scheller übernahm 2012 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut. Zuvor leitete sie das Büro in Afghanistan. Im Februar erschien ihr Buch "The Wisdom of Syria's Waiting Game: Foreign Policy Under the Assads".