Gewalt und Gefühl am Puls der Wirklichkeit
Zehn Jahre nachdem "Auf der anderen Seite" bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet wurde, hat Fatih Akin erneut Weltpremiere auf dem wichtigsten Filmfestival gefeiert. Zwar wurde Diane Kruger in seinem Drama über die rechtsextremistische Terrororganisation NSU als beste Hauptdarstellerin geehrt, doch den Hauptpreis konnte der Film nicht mit nach Hause nehmen, er ging an Ruben Östlunds "The Square". Dennoch: Fatih Akin ist einer der wenigen deutschen Regisseure, deren Filme überhaupt im internationalen Wettbewerb um die Goldene Palme konkurrieren.
Aus dem Nichts handelt von einer junge Mutter, die bei einem Bombenattentat ihren türkischstämmigen Mann und ihren Sohn verliert. In den Fokus der Ermittlungen gerät ein junges Neonazipärchen, doch die von Diane Kruger in ihrem ersten deutschsprachigen Film gespielte Mutter will der Tragödie auf den Grund gehen.
Es gehe ihm um Wahrheit und Gerechtigkeit, "sowohl im rechtsstaatlichen als auch im moralischen Sinne", äußerte sich Akin gegenüber dem Tagespiegel, und darum zu zeigen, wie "widersprüchlich und dehnbar" diese Begriffe sein können. Nach der Literaturverfilmung "Tschick" (2016) arbeitet Akin hier zum zweiten Mal mit dem Regisseur und Drehbuchautor Hark Bohm zusammen. Als Jurist, der Bohm ja auch ist, konnte er insbesondere im Zusammenhang mit dem Gerichtsprozess für sachliche Richtigkeit sorgen.
Pulsschlag des Problemkiezes
Wie nahezu alle Filme, die Fatih Akin seit seinem furiosen Debüt "Kurz und Schmerzlos" (1998) gedreht hat, kreist "Aus dem Nichts" ebenfalls um Kollisionen zwischen verschiedenen Kulturen. Es ist das Lebensthema des Regisseurs, der als Sohn türkischer Einwanderer in Hamburg aufgewachsen ist. Geboren am 25. August 1973, aufgewachsen in einem Problemkiez unter gewalttätigen Jugendgangs – aus diesem volatilen Milieu entsteht die ungestüme Energie seiner Filme.
Akin beginnt seine filmische Karriere zunächst als Schauspieler. Weil er bald keine Lust mehr hat, in seinen Rollen auf türkische Kriminelle festgelegt zu werden, beginnt er Drehbücher zu schreiben. Inspiriert von Martin-Scorsese-Filmen wie "Taxi Driver" oder "Mean Streets" erkennt er schon als junger Mann im eigenen Umfeld den Stoff vergleichbarer Geschichten. Konsequent leben seine Filme seitdem von eigenen Beobachtungen und persönlichen Erfahrungen. So erreichen sie eine authentische und unmittelbare Wahrhaftigkeit, die im deutschen Kino der späten Neunziger- und frühen Nullerjahre mit voller Wucht einschlägt.
Annäherung und Versöhnung statt Konfrontation
Impulsiv, roh und wild sind die ersten Filme des gleichermaßen an unmittelbarer Realität wie an der Filmgeschichte geschulten Autodidakten. Sein erstes großes Meisterwerk "Gegen die Wand" (2004) erzählt in mitreißenden Bildern vom Freiheitsdrang der Deutschtürkin Sibel (Sibel Kekilli) und davon, wie ihre Bedürfnisse mit den Traditionen ihrer strengen türkischen Familie kollidieren. Aus der strategischen Ehe mit dem sehr viel älteren, seelisch und physisch zerrütteten Alkoholiker Cahit (Birol Ünel) entsteht eine Kraft, die für beide die Rettung ist.
Aus der Bewegung zwischen Deutschland und der Türkei ergeben sich in Akins Filmen immer wieder neue Perspektiven. Statt einer Konfrontation der Religionen und Nationalitäten zielt er auf Begegnung und Versöhnung.
"Gegen die Wand" ist 2004 der erste Teil der Trilogie "Liebe, Tod und Teufel", die Akin 2006 in neuem, nachdenklich abgeklärtem Tonfall mit "Auf der anderen Seite" (2007) fortsetzt. Sechs Menschen wandeln zwischen den Welten, zwischen Deutschland und der Türkei, zwischen Tod und Leben, und finden trotz tragischer Ereignisse und tödlicher Konfrontationen zueinander. Nicht nur muslimische und christliche Lebenswelten treffen sich in dem Film, sondern auch die türkische Schauspiellegende Tuncel Kurtiz aus den Filmen von Yilmaz Güney und der deutsche Rainer-Werner-Fassbinder-Star Hanna Schygulla.
Das Crossover, das Durchdringen verschiedener Bereiche, durchzieht das ganze System Akin. Das gilt auch für die Filmmusiken, die von Anfang an eine besondere Rolle als Takt- und Stimmungsgeber innehaben und den Geschichten auch in den Texten zuarbeiten. Dabei entwickelt sich eine enorme rhythmische, sinnliche und erzählerische Kraft. In der Verbindung verschiedener Musikgenres zwischen Punk und türkischer Folklore tragen sie zudem auch unterschwellig zur Auflösung von Grenzen bei.
Blick auf deutsch-türkische Verhältnisse
Zwischen den Spielfilmen dreht Akin häufig Dokumentarfilme, etwa "Denk ich an Deutschland – wir haben vergessen zurückzukehren" (2001) über die Einwanderungsgeschichte seiner Eltern, "Crossing the Bridge – the Sound of Istanbul" (2005), in dem der deutsche Musiker Axel Hacke die türkische Musikszene Istanbuls erkundet, oder "Müll im Garten Eden" (2012) über einen Umweltskandal in einem Dorf am Schwarzen Meer.
Die Mischung aus Vertrautheit und Fremdheit, Nähe und Ferne schärft Akins kritischen Blick auf türkisch-deutsche Verhältnisse. Immer wieder macht sie ihn zum Mittler, egal ob er die Zwangsläufigkeit des gewalttätigen Machismo südländischer Gesellschaften in Frage stellt, ausgegrenzte kurdische Minderheiten einbezieht oder in "The Cut" (2014), dem letzten Teil der Trilogie, den armenischen Völkermord thematisiert.
Der größte Feind ist die Routine
Um der Routine zu entgehen, sorgt Akin auf immer neue Weise dafür, seinen Blick durch gezielte Unsicherheiten frisch und wach zu halten. In "Tschick", seinem zehnten langen Film, macht er ganz bewusst Vieles zum ersten Mal: Erstmals hat er eine Auftragsarbeit mit einem bereits weitgehend zusammengestellten Team von einem anderen Regisseur (David Wnendt) übernommen. Zum ersten Mal erzählt er etwa eine ganze Geschichte aus der Perspektive von Teenagern.
Mit einer Musikauswahl, die von SEED über Fraktus und den Beatsteaks bis hin zu einem Song von Richard Clayderman reicht, lässt er diesen Abenteuersommer zwischen schwungvollem Drive, rockigem Beat und unterschwelliger Melancholie schwingen. Überzeugend fängt er die Unmittelbarkeit und Unsicherheit der Wahrnehmung ein, den Leichtsinn und die Waghalsigkeit. Und spiegelt damit ein Lebensgefühl, das ihm selbst wohl bestens vertraut ist.
Anke Sterneborg
© Goethe-Institut 2017