Kino mit dekolonialem Anspruch

Eröffnung des JCC-Filmfestivals in Tunis (Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Hasan Mrad)
Letzten Freitag in Tunis: die Schauspieler:innen Aicha Ben Ahmed und Raouf Ben Amor während der Eröffnung (Foto: Picture Alliance / Zumapress | H. Mrad)

Das Carthage-Filmfestival in Tunis will der Dominanz des Globalen Nordens in der Filmwelt etwas entgegensetzen. Noch bis Sonntag laufen Filme aus Afrika und Westasien. Dem eigenen Anspruch wird es allerdings nicht in Gänze gerecht.

Von Vanessa Barisch

Zum 35. Mal wurde am vergangenen Freitag in Tunis der rote Teppich die Marmorstufen des Kulturzentrums Medinat al-Thaqafa hinabgerollt, um das Filmfestival Journées Cinématographiques de Carthage (JCC) feierlich zu eröffnen. Als der tunesische Regisseur Mehdi Basaoui zusammen mit Schauspielerin Fatma Sfar den roten Teppich betritt, setzt ein Blitzlichtgewitter ein. Eine Woche voller Filme aus Afrika und Westasien hat begonnen. 

Diesen regionalen Fokus hat das JCC seit seiner Gründung vor fast 60 Jahren. Das Festival erhebt den Anspruch, der Dominanz des Globalen Nordens im Filmbusiness etwas entgegenzusetzen, die auch Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit der Staaten in WANA (Westasien und Nordafrika) andauert.  

„Das JCC soll für uns Menschen aus dem Globalen Süden eine Gelegenheit sein, uns selbst auf der Leinwand zu sehen“, erklärt die Filmwissenschaftlerin und Cineastin Sihem Sidaoui im Interview mit Qantara in einem Hinterzimmer des Kinos „4ième Art“ in der tunesischen Hauptstadt.  

Die Gründungsväter des JCC, der Tunesier Taher Cheriaa und der senegalesische Regisseur Osmane Sembène, hatten das Festival 1966 mit dieser Absicht ins Leben gerufen. Auch war es den beiden ein Anliegen, den Austausch mit afrikanischen Ländern südlich der Sahara sowie die Entwicklung lokaler Filmindustrien zu fördern, denn die Kinos in der Region zeigten ausschließlich Filme aus dem Globalen Norden. Eigenproduktionen aus dem Süden gab es damals kaum.  

Dieses Jahr erinnert das Festival mit einem Palästina-Schwerpunkt an den noch andauernden Gazakrieg, nachdem es im Vorjahr wegen des Krieges komplett abgesagt worden war. Gastländer des diesjährigen JCC sind Jordanien und der Senegal. Bis Sonntag hat die Jury, der unter anderem die tunesische Produzentin Dora Bouchoucha und der tschadische Regisseur Mahmmat-Saleh Haroun angehören, Zeit, sich eine Meinung zu bilden.  

Blick auf globale Ungerechtigkeit

Der Anspruch, dekoloniales Kino zu fördern und globale Ungerechtigkeiten kritisch zu hinterfragen, zeigt sich auch im diesjährigen Programm: Die libanesische Dramödie „Arzé“ von Mira Shaib erzählt die Geschichte der gleichnamigen Protagonistin, die inmitten von Finanzkrise und Inflation im Libanon versucht, ihre Familie mit dem Verkauf von hausgemachtem Gebäck über Wasser zu halten. 

Um den Umsatz des Familienunternehmens zu steigern, kauft sie einen Motorroller – und verschuldet sich dafür. Der Roller wird auch noch gestohlen und so begibt sich Arzé gemeinsam mit ihrem Sohn auf die Suche nach dem Fahrzeug. 

Saib setzt dabei das charmante Gewirr Beiruts in Szene und spielt mit der kulturellen Vielfalt der Stadt, in der ein unzureichendes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln den Alltag erschwert. Damit bietet der Film eine eigene Perspektive auf die Herausforderungen, die die libanesische Gesellschaft in den letzten Jahren durchlebt hat. 

Der tunesische Dokumentarfilm „Sh’hili“ von Habib Ayeb beleuchtet die Auswirkungen des Klimawandels in der Mittelmeerregion, mit Fokus auf Tunesien, Marokko, Italien und Frankreich. Mit starken Bildern und persönlichen Kommentaren, etwa zu einem sterbenden Olivenbaum aus eigenem Besitz, offenbart Ayeb seine eigene Betroffenheit. 

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Der Film thematisiert ökologische Herausforderungen, etwa die Invasion der Blaukrabbe in der Adria infolge steigender Wassertemperaturen. Anhand von Porträts von Aktivist:innen, Landwirt:innen und Wissenschaftler:innen zeigt Ayeb Strategien des kollektiven Widerstands auf. Diesen stellt Ayeb als einzig angemessene Antwort auf die globale Klimaungerechtigkeit dar, die zwischen dem Globalen Norden als Verursacher und dem Globalen Süden als Hauptleidtragenden des Klimawandels herrscht. 

Konkurrenz aus Saudi-Arabien

Das JCC ist das älteste Filmfestival mit dieser Ausrichtung in der Region, hat jedoch mittlerweile Konkurrenz bekommen. Seit 2021 richtet Saudi-Arabien das finanziell deutlich besser ausgestattete Red Sea International Film Festival in Jeddah aus, das sich mit Hollywood-Stars schmückt und zugleich den Anspruch erhebt, Filmen aus Asien und Afrika eine Plattform zu bieten. Hollywoodgrößen wie die Schauspielerin Michelle Rodriguez und Spike Lee verleihen dem Festival Glanz. 

Das JCC konnte dieses Jahr keine Kinogrößen aus dem Globalen Norden anlocken, was jedoch für Sihem Sidaoui kein Verlust ist: „Austausch ist immer gut, aber meiner Meinung nach ist es besser, wenn unser Blick auf den Globalen Süden gerichtet bleibt und wir uns nicht am Besuch aus dem Norden messen.“ 

Gleichzeitig wäre diese internationale Präsenz für Sichtbarkeit und Networking von Vorteil. Die neuen, international renommierten Festivals wie das in Jeddah, die für das JCC eine Konkurrenz darstellen, werden von vielen Filmschaffenden aus dem Globalen Süden begrüßt, haben sie doch mittlerweile mehr Plattformen für ihre Werke, die auf Filmfestivals im Globalen Norden nach wie vor wenig Beachtung finden. 

Saudi-Arabien nutzt Megaevents wie das Red Sea Festival, um von gravierenden Menschenrechtsverletzungen abzulenken – ein Vorwurf, den es auch in Tunesien gibt: Das Land begeht ebenfalls schwerwiegende Rechtsverletzungen, insbesondere im Umgang mit Migrant:innen im Land. Doch die ausgewählten Filme beim JCC thematisieren dies nicht. Das tunesische Magazin Nawaat kritisierte eine „komplizenhafte Neutralität“ des Festivals. Dies widerspreche der Gründungsabsicht, den Dialog zwischen afrikanischen Ländern südlich der Sahara und WANA zu fördern.  

Ferid Boughdir (Foto: picture alliance / Anadolu | Yassine Gaidi)
Dem Festivaldirektor Ferid Boughedir wird sexuelle Belästigung vorgeworfen (Foto: picture alliance / Anadolu | Y. Gaidi)

Wo bleibt der Süd-Süd-Austausch? 

Überhaupt ist der Austausch mit Künstler:innen südlich der Sahara in diesem Jahr weniger präsent als in den Gründungsjahren. Dies zeigte bereits die Eröffnungszeremonie am Freitag (14. Dezember), die ohne Performances von Künstler:innen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara auskam. Auch das diesjährige Festival-Logo, das an arabische Kalligrafie angelehnt ist, verweist nicht auf die afrikanische Identität des Festivals. 

Im Gegenteil: Der Fokus liegt dieses Jahr auf dem tunesischen Film, wie auch die Ergänzung des internationalen Wettbewerbs um einen nationalen Wettbewerb zeigt. „Grund dafür ist, dass sich durch den Ausfall des Festivals wegen der Covid-Pandemie und des Gazakriegs viele tunesische Filme angestaut haben. Dennoch ist diese neue Sektion problematisch, denn es handelt sich um ein internationales Festival, das den Süd-Süd-Austausch in der DNA hat“, ordnet Sihem Sidaoui ein. 

Unabhängig davon stieß auch die Ernennung Ferid Boughedirs zum Festivaldirektor, der bereits im Vorfeld seiner Auswahl mit Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung konfrontiert war, auf Kritik. Bei der Eröffnung des Festival am Freitag gipfelte dies in einem Flashmob feministischer Aktivist:innen, der schließlich gewaltsam aufgelöst wurde. 

Auch kritische Positionen zur innenpolitischen Lage in Tunesien, wo zahlreiche Oppositionelle im Gefängnis sitzen, sind auf dem Festival kaum möglich. Neben der schwindenden Pressefreiheit liegt dies auch an der hierarchischen Struktur, die Ernennungen direkt vom Staatspräsidenten über den Kulturminister zur Leitung des Nationalen Filminstituts (CNCI) beeinflusst und schließlich für die Personalie der Festivalleitung des JCC entscheidend ist.

Nichtsdestotrotz bietet das Festival eine Plattform für Filme, die sich etwa aus eher palästinensischer Perspektive mit dem Krieg in Gaza oder dem Nahostkonflikt auseinandersetzen. Seit der heftigen Kontroverse um den israelisch-palästinensischen Film „No Other Land“ bei der Berlinale im Februar haben es bei den renommierten Festivals im Globalen Norden keine Filme zu diesem Thema mehr in die Wettbewerbe geschafft. 

Mit dem Spielfilm „To a Land Unknown“ vom dänisch-palästinensischen Regisseur Mahdi Fleifel und dem Dokumentarfilm „Jenin Jenin“ vom israelisch-palästinensischen Regisseur Mohamed Bakri sind zwei Filme im Wettbewerb des JCC vertreten, die den Nahostkonflikt aus palästinensischer Perspektive beleuchten. Damit erfüllt das Festival den Anspruch engagierter Kunst, ein Ventil für die Themen und Emotionen der Menschen zu sein. „Die größte Leistung eines Films oder eines Festivals ist es, das lokale Publikum zu berühren“, sagt Sihem Sidaoui. 

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