Micha Brumlik: "Der islamisch-jüdische Dialog sollte institutionalisiert werden"

Der jüdische Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik ist am 4. November 75 Jahre alt geworden. Im Interview blickt er auf die deutsche Erinnerungskultur und was es für ein gutes Miteinander von Juden, Christen und Muslimen braucht.

Herr Brumlik, eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung hat ergeben, dass in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit fast jeder zweite Mensch in Deutschland für einen "Schlussstrich" ist. Wie blicken Sie auf dieses Ergebnis?

Brumlik: Ich finde das grundsätzlich falsch, weil die Auseinandersetzung mit der Schoah und der Mitverantwortung vieler Deutscher vor Jahrzehnten eine staatsbürgerliche Aufgabe ist. Schülerinnen und Schüler - egal, ob sie "Biodeutsche" sind oder aus migrantischen Familien kommen - müssen mit dieser Geschichte vertraut gemacht werden, um die normative Struktur dieses Landes mit seinem ersten Grundgesetzartikel, nach dem die Würde des Menschen unantastbar ist, besser zu verstehen.

Bildung gilt als gutes Mittel gegen Antisemitismus. Es gibt nicht wenige sehr gut Gebildete, die etwas gegen Juden haben.

Brumlik: Die Frage ist, wie man den Begriff der Bildung fasst. Wenn es nur um Belesenheit geht, reicht das zweifelsohne nicht. Es kommt auch darauf an, dass das, was da gelesen und rezipiert wird, durch Zeitzeugengespräche - lange wird das nicht mehr gehen - ergänzt wird, um angemessen moralisch aufgenommen und verstanden zu werden.

Schiene zum Konzentrationslager Auschwitz; Foto: picture-alliance/H. Fohringer
KZ-Gedenkstätte Auschwitz: Verpflichtende Besuche von Schülerinnen und Schülern in KZ-Gedenkstätten hält Micha Brumlik für sinnvoll. Aber er ergänzt: "Ohne Vor- und Nachbereitung sind solche Besuche sinnlos. Sie gehen sonst an den Schülerinnen und Schülern vorbei. Die Besuche müssen gründlich ein halbes Jahr lang vorbereitet und ordentlich etwa im Geschichtsunterricht nachbereitet werden.“ Man könnte die jungen Menschen am ehesten erreichen, "wenn es gelingt, Jugendlichen die Lebensgeschichten von Insassen der Lager nahezubringen, und sie diese nachvollziehen können.“

Welche Rolle spielt der Religionsunterricht?

Brumlik: Das Problem mit dem Religionsunterricht ist, dass er fakultativ wählbar ist. Wenn Schülerinnen und Schüler ihn belegen, ist es unabdingbar, sich mit der Geschichte des Judentums, des Christentums und des Islam zu befassen und auch mit antijudaistischen Strömungen, die im Christentum sehr viel häufiger zu finden sind.

Sie sind für Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten. Wie sollten die aussehen?

Brumlik: Ohne Vor- und Nachbereitung sind solche Besuche sinnlos. Sie gehen sonst an den Schülerinnen und Schülern vorbei. Die Besuche müssen gründlich ein halbes Jahr lang vorbereitet und ordentlich etwa im Geschichtsunterricht nachbereitet werden.

Wenn wir auf die Gedenkstätten schauen: Auf welche Weise erreichen sie Jugendliche besonders gut?

Brumlik: Was mich bisher am meisten überzeugt hat, ist, wenn es gelingt, Jugendlichen die Lebensgeschichten von Insassen der Lager nahezubringen, und sie diese nachvollziehen können.

Wir sprachen bereits über Zeitzeugen, die es bald nicht mehr geben wird. Sie selbst lehnen die sogenannte Digitalisierung des Gedächtnisses ab - also wenn zum Beispiel Schoah-Überlebende als Hologramme auftreten.

Brumlik: Ich bin entschieden dagegen, dass gleichsam digitale Gespenster als Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Geschichte ist Geschichte, und man kann das Geschehene nicht elektronisch wieder auferstehen lassen. Wenn es um mediale Vermittlung geht, dann kann ich mir Filme wie Claude Lanzmanns "Shoah", in dem zahlreiche Überlebende zu Wort kommen, sehr viel besser vorstellen.

Cover von Micha Brumlik Judentum. Islam. Ein neues Dialogszenario Verlag Hentrich und Hentrich 2022, Quelle: Verlag
Micha Brumlik plädiert dafür, den Dialog zwischen Juden und Muslimen ähnlich zu institutionalisieren wie den Dialog zwischen Juden und Christen. "Für mich selbst war es ein Gewinn, mich mit dem Koran und der Frage zu befassen, ob und unter welchen Umständen der Islam auch in der Auseinandersetzung mit dem Judentum auf der Arabischen Halbinsel entstanden ist,“ sagt Brumlik. "Für mich war auch wichtig, mich erneut mit der Geschichte der muslimisch-jüdischen Koexistenz im mittelalterlichen Spanien auseinanderzusetzen. Das sind Kenntnisse und Erfahrungen, die für das Zusammenleben in der Gegenwart, auch in Deutschland, von großer Bedeutung sind.“

Erwarten Sie von der entstehenden Jüdischen Akademie in Frankfurt einen Beitrag auch zur Pflege der Erinnerungskultur?

Brumlik: Ich erwarte mir in jedem Fall so etwas davon, wobei mir völlig klar ist, dass die Breitenwirkung von Akademien dieser Art, auch von evangelischen und katholischen, durchaus begrenzt ist. Die Wirkungen beziehen sich eher auf ein hochengagiertes Publikum.

Es gibt Forderungen, dass in den Schulen sehr viel stärker als jetzt jüdisches Leben vorgestellt werden sollte.

Brumlik: Ich finde das sinnvoll. Es gibt ja Angebote jüdischerseits, dass Kinder und Jugendliche aus jüdischen Familien oder Erwachsene in Schulen eingeladen werden, um zu vermitteln, dass diese kleine Minderheit "ganz normal" ist, wie andere Leute auch.

Wie könnte denn jenseits solcher Projekte jüdisches Leben durch den Unterrichtsstoff vermittelt werden?

Brumlik: Das wäre eine Lehreinheit, in der über Leben und Wirken von Jüdinnen und Juden in der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik und in der DDR informiert wird. Dass sich Kinder und Jugendliche vertraut damit machen, was in Synagogen geschieht. Sie sollten ein realistisches Bild davon erhalten, wie viele Jüdinnen und Juden unter welchen Umständen heute in Deutschland leben.

Sie setzen sich für den christlich-jüdischen Dialog ein. Wo steht dieser Dialog gerade?

Brumlik: Er erreicht ein interessiertes Publikum, das nicht immer zureichend informiert ist. Daher befürworte ich entsprechende Bildungsveranstaltungen, denn Interessierte können ihr Wissen weitervermitteln. Es hat sich in den vergangenen Jahrzehnten außerordentlich viel getan. Ein Thema, das Dialoggruppen im Moment sehr stark umtreibt, ist die Frage, ob der Israel-Palästina-Konflikt theologisch zu beurteilen ist. Er ist ein politischer Konflikt, auf den man politisch reagieren muss. Ihn theologisch herzuleiten oder zu diskutieren, halte ich vom eigentlichen Thema wegführend.

Lassen Sie uns auch auf das Judentum und den Islam schauen. In einem Beitrag zu dem Buch "Judentum. Islam. Ein neues Dialogszenario" (Hentrich & Hentrich 2022) plädieren Sie dafür, stärker auf Gemeinsamkeiten zu setzen und diesen Dialog ähnlich zu institutionalisieren wie den Dialog zwischen Juden und Christen.

Brumlik: In der Synagoge Oranienburger Straße in Berlin, in der ich bete, gibt es eine jüdisch-muslimische Frauengruppe. Das sehe ich sehr positiv. Auch, dass gute Kontakte zwischen dem jüdischen Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk und dem muslimischen Avicenna-Studienwerk existieren. Das alles kann innenpolitische Spannungen in Deutschland, die auch, aber nicht nur, vom Palästinakonflikt herrühren, abfedern.

 

 

Für mich selbst war es ein Gewinn, mich mit dem Koran und der Frage zu befassen, ob und unter welchen Umständen der Islam auch in der Auseinandersetzung mit dem Judentum auf der Arabischen Halbinsel entstanden ist. Für mich war auch wichtig, mich erneut mit der Geschichte der muslimisch-jüdischen Koexistenz im mittelalterlichen Spanien auseinanderzusetzen. Das sind Kenntnisse und Erfahrungen, die für das Zusammenleben in der Gegenwart, auch in Deutschland, von großer Bedeutung sind.



Was halten Sie davon, dass das Projekt "Schalom Aleikum" des Zentralrats der Juden nun als Denkfabrik und damit, so heißt es, forschungsbasierter fortgesetzt werden soll?

Brumlik: Das finde ich im Grundsatz sehr gut. Man wird abwarten müssen, ob die damit verbundenen Erwartungen erfüllt werden. Die Chance hat das Projekt ohne jeden Zweifel verdient.

Sie sind Träger der Buber-Rosenzweig-Medaille, die mit der Idee der christlich-jüdischen Verständigung verbunden ist. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Brumlik: Sie bedeutet mir sehr, sehr viel. Es ist eine große Ehre, mit diesen beiden Giganten des jüdischen Denkens, Martin Buber und Franz Rosenzweig, in einem Atemzug genannt zu werden. (KNA)

 

Micha Brumlik ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und Publizist. Zu seinen Veröffentlichungen gehören zahlreiche Sachbücher, Essays und Artikel zur Geschichte des Judentums und zu aktuellen Themen.

 

 

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