Im Griff der Moralpanik

Sieben Männer und Frauen sitzen als Sprecher:innen im Raum der Bundespressekonferenz
Felix Klein (l.), Deutschlands Beauftragter für den Kampf gegen Antisemitismus, repräsentiert laut Donatella della Porta die institutionalisierte Moralpanik in Deutschland (Foto: Picture Alliance/dpa | S. Stache)

Der Bundestag hat jüngst eine weitere Resolution gegen Antisemitismus verabschiedet. In diesem Artikel zeichnet die Soziologin Donatella della Porta die deutschen Antisemitismusdebatten nach. Sie argumentiert, eine „Moralpanik“ habe zu einem Verwaltungsapparat geführt, der vor allem der Unterdrückung progressiver Stimmen dient.

Essay von Donatella della Porta

Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 macht Deutschland mit der Ausgrenzung progressiver Künstler:innen und Intellektueller, die sich kritisch gegenüber Israel äußern, international Schlagzeilen. Viele Betroffene dieser aggressiv geführten politischen und medialen Kampagnen stammen aus dem Globalen Süden, unter ihnen sind zudem viele kritische jüdische Stimmen

Am 7. November 2024 verabschiedete der Bundestag eine umstrittene neue Resolution zur Bekämpfung des Antisemitismus mit dem Titel „Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken“. Die Resolution, die von einem breiten parteiübergreifenden Bündnis, einschließlich der rechtsextremen AfD, unterstützt wird, stellt die arabische Bevölkerung Deutschlands als Hauptursache für Antisemitismus dar, prangert vollkommen legale Formen des Protests und der Meinungsäußerung an und setzt Antisemitismus mit Kritik an Israel gleich.   

Zu den schärfsten Kritiker:innen gehörten jüdische Intellektuelle, die in einem offenen Brief argumentierten, dass die Resolution die jüdische Bevölkerung in Deutschland eher „gefährden“ als „schützen“ würde, da sie „alle Juden mit den Handlungen der israelischen Regierung in Verbindung bringt – eine notorische antisemitische Trope“. Eine weitere Resolution, die sich gegen Antisemitismus in Schulen und Universitäten richtet, wird im Dezember im Parlament debattiert. 

Im deutschen Kontext stellen das Ringen um die Definition von Antisemitismus sowie eine spezifische Kodifizierung des kollektiven Gedächtnisses an die NS-Vergangenheit eine zentrale Grundlage dar, auf der eine bürokratische und rechtliche Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die in diesem Artikel nachgezeichnet werden soll.  

Der Artikel zeichnet die gesellschaftlichen, bürokratischen und rechtlichen Prozesse nach, die zu diesem Punkt geführt haben. Das Ringen um die Definition von Antisemitismus und eine spezifische Festschreibung des kollektiven Gedächtnisses an die NS-Vergangenheit bilden die zentrale Grundlage, auf der diese Prozesse in Gang gesetzt wurden.  

Masha Gessen untersuchte 2023 das Phänomen in einem New Yorker-Artikel über die deutsche Erinnerungskultur: „Irgendwann begannen die Bemühungen statisch und verschlossen zu wirken, so als ginge es nicht nur darum, der Geschichte zu gedenken, sondern auch darum, sicherzustellen, dass nur an diese spezifische Geschichte erinnert wird – und nur auf diese Weise“. 

Erlebt Deutschland eine Moralpanik?

Das soziologische Konzept der Moralpanik ist nützlich, um herauszuarbeiten, durch welche Mechanismen die Konzeption von Antisemitismus in Deutschland umgesetzt wird und wie sie zu Unterdrückung und Kriminalisierung abweichender Sichtweisen führt. Moralpanik beschreibt eine weitverbreitete und teils übertriebene Angst, dass eine böse Macht die Kultur oder das Wohlergehen einer Gesellschaft angreift. Der Soziologe und Kriminologe Stanley Cohen machte den Begriff in seinem 1973 erschienenen Buch „Folk Devils and Moral Panics” populär, in dem er die britische Jugendsubkultur analysierte.  

Laut Cohen „werden Gesellschaften scheinbar von Zeit zu Zeit von Moralpanik erfasst. Ein Zustand, eine Begebenheit, eine Person oder eine Personengruppe wird als Bedrohung für die Werte und Interessen der Gesellschaft definiert; ihr Charakter wird von den Medien in stereotyper Weise dargestellt; Redakteur:innen, Bischöfe, Politiker:innen und andere rechtschaffene Menschen gehen auf die moralischen Barrikaden; gesellschaftlich anerkannte Expert:innen verkünden ihre Diagnosen und Lösungen; es werden Bewältigungsstrategien entwickelt und angewandt.“ 

Als Teil dieses Prozesses werden „folk devils” als Abweichler:innen stigmatisiert und aus Perspektive der gesellschaftlichen Werte der Mehrheitsgesellschaft als Außenseiter:innen betrachtet. Sie werden als Bedrohung für diese Werte dargestellt und verantwortlich gemacht für das, was im Laufe des Prozesses als soziales Problem definiert wird. Die von Stanley erwähnten Akteure der Moralpanik lösen die Panik aus und steuern sie, mit der möglichen Folge, dass neue Regelungen und Gesetze geschaffen werden, die ihnen schlussendlich mehr Kontrolle über die Gesellschaft geben. 

In Deutschland kann die Dynamik einer solchen Moralpanik an zahlreichen Fällen der letzten Jahre aufgezeigt werden, in denen der Antisemitismusvorwurf dazu genutzt wurde, Intellektuelle anzugreifen. Einige Beispiele sind:  

  • der Rücktritt von Peter Schäfer als Direktor des Jüdischen Museums in Berlin im Juni 2019,  
  • die zurückgezogene Einladung des kamerunischen Theoretikers Achille Mbembe zur Ruhr-Triennale im März 2020,  
  • der Rückzug des Künstlers Ranjit Hoskote aus dem Auswahlkomitee der documenta 16 im November 2023,  
  • die Absage der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Journalist:in Masha Gessen im Dezember 2023,  
  • die Entlassung des Anthropologen Ghassan Hage aus seinem Beschäftigungsverhältnis am Max-Plank-Institut in Halle im Februar 2024,  
  • der Backlash gegen Filmemacher Basel Adra und den Journalisten Yuval Abraham nach ihren Reden bei der Preisverleihung der Berlinale im Februar 2024, 
  • die Aberkennung der Albert-Magnus-Professur der Philosophin Nancy Fraser im April 2024,
  • und die Zurücknahme des Theoriepreises der Schelling-Architekturstiftung für den britischen Künstler James Bridle unter Verweis auf die neue Antisemitismus-Resolution des Deutschen Bundestages vom November 2024 

Die Hauptelemente, die ich im Folgenden als Institutionalisierungsprozess der deutschen Moralpanik nachzeichne, sind: die Verwendung der kontrovers diskutierten IHRA-Definition von Antisemitismus; der Aufbau einer bürokratischen Instanz, die sich dem Kampf gegen Antisemitismus widmet, explizit losgelöst vom Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung; und die Definition der gewaltfreien BDS-Bewegung (Boycott, Desinvestition und Sanktionen) als antisemitisch. 

Zwei Männer stehen auf einer Bühne. Der linke Mann spricht, der rechte Mann hält einen Preis unter dem Arn
Der israelische Filmemacher Yuval Abraham und sein palästinensischer Co-Regisseur Basel Adra gewannen im Februar 2024 den Berlinale-Dokumentarfilmpreis für ihren Film „No Other Land“. Nachdem sie in ihrer Dankesrede ein Ende „dieser Apartheid, dieser Ungleichheit“ forderten, wurden sie von deutschen Politikern aus dem gesamten politischen Spektrum des Antisemitismus beschuldigt (Foto: Picture Alliance/AP | M. Schreiber)

Der Prozess mündete im Aufbau von Verwaltungs- und Machtstrukturen, die den Kampf gegen Antisemitismus zu einem Instrument der Rassifizierung und Unterdrückung gemacht haben. 

Antisemitismus neu definiert

Ein Grundpfeiler des deutschen Ansatzes zur Antisemitismusbekämpfung ist die Anwendung der 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) vorgeschlagenen Definition von Antisemitismus. In Abkehr von der vorherrschenden wissenschaftlichen und juristischen Definition, die Antisemitismus nur in Bezug auf das jüdische Volk definierte, enthält die Definition spezifische Hinweise auf Israel. „Manifestationen [des Antisemitismus] können sich auch gegen den Staat Israel richten, der als jüdisches Kollektiv verstanden wird“, heißt es in der IHRA-Definition. „Eine Kritik an Israel, die mit der Kritik an einem anderen Land vergleichbar ist, kann jedoch nicht als antisemitisch angesehen werden“.    

Diese Kerndefinition wird von Beispielen für Antisemitismus begleitet, darunter „das Leugnen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, zum Beispiel durch die Behauptung, dass die Existenz des Staates Israel ein rassistisches Unterfangen sei“, „das Ziehen von Vergleichen zwischen der gegenwärtigen israelischen Politik und der Politik der Nazis“ oder „die kollektive Verantwortung von Juden und Jüdinnen für die Handlungen des Staates Israel“. 

Die IHRA-Definition ist in ihrer Form und ihrem Inhalt umstritten. Die allgemein gehaltene Definition wurde als ungenau und selektiv kritisiert. Den Beispielen fehlt die Klarheit darüber, unter welchen Bedingungen Kritik an Israel antisemitisch ist und wann nicht. Eine damit zusammenhängende Entwicklung ist die Tendenz, im Zusammenhang mit der israelischen Politik nicht nur die Leugnung des Holocaust als antisemitisch zu betrachten, sondern auch jede Bezugnahme auf Konzepte, die mit dem Holocaust zusammenhängen, etwa Ghetto, Apartheid oder Genozid.

Die in Deutschland angewandte Definition enthält die IHRA-Erweiterung und besagt, dass Antisemitismus sich auch gegen den Staat Israel richten kann. Der einschränkende zweite Teil zum Vergleich mit anderen Ländern, und das ist entscheidend für das Verständnis der aktuellen Bewertung deutscher Institutionen, fehlt jedoch. Die in ihrer Bedeutung modifizierte Definition wurde in Schulen, der juristischen Ausbildung und der Polizeiausbildung etabliert. Im November 2019, kurz nach einem Anschlag auf eine Synagoge in Halle, machte auch die Hochschulrektorenkonferenz die deutsche Version der IHRA-Definition zur Leitlinie an deutschen Universitäten.

2020 erarbeitetet eine Gruppe von 220 Wissenschaftler:innen, die zu Antisemitismus und dem Holocaust forschen, einen Gegenentwurf zur IHRA-Definition. In dieser Jerusalemer Erklärung wird Antisemitismus als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden als Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdisch)“ definiert, um Antisemitismus von Kritik an Israel zu unterscheiden: „Da die IHRA-Definition in wichtigen Punkten unklar ist und unterschiedliche Auslegungen zulässt, hat sie Verwirrung gestiftet und Kontroversen ausgelöst, was den Kampf gegen Antisemitismus geschwächt hat“. Trotz der Beteiligung von Wissenschaftler:innen aus vielen angesehenen Institutionen wurde die Jerusalemer Definition in Deutschland auf institutioneller Ebene nie ernsthaft in Betracht gezogen.   

Die Beauftragten für den Kampf gegen Antisemitismus

Ein weiterer Aspekt der Entwicklung in Deutschland ist die Investition öffentlicher Mittel in die Entwicklung einer Bürokratie, die sich dem Kampf gegen Antisemitismus widmet, und zwar losgelöst vom Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung im Allgemeinen.  

2018 wurde in einem Regierungsbeschluss die Einsetzung eines Antisemitismusbeauftragten gefordert. Ebenfalls erwähnt wurde eine gesetzliche Stärkung der staatlichen Befugnisse zur Ausweisung von Ausländer:innen auf Grundlage von Antisemitismusvorwürfen. Der Bundestag beschloss daraufhin die Einrichtung des Amtes des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und die Bekämpfung des Antisemitismus, das beim Bundesinnenministerium angesiedelt ist und seitdem von Felix Klein bekleidet wird. 

Laut Bundesministerium ist es Aufgabe des Antisemitismusbeauftragten, „Maßnahmen der Bundesregierung, die den Antisemitismus bekämpfen, ressortübergreifend zu koordinieren. Darüber hinaus soll Felix Klein Ansprechpartner für jüdische Gruppen und gesellschaftliche Organisationen und Vermittler für die Antisemitismusbekämpfung durch Bund, Länder und Zivilgesellschaft sein. Des Weiteren soll der Beauftragte eine ständige Bund-Länder-Kommission mit Vertreterinnen und Vertretern der zuständigen Stellen koordinieren und zur Sensibilisierung der Gesellschaft für aktuelle und historische Formen des Antisemitismus durch Öffentlichkeitsarbeit sowie politische und kulturelle Bildung beitragen.” 

Portrait von Masha Gessen
Masha Gessen bei der Heinrich-Böll-Stiftung, nachdem die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises abgesagt wurde (Foto: Picture Alliance/NurPhoto | E. Contini)

Die Einrichtung dieses neuen Amtes markiert den Aufbau einer, wie Masha Gessen es nannte, „weitläufigen Bürokratie, zu der Beauftragte auf staatlicher und lokaler Ebene gehören, von denen einige in Staatsanwaltschaften oder Polizeirevieren angesiedelt sind. Sie haben keine einheitliche Stellenbeschreibung und keinen rechtlichen Rahmen für ihre Arbeit, aber ein großer Teil scheint zu sein, diejenigen, die sie als antisemitisch ansehen, öffentlich zu beschimpfen, oft weil sie die Singularität des Holocausts in Frage stellen oder Israel kritisieren. Kaum einer dieser Kommissar:innen ist jüdisch. Tatsächlich ist der Anteil der Juden und Jüdinnen unter den von ihnen Angegriffenen sicherlich höher“.   

Die unklare Rolle der Beauftragten, intransparente Auswahlkriterien und die Tendenz, den eigenen Handlungsspielraum auszuweiten, haben zu einer Vielzahl von halblegalen Regelungen geführt. So haben deutsche Amtsträger:innen, darunter Klein und Innenministerin Nancy Faeser, seit dem 7. Oktober wiederholt behauptet, die Parole „From the river to the sea, Palestine shall be free“ sei antisemitisch, weil sie das Existenzrecht Israels leugne. Während die Polizei die Verwendung des Slogans systematisch als Zeichen der Terrorismusunterstützung verfolgt hat, waren sich die Gerichte uneinig. In einigen Fällen verhängten sie Strafen, während sie in anderen Fällen die Verwendung des Slogans als durch die Meinungsfreiheit geschützt einstuften.  

Die Besetzung der Ämter der verschiedenen Kommissar:innen, die meist über kein dezidiertes Wissen über das Judentum verfügen, hat den Einfluss der pro-israelischen Gruppen in Deutschland verstärkt. Wie Susan Neiman, Direktorin des Einstein-Zentrums in Potsdam und selbst Jüdin, feststellte: „Keiner der Kommissare ist als Jude aufgewachsen, obwohl einer bald nach seiner Ernennung konvertierte; die meisten haben wenig Verständnis für die jüdische Komplexität oder Tradition. Um ihre Unkenntnis auszugleichen, verlassen sich die Kommissare auf zwei Quellen für Informationen über Juden, Israelis und Palästinenser: die israelische Botschaft und den Zentralrat der Juden in Deutschland, eine der im globalen Vergleich eher rechtsgerichteten jüdischen Organisationen.“ 

Die (Semi-)Kriminalisierung von BDS

Ein häufiger Anlass für Antisemitismusvorwürfe in den vergangenen Jahren war die Unterschrift unter Petitionen oder anderweitige Beteiligung an Initiativen, die mit der gewaltfreien BDS-Bewegung verbunden sind. Im Mai 2019 wurde im Parlament ein gemeinsamer Antrag verabschiedet, in dem empfohlen wurde, staatliche Mittel für Veranstaltungen und Einrichtungen im Zusammenhang mit BDS zu verweigern, deren „Argumentationsmuster und Methoden“ als antisemitisch eingestuft wurden.  

In dem Antrag, der von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP sowie von weiten Teilen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt wurde, heißt es, der Boykottaufruf führe „zur Brandmarkung israelischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischen Glaubens als Ganzes”. Dies sei „inakzeptabel und scharf zu verurteilen”.  In der Pressemitteilung heißt es: „Der Bundestag tritt damit jeder Form des Antisemitismus schon im Entstehen entschlossen entgegen und verurteilt die BDS-Kampagne und den Aufruf zum Boykott. Auch dürften keine Organisationen finanziell gefördert werden, die das Existenzrecht Israels infrage stellen. Projekte, die zum Boykott aufrufen oder die BDS-Bewegung unterstützen, dürften nicht finanziell gefördert werden.“ 

Da die Bundestagsresolution rechtlich nicht bindend ist, wurde die pauschale Einordnung von BDS als antisemitisch nicht vor dem Verfassungsgericht verhandelt. Während die Verwaltungsgerichte in einigen Fällen Klagen gegen den Entzug öffentlicher Mittel für Veranstaltungen mit BDS- Unterstützer:innen stattgegeben haben, wurde die Resolution genutzt, um viele Einzelpersonen und Gruppen zu delegitimieren und zu disziplinieren, einschließlich einige der vielen jüdischen Mitglieder des BDS-Netzwerks. Die Resolution führte auch zur Bestrafung von Einzelpersonen und Gruppen, die Teil breiterer Netzwerke sind, denen BDS angehört. Im Verfassungsschutzbericht 2023 wurde die BDS-Bewegung schließlich als extremistisch eingestuft, was bedeutet, dass diese nun unter geheimdienstlicher Beobachtung stehen könnte. 

Wie schon in der BDS-Resolution wurde auch in der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben (NASAS) von 2022 festgelegt, dass „Antisemitismus auch geächtet werden muss, wenn er in nicht strafbewehrten Handlungen geäußert wird.“ Ohne nähere Angaben bestätigt das Dokument, dass „eine finanzielle Förderung von Organisationen, die das Existenzrecht Israels infrage stellen, ebenso ausgeschlossen ist wie die Förderung von Projekten, die zum Boykott Israels aufrufen oder die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) aktiv unterstützen.“  

Das NASAS-Dokument beruft sich auf das Konzept der wehrhaften Demokratie, einer Demokratie, die in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen: „Gegen alle Formen antisemitischer Diskriminierung und der Verbreitung von Judenhass muss konsequent vorgegangen werden. Eine wehrhafte Demokratie darf dafür keine Mittel oder Räume zur Verfügung stellen.“

Moralpanik als Unterdrückungsinstrument

Somit sind die Verwendung der IHRA-Definition, die Ernennung der Antisemitismusbeauftragten und die Kriminalisierung von BDS Teil eines Trends zur Verrechtlichung, einer Ausweitung rechtlicher Regulierungen auf immer mehr Lebensbereiche. Während sich der Kampf gegen Antisemitismus vom Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus gelöst hat, stellen die mit ihm einhergehenden Maßnahmen teils rechtlich unsichere Entscheidungen dar. Der gesamte in diesem Artikel nachgezeichnete Prozess hat auf nur semi-legaler Basis stattgefunden. Da viele der Maßnahmen nicht gesetzlich verankert sind, konnten keine Urteile über ihre Verfassungsmäßigkeit gefällt werden. Die Möglichkeit der Betroffenen, Rechtsmittel einzulegen, wird dadurch geschwächt. 

Dabei bewegen sich die Akteure der Moralpanik in Deutschland heute in einem institutionellen Kontext, den sie selbst mitgestaltet haben. Die Institutionalisierung und Bürokratisierung des Kampfes gegen Antisemitismus beruhen derweil auf einem spezifischen Zweig der Verwaltung, der mit materiellen Ressourcen und einem unklaren Handlungsspielraum ausgestattet ist und der die Ausweitung seiner Macht selbst vorantreibt.  

Die Moralpanik in Deutschland hat den Weg für Verwaltungspraktiken geebnet, die nicht nur zur Kriminalisierung palästinensischer Symbole, von Forderungen nach Freiheit und sogar des Ausdrucks von Solidarität mit zivilen Opfern in Gaza geführt haben, sondern auch zum Entzug von Geldern für Vereinigungen und Einzelpersonen, die – ohne gerichtliche Entscheidung – als mit BDS verbunden oder, noch vager, als Israel-Hasser definiert wurden.  

Die Rede-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit wird in Deutschland somit einem Etikettierungsprozess unterzogen, in dem völlig legale Verhaltensweisen auf der Grundlage einer willkürlichen Zuschreibung von antisemitischen Motiven durch Akteure der Moralpanik stigmatisiert werden. Dies führt zu einer Rhetorik des „Kampfs der Kulturen“ und macht die Moralpanik letztlich zu einem Unterdrückungsmechanismus. Im Ergebnis werden propalästinensische beziehungsweise israelkritische Stimmen stigmatisiert und zum Schweigen gebracht.

 

Dieser Artikel ist eine Übersetzung des englischen Originaltexts von Donatella della Porta auf Qantara.de.

 

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