Ein Spiel mit der Relativität von Sichtweisen
Zu den zentralen Paradoxien der Globalisierung gehört, dass die Welt zugleich übersichtlicher und komplexer geworden zu sein scheint. Prozesse der alltagskulturellen Vereinheitlichung gehen Hand in Hand mit solchen einer unaufhaltsam fortschreitenden Differenzierung. Rund um den Globus herrscht die gleiche Popkultur vor, deren feine Verästelungen aber nur noch Fachleute übersehen können.
Weltweit treffen wir auf die gleichen Marken, deren Produktpaletten aber werden immer breiter. Gleichzeitig hat sich Technik der Medien und Kommunikation auf dramatische Weise beschleunigt, so dass das Weltgeschehen in Echtzeit verarbeitet, kommuniziert und kommentiert wird. Die ganze Welt scheint nun immer und überall greifbar zu sein.
Es kann nicht überraschen, dass auch eine akademische Disziplin wie die Geschichtswissenschaft von solchen Entwicklungen nicht unberührt bleibt und ihre klassisch gewordenen Erzählungen vom Werden und Handeln der Völker und Nationen hinterfragt oder neu und anders zu erzählen versucht. Die in Kooperation des Münchner Beck Verlages und der Harvard University Press entstehende, von Jürgen Osterhammel und Akira Iriye herausgegebene sechsbändige Geschichte der Welt ist ein vorläufiger Höhepunkt des Booms, den die sogenannte Globalgeschichte seit einigen Jahren erfährt.
Der klassische Anspruch der Geschichtsschreibung auf Überblick und Vollständigkeit – der gänzlich unbescheidene Reihentitel weist darauf hin – wird aufrechterhalten: Von der Antike bis in unsere Tage soll die Vergangenheit der Welt in den Blick genommen werden. Allerdings geht es den Herausgebern weniger um eine vollständige globale Ereignisgeschichte, als um gemeinsame Strukturen und übergeordnete Prozesse. Dieser Ansatz ermöglicht es ihnen, die schiere Masse des Materials zu bändigen, macht ihr Werk aber auch recht abstrakt.
Keine Metatheorie der Geschichte
Auch wird die Teleologie der klassischen Geschichtsschreibung, in der alles auf die westliche Moderne zuläuft, zumindest abgeschwächt. Mit Mut zur Lücke werden einzelne Themenfelder beleuchtet, ohne einen Gesamtzusammenhang zu behaupten.
Entsprechend bescheiden gibt sich Herausgeberin Emily S. Rosenberg in ihrer Einleitung zum fünften Band, 1870-1945. Weltmärkte und Weltkriege (München: Beck 2012, 1152 S., 48,00 €): Man liefere "keine Metatheorie der Geschichte" und betone stattdessen das "Ungleichmäßige des Wandels, der sich im Rahmen von Austausch und Relationalität vollzieht und nicht durch eindimensionale, übergreifende Faktoren vorangetrieben wird."
Die Globalgeschichte stellt sich als bewusster Gegenentwurf zu den sogenannten Großen Erzählungen der klassischen Geschichtsschreibung gegen den Eurozentrismus. Der Berliner Historiker Sebastian Conrad betont in seiner Einführung in die Forschungsrichtung (Globalgeschichte. Eine Einführung, München: Beck 2013, 296 S., 14,95 €) den emanzipatorischen Charakter dieser Art der Geschichtsschreibung.
Diese könne ein Weltbürgertum nach sich ziehen, so wie die Nationalgeschichte den modernen Staatsbürger hervorgebracht habe. Ein ähnliches Sendungsbewusstsein lässt auch Iriye erkennen, wenn er etwas weihevoll dafür plädiert "das noch immer einflussreiche mono-nationalistische Denken zu bekämpfen" um so "den Generationen, die die Erde erben und vor der Aufgabe stehen, die Welt noch weiter zu transnationalisieren, ein wertvolles Geschenk zu hinterlassen." Man fragt sich an dieser Stelle, ob eine solche programmatische Indienstnahme der Geschichtswissenschaft ihrem Anspruch auf Objektivität noch gerecht werden kann.
Außerdem stellt sich die Frage, ob nicht im Bemühen um eine angemessene Einbeziehung der ganzen Welt in das historische Narrativ, manche Weltgegend und manche Kultur wiederum unter die Räder kommt. Wenn nun nicht mehr gekrönte Häupter europäischer Mächte das Weltgeschehen bestimmen, sondern abstrakte Mächte und wie von Geisterhand geführte Strukturveränderungen, so ist die Frage nach der Definitionsmacht dessen, was Geschichte (aus)macht noch nicht beantwortet.
Mit anderen Worten: Auch Konzepte und Prozesse wie die "Kommodifizierung des ländlichen Raumes", um wahllos ein Beispiel aus dem fünften Band der Geschichte der Welt herauszugreifen, müssen sich Fragen nach der eurozentrischen Herkunft ihrer Begrifflichkeit gefallen lassen. Und auch die Blickrichtung der Forschung folgt weithin dem traditionellen Muster von Zentrum und Peripherie.
Wenn Akira Iriye als Herausgeber des sechsten Bandes (1945 bis heute. Die globalisierte Welt, München: Beck 2013, 955 S., 48,00 €) schreibt, die "Länder und Völker in nichtwestlichen Teilen der Welt" hätten sich "nicht einfach nur in eine westlich geprägte Welt eingefügt", sondern selbst Geschichte gemacht, dann ist in der Formulierung die Sonderstellung des Westens zugleich in Frage gestellt und zementiert.
Abschied vom Eurozentrismus?
Maßstab und Fluchtpunkt der Darstellung ist und bleibt Europa inklusive seiner überseeischen Ableger. Hier wird weiterhin die Norm verortet. Dass die globalen Abweichungen von dieser Norm nun nicht mehr automatisch als Zeichen eines minderwertigen kulturellen und politischen Entwicklungsstatus dargestellt werden, ist ein klarer Fortschritt.
Dass sämtliche Konzepte und Begriffe der europäischen Tradition entstammen, zeigt aber, dass dem Eurozentrismus letztlich nicht zu entkommen ist. Hier offenbart sich ein Grunddilemma der Globalgeschichte mit ihrem Anspruch, den Eurozentrismus zu überwinden. Da nicht nur die Idee des Eurozentrismus europäisch ist, sondern auch die Kritik am Eurozentrismus, gibt es offenbar kein Entkommen.
Wenn Rosenberg formuliert, "dass sich die Geschichtswissenschaft vom Eurozentrismus verabschiedet und einer multizentrischen, vernetzten Perspektive zugewandt hat", dann bricht sich hier ein an Blauäugigkeit grenzender Optimismus Bahn. Bescheidener formuliert Jürgen Osterhammel in der Einleitung zu seinem globalhistorischen Bestseller Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (München: Beck 2009, 1568 S., 49,90 €).
Für Osterhammel will Weltgeschichte '"Eurozentrismus' ebenso wie jede andere Art von naiver kultureller Selbstbezogenheit überwinden", und zwar "durch ein bewusstes Spiel mit der Relativität von Sichtweisen." Damit redet er keineswegs einem postmodernen anything goes das Wort, sondern hält - im Gegenteil - die Meistererzählungen weiterhin für "legitim": "Die postmoderne Kritik an ihnen hat sie nicht obsolet, sondern bewusster erzählbar gemacht."
"Relativität von Sichtweisen"
Es kann mithin nicht darum gehen, die der eigenen Forschung zugrundeliegenden Prämissen zu verleugnen. Es gilt stattdessen, sie bewusst zu machen. Nur indem man die eigenen Prämissen mit denen anderer Weltbilder und Kulturen konfrontiert, erfährt man die von Osterhammel geforderte "Relativität von Sichtweisen". Geschichtswissenschaft und Regionalwissenschaften wie die orientalistischen Disziplinen können und müssen sich darum ergänzen.
Die Globalgeschichte stellt durch ihre prinzipielle Offenheit für alternative Sichtweisen eine Annäherung von der einen Seite dar, so wie die seit einiger Zeit zu konstatierende erhöhte methodologische Sensibilität der früher eher theorieabstinenten Orientalistik eine Annäherung an die allgemeine Geschichtswissenschaft bedeutet.
Der globalgeschichtliche Blick auf das große Ganze kann vom Austausch mit denen, die sich mit den feinen Unterschieden des Speziellen befassen, nur profitieren. Umgekehrt können die Spezialisten vom Überblick und von den Fragestellungen der Globalhistoriker profitieren.
Andreas Pflitsch
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de