Assad ist der lachende Dritte

Im Nordosten Syriens streiten die USA und die Türkei über den Umgang mit den Kurdenmilizen. Davon könnte das Regime profitieren – und mit russischer Hilfe die Kontrolle gewinnen. Ein Essay von Kristin Helberg

Essay von Kristin Helberg

Er spielt seine Rolle gut: Baschar al-Assad, das personifizierte "geringere Übel". Seit Jahren feiert der syrische Präsident damit einen Erfolg nach dem anderen. Denn mit seiner Herrschaft weiß man, was man hat.

Die Syrer haben ein mafiaähnlich organisiertes, mit Angst regierendes und systematisch folterndes Regime – immerhin besser als ein lebensfeindliches Kalifat. Die Israelis sind mit Assad als berechenbarem Gegner nebenan gut gefahren – ideologisierte Hardliner wären schlimmer. Die USA unter Donald Trump finden Irans Ajatollahs inzwischen wieder "böser" als Damaskus' Despoten. Und Europa empört sich über Assads Kriegsverbrechen, fürchtet Chaos, Staatszerfall und weitere Geflüchtete aber mehr. Außerdem töten die Schergen des Regimes nur Syrer und keine Europäer, alles halb so schlimm also.

Als "geringeres Übel" hat es Assad deshalb weit gebracht. Mit russischer und iranischer Unterstützung zerstörte er jede echte Alternative zu seiner Herrschaft. Sämtliche Akteure des Konflikts haben sich mit seinem Verbleib an der Macht arrangiert. Sein Sicherheits- und Propagandaapparat hat die Gesellschaft gespalten: Alawiten und Sunniten hassen sich, Moderate und Radikale bekämpfen sich gegenseitig, Araber und Kurden stehen sich in blindem Nationalismus feindlich gegenüber. Und Assad ist stets der lachende Dritte.

Kein demokratisches Modell, aber erträglich

Wer dieses Drehbuch jetzt noch einmal live mitverfolgen möchte, sollte die Entwicklung im Nordosten des Landes beobachten. Dort regiert die kurdische Partei der demokratischen Union (PYD) – Schwesterpartei der PKK – ein weitgehend autonomes Gebiet. Ein Ein-Parteien-Regime, das Kritiker verfolgt, aber Frauen fördert – kein demokratisches Modell, aber aus Sicht vieler syrischer Kurden erträglich im Vergleich zu den Zuständen im Rest des Landes und anderswo in der Region.

YPG-Einheiten in Rojava; Foto: picture-alliance/dpa
Ankara ein Dorn im Auge: Die Türkei sieht die Kurdenmiliz YPG als Terrororganisation an und hat angekündigt, sie zu zerschlagen. Seit der Ankündigung des Abzugs der US-Truppen aus Syrien gibt es Sorge vor einem dadurch entstehenden Sicherheitsvakuum im Norden und Osten Syriens. Die Kurden befürchten nach einem US-Abzug eine Offensive der Türkei auf syrischem Gebiet.

Die Streitkräfte der PYD sind die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die den Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) am Boden angeführt haben – unterstützt von den USA, aber auch von Frankreich, Großbritannien und Deutschland aus der Luft. Fast überall, wo der IS seit 2014 vertrieben wurde, übernahm die PYD die Macht – mancherorts mit lokalen Partnern. Deshalb umfasst das Einflussgebiet der Kurden-Partei inzwischen ein Viertel des Landes, darunter auch arabische Städte wie Rakka. Seit März 2016 nennt es sich Demokratische Föderation Nordsyrien, auf Kurdisch "Rojava".

Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ist Rojava ein "Terrorstaat", der aufgrund seiner engen Verbindungen zur PKK die Sicherheit der Türkei gefährdet. Deshalb möchte er die PYD aus der Region vertreiben. Was im kurdischen Kanton Afrin Anfang 2018 gelang, soll sich östlich des Euphrats wiederholen. Dort steht das türkische Militär bereit zum Angriff – mit syrischen Rebellen an seiner Seite, die in den vergangenen Jahren von Revolutionären zu Vasallen degeneriert sind. Für Erdoğan sind sie nützliche Söldner im Kampf gegen die Staatsfeinde der YPG. Die Verbündeten des Westens sind Ankaras Terroristen.

USA ohne Ansatz einer Strategie

Dass sich daran bis auf Weiteres nichts ändern wird, haben Gespräche zwischen amerikanischen und türkischen Vertretern gerade gezeigt. US-Sicherheitsberater John Bolton reiste nach Ankara, um der türkischen Führung das Versprechen abzuringen, im Falle eines amerikanischen Truppenabzugs die Kurden nicht anzugreifen. Doch Erdoğan ließ ihn abblitzen. Damit bleibt die amerikanische Präsenz aktuell die einzige Garantie dafür, dass die Türkei nicht in Rojava einmarschiert.

Die große Frage ist also, wann und unter welchen Bedingungen die USA ihre 2.000 Soldaten aus Syrien abziehen werden, und wie sie Erdoğan dann von einer Offensive abhalten wollen.

Auf die Frage nach den Abzugsplänen gibt es in Washington so viele Antworten, dass nichts entschieden scheint. Präsident Trump widerspricht sich in seinen Tweets und Äußerungen ständig selbst – mal soll es schnell gehen, dann hat er angeblich nie gesagt, dass es schnell gehen würde, Syrien will er nicht ("nur Sand und Tod"), den IS auch nicht, den sollen aber andere bekämpfen (Iran, Russland, Türkei).

Dann wiederum will er nicht komplett abziehen, bis der IS verschwunden ist, die Kurden sollten geschützt werden, aber Ankara darf "den Terror" bekämpfen (Erdoğan meint die YPG, Trump den IS). Aus diesen von Unkenntnis gezeichneten verbalen Schnellschüssen und ohne den Ansatz einer Strategie versuchen Außenminister Mike Pompeo und Sicherheitsberater Bolton praktische Politik abzuleiten – ohne Erfolg.

Mit Freiheit und Gerechtigkeit hat das nichts zu tun

Dagegen lässt sich die Frage, wie die USA ohne Truppen vor Ort die Kurden schützen wollen, einfach beantworten: Sie können es nicht. PYD und YPG haben das längst erkannt und suchen ihr Heil jetzt andernorts – in Moskau und Damaskus. Der Abzug der USA macht den Weg frei für Putins Pläne und somit Assads Rückkehr in den Nordosten. Moskau möchte das Gebiet wieder unter vollständige Regime-Kontrolle bringen, die kurdische Selbstverwaltung zerschlagen, die PYD mit ein paar kulturellen Rechten abspeisen und die YPG in Syriens Streitkräfte integrieren.

Mit dieser Aussicht würde Erdoğan auf eine Offensive verzichten, so das Kalkül. Zumal diese innerhalb der türkischen Führung durchaus umstritten ist, denn die YPG-Einheiten sind östlich des Euphrats dank der Amerikaner besser ausgestattet und ein Angriff wie auf Afrin vor einem Jahr würde international Kritik und Solidarität mit den Kurden auslösen.

Putins Vision stößt in Ankara deshalb auf offene Ohren: Sollten Assads Truppen einrücken, würden die Volksverteidigungseinheiten abziehen, das Regime an der Grenze wirke wie ein Puffer zwischen PYD und PKK und Assad könne als einziger die "territoriale Einheit des Landes" sicherstellen, also eine kurdische Autonomie nachhaltig verhindern.

Womit wir wieder bei Assads Lieblingsrolle als "geringerem Übel" wären. Aus Sicht der PYD ist das syrische Regime besser als Erdoğan. Und Erdoğan arrangiert sich lieber mit Assad als mit den Waffenbrüdern der PKK. Damit bestätigt sich eine der Grundregeln des Konfliktes: Wenn sich in Syrien zwei Parteien streiten, profitiert stets Assad als lachender Dritter.

Die Kurden haben keine Wahl

Wie geht es also weiter in Rojava? Auf Bitten der YPG hat das Regime Anfang Januar Truppen nach Manbidsch geschickt, die einzige große Stadt unter kurdischer Verwaltung westlich des Euphrats. Seit Langem will die Türkei Manbidsch mithilfe von Rebellen unter ihren Einfluss bringen, Verhandlungen mit den USA, deren Truppen vor Ort sind, führten zu nichts. Jetzt haben sich Assads Soldaten zwischen die Türkei-treuen Rebellen und die kurdischen Volksverteidigungseinheiten gestellt, ein Einmarsch scheint abgewendet.

Sollte die Zusammenarbeit zwischen YPG und Regime in Manbidsch funktionieren, könnte Damaskus weitere Truppen nach Rojava entsenden und entlang der Grenze zur Türkei stationieren.

Gleichzeitig verhandelt die PYD unter russischer Vermittlung mit dem Regime. Solange die Amerikaner militärisch präsent sind, können die Kurden mehr fordern – ein unklarer, nicht vollständiger oder langsamer US-Abzug würde ihre Position gegenüber dem Regime und Russland stärken. Am Ende wird das Abkommen dennoch vor allem Damaskus' Interessen berücksichtigen, denn die entscheidenden Interventionsmächte Russland, Iran und Türkei wollen in Syrien alle einen starken Zentralstaat. Im Nordosten bedeutet das möglichst viel Macht für das Regime und möglichst wenig Rechte für die Kurden.

Diese haben ohne zuverlässige amerikanische oder europäische Rückendeckung keine Wahl. Da sich alle Welt mit Assads Herrschaft abgefunden hat, werden auch sie sich weiterhin mit dem Regime arrangieren. Mit kulturellen Zugeständnissen, kurdischsprachigen regimetreuen Medien und eigenem Sprachunterricht könnte die PYD ihr Gesicht wahren, mit einer schleichenden Übernahme durch das Regime und pseudo-dezentralen Strukturen könnte sie ihren Machtverlust kaschieren.

Der Traum von Autonomie ist für Syriens Kurden dann vorerst geplatzt. In den Amtsstuben und Klassenzimmern von Rojava werden die Bilder des PKK-Führers Öcalan abgehängt und die Assad-Porträts wieder aufgehängt werden. Mit Freiheit und Gerechtigkeit hat das alles nichts zu tun. Aber dafür scheint in Zeiten "kleiner" und "großer" Übel ohnehin kein Platz in Syrien.

Kristin Helberg

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