Alle Macht den Stämmen

Der von Benghazi ausgehende Aufstand hat die Rolle der Opposition in Libyen vollkommen verändert. Die Exilopposition, die in den internationalen Hauptstädten den Ton angab, ist über Nacht bedeutungslos geworden.

Von Hanspeter Mattes

​​Die libysche Opposition hat sich seit der "Revolution vom 17. Februar" sowohl in ihrer Verteilung zwischen Inland und Ausland als auch in ihrer Zusammensetzung drastisch verändert. Gleich geblieben ist hingegen der kleinste gemeinsame Nenner: der Sturz des Gaddafi-Regimes sowie die starke Zersplitterung der Opposition. Deren Spektrum reicht von Monarchisten über Panarabisten bis zu Islamisten, Menschenrechtsaktivisten und Anhängern westlicher Politikmodelle.

Die Opposition seit 1969 – ein Rückblick

Die von Muammar al-Gaddafi mit dem Sturz der Sanusi-Monarchie am 1. September 1969 begründete "Septemberrevolution" war mit dem Anspruch angetreten, Missstände zu beseitigen und Libyen zu entwickeln. Die Revolutionsführung gab hierbei in Reden Gaddafis, dem "Grünen Buch" als ideologischer Handlungsgrundlage und in anderen Dokumenten, den Kurs vor. Widerstand gegen Maßnahmen der Revolutionsführung wurden durch das noch im Dezember 1969 verabschiedete Gesetz zum Schutze der Revolution als konterrevolutionär verfolgt und bis hin zur Todesstrafe geahndet.

Die politische Entwicklung seit 1969 ist folglich von aufeinanderfolgenden Konflikten zwischen der Revolutionsführung und jenen sozialen Schichten und Berufsgruppen gekennzeichnet, die der ideologischen Umgestaltung im Wege standen oder sich ihr aktiv widersetzen.

​​Die ersten beiden gesellschaftlichen Gruppen, die bewusst gegen politische Maßnahmen Unmut äußerten, waren die Studenten und jene Intellektuelle, die sich nicht kooptieren ließen. Sie lehnten die Politikvorgaben durch Gaddafi ab und forderten eine (konterrevolutionäre) Politikformulierung von unten via Parteien, Gewerkschaften und freie Berufsverbände. Repression war die Folge.

Eine weitere Berufsgruppe, die mit der 1973 initiierten Volksrevolution zur Zielscheibe gaddafischer Rhetorik wurde, war die Beamtenschaft, die folglich durch Volkskomitees aus den Ämtern getrieben wurde.

Die von Gaddafi 1975 propagierte islamische Revolution, die später auch von saudischen Rechtgelehrten als ketzerisch gebrandmarkt wurde, führte zum offenen Konflikt mit den Rechtsgelehrten und Imamen. Auch hier wurde Widerstand rigoros verfolgt und nicht nur Scheich Bishti aus Tripolis bezahlte das Festhalten an Sunna und Hadith, die Kritik an der Kalenderreform etc. mit dem Leben.

Die Situation eskalierte, als Gaddafi zur Durchsetzung und Sicherung der Revolution ab 1976 loyale Anhänger landesweit in Revolutionskomitees organisierte. Diese waren es, die den Widerstand der Händler, Wohnungseigentümer und Unternehmer gegen die Umsetzung der im zweiten Teil des "Grünen Buches" (veröffentlicht 1978) propagierten Enteignungs- und Sozialisierungspolitik brachen.

Repressionen im In- und Ausland

Vor allem Anfang der 1980er Jahre gab es hierbei in Libyen zahlreiche Exekutionen. Aber selbst die vor der Repression zu jener Zeit ins Ausland geflüchteten Libyer waren dort ihres Lebens nicht sicher, weil sie auch in Rom, London, Bonn und anderswo von Revolutionskomitees verfolgt und ermordet wurden. Mehr als 30 politische Morde sind aktenkundig.

Es ist folglich kein Zufall, wenn in den militanten Revolutionsjahren seit Ende der 1970er Jahre von den Exillibyern im Ausland – überwiegend in den USA und Großbritannien – viele Oppositionsgruppen mit dem Ziel, das Revolutionsregime zu stürzen, gegründet wurden. Beispiele sind der "Libyan Democratic National Movement" (1979), die "Islamic Group" (1979), die Democratic National Libyan Front (1980), die "National Front for the Salvation of Libya/NFSL" (1981) oder der "Libyan National Struggle Movement" (1985).

​​Von den insgesamt über 25 Exilorganisationen sind allerdings längst nicht alle bedeutsam gewesen, zudem waren sie zerstritten und konnten nur mit Mühe zwei Nationalkonferenzen (London 2005 und 2008) organisieren. Am ehesten bedeutsam war noch die NFSL unter ihrem derzeitigen Generalsekretär Ibrahim Sahd sowie die "Constitutional Union" unter Mohamed Ben Ghalbun, die monarchisch ausgerichtet ist und unterstützt vom Sanusikronprinzen Mohamed ibn Sayyid Hasan al-Sanusi in Ostlibyen aktiv ist. Die Flagge der Sanusi-Monarchie ist nun sogar zum Symbol der Oppositionsbewegung geworden.

Innerhalb Libyens selbst kam seit den 1990er Jahren die aktivste Opposition gegen das Regime aus den Reihen des Militärs und der islamistischen Gruppen. Nachdem es 1977 und 1980 erste Revolten innerhalb der Streitkräfte über Sold- und Einsatzprobleme gab, starteten Militärangehörige des Warfalla-Stammes im März 1993 eine Rebellion, um Gaddafi zu stürzen und vor allem mehr Warfalla-Stammesangehörige in hohe Militärposten und politische Ämter zu bringen.

Die sechs Anführer um Oberst Gharum wurden jedoch 1997 hingerichtet. Im März 1997 ließ Gaddafi zudem vom Parlament einen "Ehrenkodex" verabschieden, der Stämme kollektiv mit dem Entzug staatlicher Dienstleistungen belegt, wenn sie nicht oppositionelle Aktivitäten ihrer Mitglieder verhindern.

Der Stellenwert der islamistischen Opposition

Weitaus gefährlicher für das Regime waren aber die islamistischen Gruppen wie die sogenannte "Libysche Islamische Kämpfende Gruppe" oder die "Islamische Märtyrerbewegung", die sich Anfang der 1990er Jahre bildeten und deren Kern aus Afghanistan zurückgekehrte Mujahidin waren. Sie kämpften offensiv und mit Waffengewalt für die Errichtung eines islamischen Staates und den Sturz des Ketzers Gaddafi, unterlagen am Ende aber der Repressionsmaschinerie und wurden entweder getötet oder verhaftet.

Erst Saif al-Islam al-Gaddafi ist es dann im Rahmen seiner nationalen Versöhnungspolitik gelungen, die inhaftierten Islamisten in den letzten Jahren freizubekommen, die letzten 113 Inhaftierten Anfang 2011.

Nur mit Einzelakten, also punktuellen Protesten, ist in den letzten Jahren die ethnisch geprägte Opposition aktiv geworden. Dies bezieht sich zum einen auf die berberische Oppositionsbewegung, die sich gegen die sprachliche und kulturelle Marginalisierung der Berber in Libyen – immerhin zehn Prozent der Bevölkerung – wendet.

Der 2002 gegründete "Libyan Tmazight Congress" agiert aber weniger militant und konnte 2007 sogar einen Kongress in Libyen abhalten und seine Forderungen der Regierung – wenngleich folgenlos – vortragen.

Die Tubu aus der Region Kufra entschlossen sich hingegen in den letzten Jahren mehrfach zu öffentlichen Protesten (mit tödlichen Auseinandersetzungen). Der Anführer der "Tubu-Front for the Salvation of Libya", Isa Abd al-Majid Mansur, hat nach Beginn der Revolte am 17. Februar umgehend die Oppositionsbewegung unterstützt, so dass der Südosten Libyens um Kufra heute als befreit gilt.

Die Opposition seit der Revolution des 17. Februar

Die von Benghazi ausgehende Oppositionsbewegung hat die Rolle der Opposition und ihr Erscheinungsbild vollkommen verändert. Tatsache ist, dass die Exilopposition, die in früheren Jahren in den internationalen Hauptstädten für das libysche Volk sprach und den Ton angab, quasi über Nacht bedeutungslos wurde. Einzige Ausnahme ist die monarchische Exiloppositionsgruppe. In den meisten europäischen Hauptstädten führen heute die Anhänger der Oppositionsbewegung die Anti-Gaddafiproteste an und haben auch einzelne Botschaften übernommen.

​​Aber auch im Inland hat sich das Profil der Opposition komplett verändert. Insofern binnen zwei Wochen ganz Ostlibyen vom Gaddafi-Regime befreit wurde, gelten heute dort die Überreste des alten Regimes als Opposition. Die siegreiche Aufstandsbewegung, die sich inzwischen in jedem Ort in Lokalräten und seit dem 27. Februar auf regionaler Ebene in einem Nationalen Übergangsrat organisiert und institutionalisiert hat, wird ihrerseits von den die Gesellschaft stark verankerten Stämmen geprägt: den Zuwaya, Ubaidat, Awlad Ali, Awaqir und vielen mehr.

Zwar waren hauptsächlich Libyens Jugendliche sowie jüngere Erwachsene aus den Stämmen und Großfamilien, aber auch die Vereinigung der Rechtsanwälte aus Benghazi, an der Organisation der Proteste beteiligt, doch werden die Entscheidungen in den neuen Gremien von den Stammesscheichs oder den von ihnen entsandten Stammesmitgliedern getroffen. Dies gilt analog für die gegenwärtig neu entstehenden Militärkomitees, in denen die übergelaufenen Offiziere aus den dominanten Stämmen das Sagen haben – diesmal im Dienste der Revolution des 17. Februar.

In Westlibyen hat sich die Oppositionsbewegung gleichfalls manifestiert, sei es dadurch, dass sich die meisten Stämme ab dem 20. Februar vom Gaddafi-Regime lossagten, sei es, dass sich eigenständige Gruppen wie die "Jugend der Aufstandes vom 17. Februar" in Tripolis gründeten.

Aber auch wenn die Aufstandsbewegung in Ostlibyen erfolgreich war, so hat sie bislang nur den kleinsten gemeinsamen Nenner für die Cyrenaika erreicht, nämlich das Ende des Gaddafi-Regimes.

Die eigentlich Auseinandersetzung über die Gestaltung der Zukunft steht – abgesehen vom Sturz des Gaddafi-Regimes – in Westlibyen noch aus: geht es Richtung Monarchie oder bleibt Libyen eine Republik? Gibt es ein Präsidialsystem oder eine parlamentarische Demokratie? Wie stark ist die Rolle der Religion im Staate? Gibt der Zentralstaat Macht an dezentrale Einheiten ab? Wie ist das Verhältnis von Staatswirtschaft zu Marktwirtschaft? Und welche Rechte werden den Frauen und den Minderheiten eingeräumt? All dies ist ungeklärt und damit eine Periode der Instabilität vorgezeichnet.

Hanspeter Mattes

© Qantara.de 2011

Der Maghrebexperte Dr. Hanspeter Mattes ist Stellvertreter des Direktors am GIGA Institut für Nahoststudien in Hamburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Entwicklung der politischen Institutionen sowie Transformationsprozesse in Libyen und anderen Maghrebstaaten.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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