Gehen oder bleiben?

Fast 700.000 Menschen mit ausländischem Pass leben in Libyen. Viele von ihnen sind Migranten, die nach Europa weiterreisen wollen. Aufgeben ist für viele keine Option, aber manche bleiben auch.
Fast 700.000 Menschen mit ausländischem Pass leben in Libyen. Viele von ihnen sind Migranten, die nach Europa weiterreisen wollen. Aufgeben ist für viele keine Option, aber manche bleiben auch.

Fast 700.000 Menschen mit ausländischem Pass leben in Libyen. Viele von ihnen sind Migranten, die nach Europa weiterreisen wollen. Aufgeben ist für viele keine Option, aber manche bleiben. Von Islam Alatrash

Von Islam Alatrash

Ali Majdi hat von dem Fischerboot gehört, das erst kürzlich auf dem Weg von Libyen nach Europa vor der Küste Griechenlands kenterte. Er weiß, dass es mit Migranten überladen war und dass vermutlich Hunderte von ihnen ertrunken sind. Trotzdem ist er entschlossen, die Überfahrt nach Europa zu wagen.

Der 28-Jährige ist aus Syrien geflohen und hat bereits einmal versucht, Libyen in Richtung Europa zu verlassen. Im Küstenort Sawija zahlte er 1800 Euro an Schlepper und schaffte es an Bord eines Bootes, das das Mittelmeer überqueren sollte. Er hoffte, es bis nach Deutschland zu schaffen, wo seine Familie jetzt lebt, sagt er. Seit acht Jahren hat er sie nicht mehr gesehen.

Doch das Boot wurde von der libyschen Küstenwache abgefangen und gezwungen, umzudrehen. "Meine Hoffnungen wurden zerschlagen", sagt Majdi zur Deutschen Welle (DW). "Sie zwangen mich, hierher zurückzukehren. Ich war am Boden zerstört. Aber ich bin fest entschlossen, es wieder zu versuchen." Die Risiken seien ihm bewusst, beteuert er. "Aber ich möchte trotzdem über das Mittelmeer. Ich muss nach Deutschland."

 Majdi hat Arbeit in einem Kebab-Restaurant gefunden; Foto: Islam Alatrash
Leben im Dazwischen: Der 28-jährige Majdi aus Syrien hat Arbeit in einem Kebab-Restaurant gefunden. Er wollte nach Europa, doch das Boot wurde von der libyschen Küstenwache abgefangen und gezwungen, nach Libyen zurückzukehren. "Meine Hoffnungen wurden zerschlagen", sagt Majdi zur Deutschen Welle (DW). "Sie zwangen mich, hierher zurückzukehren. Ich war am Boden zerstört. Aber ich bin fest entschlossen, es wieder zu versuchen."

Libyen - ein Eldorado für Menschenschmuggler

Majdi ist einer von Hunderttausenden Migranten in Libyen. Einige haben nicht vor weiterzureisen, andere versuchen genau das. Doch während Majdi Arbeit gefunden hat, werden viele in Internierungslagern festgehalten, in denen die Gefahr groß ist, misshandelt zu werden. Zahlen der UN zufolge leben zurzeit 680.000 Ausländer in Libyen und stellen damit mehr als zehn Prozent der Bevölkerung.

Mehr als zehn Jahre nach dem Sturz des Diktators Muammar Gaddafi ist das nordafrikanische Land noch immer politisch zerrissen und hat sich zu einem stark frequentierten Zwischenstopp für Migranten entwickelt, gleichgültig, ob diese sich aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen auf den Weg gemacht haben. Denn die Küste Libyens ist nicht allzu weit entfernt von Italien oder Griechenland. Mehr als 56.000 Menschen haben insgesamt in den ersten drei Monaten dieses Jahres den Weg über das Meer nach Italien gewagt. Etwa die Hälfte davon stach von Libyen aus in See.

Natürlich macht sich Majdi Sorgen wegen der Lebensgefahr, in die er sich beim Versuch, das Meer zu überqueren, begibt. Doch er erzählt der DW auch, dass ihm die griechische Küstenwache Furcht einflößt.



"Ich habe Angst, dass sie mich daran hindern, zu meiner Familie zu kommen. Gegenüber Migranten, die mit dem Boot über das Meer fuhren, auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben, haben sie schreckliche Fehler begangen", fügt er angesichts der Tragödie um das Fischerboot "Adriana" hinzu. Das überladene Schiff war im vergangenen Monat gekentert, Hunderte von Menschen starben. Welche Rolle die griechische Küstenwache dabei spielte, ist noch nicht vollständig geklärt.

Manche Migranten finden in Libyen eine neue Heimat

Es gibt aber auch Migranten, die in Libyen bleiben wollen. Rida Solan kommt ursprünglich aus Pakistan und wollte zunächst ebenfalls nach Europa, um dort Geld zu verdienen. Experten zufolge reisen Syrer, Pakistaner und Bangladescher oft über zivile Flugrouten aus Syrien nach Libyen ein, während Migranten aus anderen Regionen, zum Beispiel aus Afrika, die Landroute nach Libyen wählen.

Migranten wagen trotz der Risiken die Fahrt übers die Mittelmeer; Bild: Oliver Weiken/dpa/picture alliance
Legale Einreise statt lebensgefährlicher Überfahrt: "Die beste Möglichkeit, Migranten und Flüchtlinge vor schweren Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen entlang der zentralen Mittelmeerroute zu schützen, ist eine auf Rechten basierende, gemeinsame Antwort der EU auf die Migrationsströme", schreibt Marwa Mohamed, Leiterin von Advocacy and Outreach bei der Organisation Lawyers for Justice in Libya. Nur so könnten die Netzwerke der Schleuser- und Menschenhändler und ihr verbrecherisches Handwerk bekämpft werden.



Sein erster Versuch, das europäische Ufer zu erreichen, kostete den 31-jährigen Rida Solan 2000 Euro. Er zahlte das Geld an Schlepper im Küstenort Sawija, der als Drehscheibe für den Menschenschmuggel bekannt ist. Doch auch Solan wurde festgenommen und nach Libyen zurückgeschickt, von den italienischen Behörden.



Nun hat er sich entschieden, in Libyen zu bleiben. In einer Saftbar in der Küstenstadt Misrata, etwa 220 Kilometer von Sawija entfernt, hat er Arbeit gefunden und ist froh, Geld verdienen und sparen zu können.

"Ich schwöre, ich werde nicht wieder an Migration denken oder mein Leben riskieren", versichert er der DW. "Ich habe mich entschlossen, hier zu bleiben und in Misrata zu arbeiten, weil es eine der sichersten Städte in diesem Land ist."



Mit Blick auf die Lebenshaltungskosten fügt er hinzu: "Libyen ist gut, weil hier alles umsonst ist, auch Strom und Wasser. Ich kann also mehr Geld sparen als in Europa." Denn in Libyen funktioniert zwar die Strom- und Wasserversorgung, doch weil es keinen handlungsfähigen Staat gibt, werden die Gebühren hierfür nur selten eingetrieben.

Werbung für die "sicherste Route" nach Europa

Bis Mitte Juni 2023 wurden 7292 Personen von der Küstenwache nach Libyen zurückgebracht, meldet die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen. Im selben Zeitraum starben auf der sogenannten zentralen Mittelmeerroute 662 Personen, 368 werden vermisst. Diese Todes- und Vermisstenfälle sind der Grund, warum Menschenschmuggler in Libyen mit einer sicheren Reise über das Mittelmeer werben.

Die DW hat einen Schleuser kontaktiert, der auf der Plattform Tiktok für seine Dienste wirbt und damit prahlt, "die sicherste Reise nach Europa" zu bieten. In einem über die soziale Medienplattform geführten Interview betonte der Menschenschmuggler, der seinen richtigen Namen nicht nennen wollte, immer wieder, die Reise mit ihm sei "außerordentlich sicher". Für 2500 Euro pro Person könne er Überfahrten zwischen Tobruk in Libyen und der italienischen Küste organisieren.

Die libysche Küstenwache im Einsatz - hier gegen ein Flüchtlingsboot; Foto: Islam Alatrash
Libysche Sicherheitskräfte überwachen die Küste: Je nachdem, wie groß das Risiko ist, das die Migranten bereit sind einzugehen, zahlen sie zwischen 500 und 2000 US-Dollar (460 bis 1840 Euro) an Schlepper wie Ismail und seine Kollegen. Wer den niedrigeren Preis zahlt, muss sich auf eine Reise auf einem Schlauchboot mit etwa 50 bis 200 Personen einstellen - eindeutig die gefährlichere Option. Die Höchstpreise umfassen auch die Bestechung libyscher Grenzbeamter, die dabei helfen, die Migranten auf Handelsschiffen zu verstecken.



Ein weiterer Schlepper machte das gleiche Angebot bei einem Gespräch über Whatsapp. Auch er behauptet, seine Überfahrten nach Europa seien die sichersten, die man in Libyen finden könne.

Ismail hat früher als Sicherheitsmann für die libysche Regierung gearbeitet, bis er sich dem Menschenschmuggel zuwandte. Auch er will wegen seiner Tätigkeit weder seinen vollen Namen noch sein Alter nennen. Weil der Menschenhandel viel bessere Verdienstmöglichkeiten bietet, kündigte er seine frühere Stelle. Schließlich hatte die Regierung sein Gehalt manchmal monatelang nicht gezahlt, betont er.

Ismael nutzt ebenfalls Tiktok, um Kunden anzuwerben und spricht über die Direktnachrichtenfunktion der Plattform mit der DW. Er räumt ein, dass seine Werbevideos auf Tiktok ein unrealistisches Bild davon geben, welches Leben die Migranten nach Erreichen ihres Ziels in Europa erwartet.

Je nachdem, wie groß das Risiko ist, das sie bereit sind einzugehen, zahlen Migranten zwischen 500 und 2000 US-Dollar (460 bis 1840 Euro) an Ismail und seine Kollegen. Wer den niedrigeren Preis zahlt, muss sich auf eine Reise auf einem Schlauchboot mit etwa 50 bis 200 Personen einstellen - eindeutig die gefährlichere Option. Die Höchstpreise umfassen auch die Bestechung libyscher Grenzbeamter, die dabei helfen, die Migranten auf Handelsschiffen zu verstecken.

"Die Arbeit ist hart und ermüdend", schreibt Ismail der DW. "Aber sie ist ausgesprochen einträglich und im Schnitt mache ich zwei Überfahrten pro Woche."

Legale Zugangswege nach Europa sind nötig

Ein Mitarbeiter der libyischen Küstenwache in Sawija wollte sich nur inoffiziell äußern, weil er nicht mit Journalisten sprechen darf. Er versicherte der DW jedoch, dass nichts das Geschäft mit den Migranten stoppen könne, solange es so lukrativ sei, diese auf ihrem Weg nach Europa zu unterstützen.

 

 

Experten und Menschenrechtsaktivisten betonen, dass Versuche, die zentrale Mittelmeerroute zu unterbinden, nicht funktionieren und nur zu weiteren Toten auf dem Meer und Missbrauch durch die Schleppernetzwerke in Libyen führen. Im April 2023 stellte eine Untersuchung der Vereinten Nationen fest, dass es zu "schweren und weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen" kommt und es "hinreichende Gründe zu der Annahme" gäbe, dass in Libyen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" an Migranten verübt worden seien.

2022 argumentierte Marwa Mohamed, Leiterin des Bereichs Advocacy and Outreach bei der Organisation Lawyers for Justice in Libya, in einem Kommentar für das European Center for Refugees and Exiles, dass die Europäische Union mehr dafür tun müsse, um die in Libyen festsitzenden Migranten und all jene, die in EU-Länder einreisen wollten, zu unterstützen. Legale Wege zur Einreise nach Europa würden nicht nur Migranten unterstützen und Tod und Misshandlungen verhindern, sie würden auch den europäischen Ländern helfen, ihre drohende Krise auf dem Arbeitsmarkt zu lösen.

"Die beste Möglichkeit, Migranten und Flüchtlinge vor schweren Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen entlang der zentralen Mittelmeerroute zu schützen, ist eine auf Rechten basierende, gemeinsame Antwort der EU auf die Migrationsströme", schloss Mohamed in ihrem Kommentar. Nur so könnten die Netzwerke der Schleuser- und Menschenhändler und ihr verbrecherisches Handwerk bekämpft werden.

Islam Alatrash

© Deutsche Welle 2023 

Mitarbeit: Cathrin Schaer