Ehrfurcht vor Erdogan
Die Sonne scheint, die Menge jubelt und winkt mit bunten Fähnchen. Der Einpeitscher auf dem Dach des Wahlkampfbusses kündigt aufgeregt einen Superstar an. "Jetzt kommt der große Meister", schreit der Mann ins Mikrofon.
Zehntausend Menschen drängen sich auf dem Marktplatz der nordwesttürkischen Stadt Lüleburgaz hinter der Absperrung rund um den Bus mit dem Emblem und den Wahlkampfparolen der türkischen Regierungspartei AKP. Etliche warten seit vielen Stunden – fast wie auf einen Heilsbringer. Als Recep Tayyip Erdogan dann endlich aus der Dachluke des Busses klettert und die frenetisch jubelnde Menge grüßt, muss er seine Helfer zuerst einmal um ein wärmendes Jackett bitten. Dem großen Meister ist kalt.
Erdogan ist in den letzten Jahren sichtlich gealtert. Seine Schultern sind eingefallen, seine Bewegungen bedächtig. Mehrmals unterbrechen Hustenanfälle die Wahlkampfrede des 57-jährigen Regierungschefs. Dem Mann, der die Türkei stärker verändert hat als alle Ministerpräsidenten seit 30 Jahren und der von seinen Anhängern schon mit dem legendären Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk verglichen wird, ist der Stress des Wahlkampfs anzusehen.
Es wird sein letzter sein, hat Erdogan angekündigt. Bei der Parlamentswahl am 12. Juni will er sich noch mal um ein Mandat bewerben, dann ist Schluss. In ein paar Jahren will Erdogan dann Staatspräsident werden – sagen seine Gegner. Jetzt aber geht es erst einmal um jene Parlamentsmehrheit, die bei den Beratungen über eine neue Verfassung für die Türkei in den kommenden Monaten wichtig sein wird.
"Sultan Erdogan"
Erdogan kann dem 12. Juni beruhigt entgegensehen: Seine islamisch verwurzelte AKP liegt in den Umfragen zwischen 45 und 50 Prozent – und damit weit vor allen anderen Parteien.
Einen wichtigen Sieg kann Erdogan bereits verbuchen: Der bittere ideologische Zwist zwischen Säkularisten und Erdogans frommen Anatoliern, der vor wenigen Jahren fast zum Verbot der AKP geführt hatte, spielt fast keine Rolle mehr. Erdogan hat ihn klar für sich entschieden.
Im Wahlkampf 2011 geht es nicht um das Kopftuch, es geht um die Wirtschaft und um Arbeitsplätze. "Wir haben die Inflation von 130 Prozent auf 4,3 Prozent gesenkt", ruft Erdogan, und die Menge vor dem Bus winkt begeistert mit den weiß-orangefarbenen Fähnchen der AKP und den roten der Türkei.
Als eine Gruppe den Sprechchor "Sultan Erdogan" anstimmt, widerspricht der "große Meister" demütig. Nein, ein osmanischer Sultan sei er nicht: "Wir sind nicht an der Regierung, um zu herrschen, sondern um zu dienen." Dann verweist er auf 13.000 Kilometer vierspuriger Überlandstraßen, die unter seiner Regierung gebaut worden sind, und rattert noch andere Errungenschaften herunter.
Das Scheitern der Militärs
Ein ganz normaler Wahlkampf also, aber in der Türkei ist genau das eben nicht normal. Vor vier Jahren, als die türkischen Politiker zuletzt um Wählerstimmen für das Parlament in Ankara warben, ging es nicht um Autobahnkilometer und Inflationszahlen, sondern um die Seele des Landes. Damals drohten die Militärs mit einem Putsch gegen Erdogan, weil Abdullah Gül, ein enger Freund des Premiers und ähnlich fromm, neuer Staatspräsident werden sollte.
Die Militärs scheiterten auf ganzer Linie, die Wähler bescherten Erdogan und seiner Partei mit 47 Prozent ein Traumergebnis, Gül wurde Staatschef, und die politische Landschaft veränderte sich dramatisch. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen putschwütige Militärs und politische Reformen haben die Generäle seitdem weiter geschwächt.
2008 entging die AKP zwar nur knapp einem Verbot, weil sie das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten aufheben wollte. Im vergangenen Jahr wurde das Verbot jedoch stillschweigend fallengelassen, ohne dass jemand groß protestiert hätte.
Die neue Normalität ist auch einem anderen Mann zu verdanken, der an diesem Tag nur wenige Hundert Meter vom AKP-Kundgebungsplatz entfernt und 45 Minuten später in Lüleburgaz Station macht. Kemal Kilicdaroglu ist fünf Jahre älter als der Premier, doch er verkauft sich als Reformer.
Als neuer Chef der verknöcherten Säkularisten-Partei CHP kemalistischer Prägung hat Kilicdaroglu die ständigen Warnungen seiner Partei vor der angeblichen islamistischen Machtergreifung durch traditionelle sozialdemokratische Forderungen nach Arbeitsplätzen und sozialer Gleichberechtigung ersetzt.
Kopftücher erwähnt Kilicdaroglu an diesem Tag in Lüleburgaz mit keinem Wort. Er weiß, dass eine türkische Partei alle Hoffnungen auf eine Regierungsübernahme begraben kann, wenn sie hinter jedem Zeichen der Frömmigkeit finstere Fundamentalisten erspäht, wie die sozialistische CHP das über Jahre getan hat.
Nicht nur bei Erdogans Auftritt, sondern auch in der Menge der CHP-Anhänger vor Kilicdaroglus Bühne in Lüleburgaz sind Frauen mit Kopftuch zu sehen. Sie erwarten vom Oppositionsführer keine antiislamistische Brandrede. Sie erwarten ein Versprechen, dass ihr Alltag in Lüleburgaz leichter wird.
Kilicdaroglu erfüllt diesen Wunsch. "Es wird bei uns keine Arbeitslosigkeit mehr geben", verspricht er der Menge für den Fall seines Wahlsiegs. "Geschlossene Fabriken werden wieder geöffnet."
In der Gegend von Lüleburgaz liegt die Arbeitslosigkeit offiziell bei 14 Prozent und damit drei Prozentpunkte höher als im Landesdurchschnitt, bei jungen Leuten aber liegt die Quote bei 25 Prozent. Gegner wie Anhänger der AKP in der Stadt sagen, der Mangel an Jobs sei das drängendste Problem. "Die Partei ist doch egal, Hauptsache, es wird etwas getan", sagt der Juwelier Efkan Kahya.
Im Wahlkampf setzt Kilicdaroglu auch auf den wachsenden Unmut der Wähler über Anzeichen von Korruption in der AKP. "Eure Kinder sind arbeitslos, aber die Kinder von denen leben in Palästen", sagt der Oppositionschef über die Familien der Spitzenpolitiker in Ankara. Derzeit sieht es nicht so aus, als würde Kilicdaroglu mit diesen Botschaften sein Ziel erreichen, Erdogan abzulösen. Die CHP liegt in den Umfragen bei etwa 25 Prozent.
Politischer Wirbel um Sex-Videos
Trotz ihres Umfrage-Vorsprungs steht Erdogans AKP im Verdacht, mit schmutzigen Mitteln die Konkurrenz klein zu halten. So wird die rechtsnationalistische Oppositionspartei MHP seit Wochen von Sex-Videos erschüttert, die im Internet auftauchten und verheiratete Funktionäre beim Techtelmechtel mit – meist sehr viel jüngeren – Gespielinnen zeigen. In einem Fall soll die Freundin eines Parteifunktionärs von ihrem Geliebten einen Geländewagen erhalten haben - und zwar auf Parteikosten.
Prompt ist die MHP in der Wählergunst abgestürzt und muss inzwischen um den Wiedereinzug ins Parlament bangen – was vor allem der AKP nützen dürfte. Die MHP-Führung wirft Erdogan deshalb vor, die Regierung stecke hinter der Veröffentlichung der Videos. Erdogan weist dies zurück: "Wir interessieren uns nicht für eure schmutzige Wäsche", sagte er vor kurzem. Konkrete Beweise hat die MHP bisher jedenfalls nicht vorlegen können.
Solche Beweise, wenn es sie dann gäbe, müssten allen erdenklichen Überprüfungen standhalten können, wenn sie der Beliebtheit Erdogans bei der Bevölkerung ernsthaft schaden sollten.
Erdogans persönliche Popularität liege noch einmal zehn Prozentpunkte über der seiner Partei und damit bei 55 bis 60 Prozent, sagt der Meinungsforscher Bekir Agirdir. Solche Werte erreicht kein anderer Politiker in der Türkei. Für einen Politiker, der seit acht Jahren an der Spitze der Regierung steht, sind sie auch im internationalen Vergleich ungewöhnlich. "Er ist der beste Ministerpräsident seit 80Jahren", sagt ein Istanbuler Wähler, der für die Regierung im fernen Ankara sonst nicht viel übrig hat.
Die parteiübergreifende Popularität des "großen Meisters" ist ein Hindernis für die Opposition, das unüberwindlich erscheint. AKP-Wähler sehen in Erdogan jenen Mann, der ihrem Land als aufsteigende Regionalmacht die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft gesichert hat.
"Heute hört man uns zu", sagt ein AKP-Mann in Lüleburgaz stolz. Selbst CHP-Anhänger in der Stadt zollen dem Ministerpräsidenten mittlerweile Respekt. "Er ist klug und fleißig", sagt Demet Gülveren, eine 32-jährige CHP-Wählerin.
Erdogan steht für den politischen und wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei in den vergangenen Jahren, Oppositionschef Kilicdaroglu dagegen versprüht das Charisma eines Buchhalters. Das gibt auch Gülveren ohne Umschweife zu: "Gegen Erdogan wirkt er schon etwas schwach."
Thomas Seibert
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de