Demokratie von unten

In einem von Deutschland finanzierten Projekt fördert ein Team junger Ägypter in Eigenregie aktive Bürgerbeteiligung. Die "Tahrir Lounge" will politisches Bewusstsein schaffen - ohne dabei inhaltlich Partei zu ergreifen. Von Matthias Sailer

Von Matthias Sailer

Es sind etwa 40 junge Ägypter, die sich an diesem Abend in Kairo eine lebhafte Debatte über das Thema Vetternwirtschaft liefern. Auslöser ist ein zuvor gezeigter Film über die Wahrnehmung der ägyptischen Revolution 2011 in einem Dorf im Nildelta. Der Regisseur berichtet von einem Grundschullehrer, der plötzlich zum Leiter eines ganzen Regierungsbezirks ernannt wurde - angeblich weil er ein Verwandter des Gouverneurs sei.

Ein Journalist, der neben der Moderatorin und einem Regierungsbeamten auf dem Podium sitzt, fragt noch einmal an den Beamten gerichtet nach: "Wie kann es sein, dass dieser Grundschullehrer, der bisher nichts anderes gemacht hat, als an dieser Schule zu unterrichten, einen Regierungsbezirk leitet? Der Bezirk ist sehr groß! Wie kann das sein, nur weil er der Cousin des Gouverneurs ist?"

Die Diskussion findet in den Räumen des Goethe-Instituts statt. Doch die Organisatoren sind allesamt Ägypter und haben den Abend ohne Einfluss des Instituts organisiert.

Mona Shahien; Foto: Goethe.de
"Demokratie kann man nicht erreichen ohne die Mitwirkung der Menschen und ohne dass diese ihre Rechte äußern. Demokratie gibt es nur, wenn die Wähler sich ihrer Wahl bewusst sind", sagt Mona Shahien, Initiatorin der Tahrir Lounge.

​​Es handelt sich um eine Veranstaltung der "Tahrir Lounge". Tahrir bedeutet auf arabisch Befreiung. Die Tahrir Lounge ist ein Projekt des Goethe Instituts, der deutschen Botschaft und des Auswärtigen Amtes. Ins Leben gerufen wurde die Idee kurz nach Beginn der Revolution von Mona Shahien, einer 27-jährigen politisch aktiven Ägypterin: "Die Lounge ist ein Ort für alle. Unser Hauptziel ist Bürgerbeteiligung, mündige Bürger. Demokratie kann man nicht erreichen ohne die Mitwirkung der Menschen und ohne dass diese ihre Rechte äußern. Demokratie gibt es nur, wenn die Wähler sich ihrer Wahl bewusst sind."

Respekt trotz politischer Differenzen

Um dieses Ziel zu verwirklichen, veranstaltet die Tahrir Lounge fast täglich Veranstaltungen, die für alle Interessenten offen sind: So gibt es zum Beispiel Workshops zu den Themen Menschenrechte, Diskriminierung von Frauen, aber auch über Verhandlungs- und Diskussionsführung oder Konfliktbewältigung.

In den Seminaren haben sich zudem bereits über 50 politische Parteien und Gruppierungen der verschiedensten politischen Richtungen dem meist jungen Publikum vorgestellt. Für Mona Shahien ist das sehr wichtig, da es zwar viele politikinteressierte Jugendliche gibt, doch viele von ihnen bei den Parteien keine Mitwirkungsmöglichkeiten finden.

Um dieses Defizit der Parteien zu beseitigen, geht die Tahrir Lounge auch aktiv auf junge Leute zu und bietet kostenlose Workshops an: "Wir haben sie gebeten, zwei oder drei ihrer Leute zu nominieren, die an einem kurzen Ausbilderlehrgang teilnehmen sollten. Danach können sie damit jegliche Inhalte in ihren jeweiligen Parteien vermitteln. Wir bieten ihnen nur das Gerüst."

Die Vertreter der eingeladenen Parteien lernen sich dadurch auch untereinander kennen und bleiben nach dem Lehrgang häufig in Kontakt. Die so geschaffenen Kommunikationskanäle führen dazu, dass sich Menschen mit zum Teil völlig unterschiedlichen politischen Auffassungen austauschen und lernen, sich trotz anderer Ansichten zu respektieren.

Damit direkt verbunden ist für Mona Shahien eines der Grundprinzipien der Tahrir Lounge: Das Projekt soll nicht einer bestimmten politischen Ideologie dienen. "Inzwischen haben wir einen sehr guten Ruf, weil wir einer der Orte in Ägypten sind, der nicht nur einer bestimmten politischen Richtung zuzuordnen ist. Man kann nicht sagen, wir seien Liberale, Islamisten oder Säkulare. Wir sind ein Ort, an dem all diese Strömungen vertreten sind."

"Wenn es um Inhalte geht, sind wir völlig unabhängig"

Politisches Seminar in der Tahrir Lounge in Kairo; Foto: M. Elhammoudy
Dialog, Aufklärung und politische Bildungsarbeit: Die Tahrir Lounge in Kairo ist Treffpunkt für politisch interessierte und engagierte Ägypter.

​​Doch die Tahrir Lounge hat trotz der umfangreichen deutschen Unterstützung auch mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ausländischer Einfluss wird in Ägypten generell sehr kritisch gesehen. Der Verdacht der politischen Beeinflussung durch das Ausland ist immer da.

Für Mona Shahien ist die inhaltliche Unabhängigkeit des Projekts daher von allergrößter Bedeutung: "Wir haben von Anfang an klar gesagt: 'Ja, wir werden von der deutschen Regierung finanziert, ja, wir gehören zum Goethe Institut, aber wenn es um Inhalte geht, sind wir völlig unabhängig.'"

Für den Regierungsbeamten wird es auf dem Podium am Ende unangenehm. Er versucht sein Ministerium damit zu verteidigen, dass es inzwischen Mechanismen gäbe, die Vetternwirtschaft verhindern würden. Vor allem sei man doch im Grunde auf dem richtigen Weg und Gott habe auch sechs Tage gebraucht, um die Welt zu erschaffen. Viele im Publikum reagieren mit Kopfschütteln und Stirnrunzeln. Einige lachen über die Antwort. Der 24-jährige Mohamed sieht die Diskussion am Ende als Teilerfolg:

"Das Problem bleibt zwar. Aber immerhin haben viele erkannt, dass die Regierung den Ernst der Lage nicht wahrnimmt. Vor einem Jahr hätte ich die Reaktion des Beamten noch akzeptiert. Doch inzwischen sehe ich, dass die Regierung inkompetent und tatenlos agiert."

Mohamed ist häufig in der Tahrir Lounge und hat schon an mehreren Workshops teilgenommen. In den letzten Monaten hat er gelernt, dass Politik oft eine schmutzige Angelegenheit ist, sagt er. Doch man müsse verstehen, wie sie funktioniert, ansonsten könne man nichts verändern.

Matthias Sailer

© Deutsche Welle 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de