Tunesiens Gewerkschaft verliert an Einfluss

Die Teilnehmer einer Demonstration schwenken die tunesische Flagge und halten Transparente, auf denen sie Gewerkschaftsrechte, soziale und wirtschaftliche Rechte sowie den sozialen Dialog im Land fordern.
Die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete tunesische Gewerkschaft steht vor noch nie dagewesenen Herausforderungen, die ihre Zukunft bedrohen. (Foto: Picture Alliance/ZUMA Press Wire/ H. Mrad)

Der tunesische Gewerkschaftsdachverband UGTT gewann 2015 den Friedensnobelpreis. Heute kämpft er mit internen Spaltungen und verliert den Einfluss, den er nach der Revolution von 2011 hatte. Was steckt hinter der Krise – und wie schlägt Präsident Kais Saied daraus Kapital?

Von Mohamed Ben Rajeb

Die stärkste Gewerkschaft Tunesiens, die UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail), steckt in der Krise. Oppositionelle Stimmen werden laut, die den Rücktritt der derzeitigen Führung und Neuwahlen verlangen, um den politischen und sozialen Einfluss der Gewerkschaft in Tunesien wiederherzustellen. 

Die Krise begann Ende Dezember, nachdem fünf Mitglieder des Vorstands des Gewerkschaftsverbandes ihren Austritt aus dem fünfzehnköpfigen Vorstand verkündeten und forderten, die für 2027 geplante Generalkonferenz auf Mitte dieses Jahres vorzuziehen. Die ausgetretenen Mitglieder drängten darauf, einen seit nunmehr drei Jahren andauernden „Zustand der Schwäche“ zu beenden, der zum Verlust des Ansehens des Verbandes in der tunesischen Gesellschaft geführt habe. 

Bald darauf verkündeten sie die Gründung einer Oppositionsfront innerhalb des Verbandes. Die fünf Mitglieder organisierten im Januar einen offenen Sitzstreik vor dem Hauptsitz der UGTT und forderten den Rücktritt des derzeitigen Vorstands unter der Leitung von Generalsekretär Noureddine Taboubi, den sie beschuldigten, „eine Monopolisierung der Organisationsführung“ anzustreben.

Der Sprecher der Oppositionsgruppe, Tayeb Bouaïcha, sagte, der Sitzstreik sei das Ergebnis der Zuspitzung der Krise, welche die Zukunft der Gewerkschaft bedrohe. Der Verband brauche in diesem Zustand der Lähmung eine starke Gegenbewegung, um wieder zu Kräften zu kommen.

Bouaïcha pochte gegenüber Qantara auf „die Unabhängigkeit der Gewerkschaftsarbeit und die Zurückweisung jeder Einmischung durch die Behörden in die internen Angelegenheiten des Verbandes“. Er wies darauf hin, dass die jetzige Führung der Gewerkschaft zu einer schweren Last für die Mitglieder geworden sei und man deswegen auf ihren Rücktritt hinwirken und sie zur Verantwortung ziehen müsse.

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Die Vorboten der internen Krise der Gewerkschaft gehen auf eine außerplanmäßige Konferenz im Jahr 2021 in Sousse in Zentraltunesien zurück. Damals wurde Artikel 20 der Gewerkschaftssatzung geändert, was es den Mitgliedern des Exekutivbüros und des Generalsekretariats ermöglichte, ihr Amt für mehrere aufeinanderfolgende Amtszeiten auszuüben – zuvor waren sie auf zwei Perioden beschränkt.

Im darauffolgenden Jahr konnte Generalsekretär Noureddine Taboubi für eine weitere Amtszeit kandidieren und seine Amtszeit bis 2027 verlängern. Dieser Schritt markierte den Beginn einer tiefen Spaltung zwischen der derzeitigen Führung und den Gewerkschaftsmitgliedern.

Die UGTT wurde 1946 durch den tunesischen Gewerkschaftsführer Farhat Hached gegründet und spielte eine bedeutende Rolle in der Unterstützung Habib Bourguibas (1903-2000), der die nationale Unabhängigkeitsbewegung von der französischen Kolonialherrschaft im Jahr 1956 anführte. Seit jener Zeit hat der Verband sein politisches und gesellschaftliches Ansehen aufgebaut. 

Vor allem in der Zeit nach dem Sturz des früheren tunesischen Präsidenten Zin El Abidine Ben Ali während des arabischen Frühlings im Jahr 2011, spielte die Gewerkschaft eine historische Rolle. Die UGTT leitete damals den nationalen Dialog zur Arbeit an einer neuen Verfassung und zur Etablierung einer Technokratenregierung im Januar 2014. 

Der Verband mit seinen etwa 500.000 Mitgliedern erhielt, neben drei weiteren angesehenen tunesischen Organisationen, 2015 den Friedensnobelpreis für die Bemühungen um einen „alternativen und friedlichen politischen Prozess, in einer Zeit, als das Land am Rande eines Bürgerkriegs stand“, wie es in der Begründung des Nobelpreiskomitees hieß. 

Im Konflikt mit dem Präsidenten Kais Saied

Seitdem ist die UGTT eine der einflussreichsten politischen Kräfte Tunesiens und ist in wichtige Regierungsentscheidungen, wie die Auswahl der Kandidat:innen für das Amt des Premierministers und anderer Minister:innen involviert. Dieser Einfluss hat zu einem Konflikt zwischen der Gewerkschaft und dem Präsidenten Kais Saied geführt, der seit seiner Wahl Ende 2019 die Kontrolle über das Land zunehmend verschärft.

Die Gewerkschafter:innen glauben, dass die derzeitigen Machthaber am meisten von der internen Krise der Gewerkschaft profitieren. Hinzu kommen die extremen Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Vorstandes über den Umgang mit den Behörden. Beobachter:innen der tunesischen Innenpolitik führen die Schwäche und den internen Konflikt der UGTT zum Teil auf den Wunsch des Präsidenten Kais Saied zurück, die Einmischung der Gewerkschaft in politische und soziale Angelegenheiten einzuschränken.

Der tunesische Analyst Habib Bouajila ist der Meinung, dass Saied die Gewerkschaft als Gefahr für die Konsolidierung seiner Macht im Staate sieht. So sei er klar bestrebt, die UGTT zu neutralisieren und zum Schweigen zu bringen. Im Jahr 2021 entließ Saied die Regierung, suspendierte das Repräsentant:innenhaus und entzog den Parlamentarier:innen ihre Immunität. Darüber hinaus weigerte er sich, mit dazwischen stehenden Organen wie politischen Parteien, der Gewerkschaft, oder der Zivilgesellschaft zu verhandeln, die er beschuldigte jedwede Reform zu behindern.

Die Behörden verhafteten zudem Dutzende von Gewerkschaftsmitgliedern unter dem Vorwand von „Korruption, Betrug und Veruntreuung von Gewerkschaftsgeldern“, was Taboubi als „schwerwiegende Verletzung der Gewerkschaftsfreiheit in Tunesien, also eine Einschränkung der Rechte von Gewerkschafter:innen“ und als „Verstoß des Staates gegen die Verfassung und internationale Übereinkommen und Verträge“ bezeichnete. 

Gleichzeitig versuchte die Regierung Saied, der Gewerkschaft schrittweise den Boden unter den Füßen zu entziehen, indem sie konkurrierende Gewerkschaftsorganisationen anerkannte. Saied sagte im Februar letzten Jahres, dass „das Recht auf Gewerkschaftsarbeit durch die Verfassung garantiert ist, aber es kann nicht als Deckmantel für politische Agenden genutzt werden“, wobei er sich auf die Gewerkschaftsstreiks der UGTT zu dieser Zeit bezog.

Laut Bouajila war die Botschaft Saieds an den Gewerkschaftsdachverband, dass die Zeit des weitreichenden Einflusses vorbei sei und sich die Macht im Rahmen des geltenden Präsidialsystems auf das Amt des Präsidenten konzentrieren müsse. Angeblich um Korruption zu bekämpfen und einen neuen Sozialstaat aufzubauen, der mit der Vergangenheit bricht. 

Bouajila sieht es als Resultat der Entwicklungen an, dass sich die UGTT in einer Position der Unterordnung und der Anpassung an die Regierung wiederfindet. Zehn Jahre des Einflusses, in denen die UGTT zu den Machthabern Tunesiens gehörte, ohne unmittelbarer Teil der Regierung zu sein, gehen damit zu Ende. Er fügt hinzu, dass der Gewerkschaftsdachverband noch nie derart gelähmt, geschwächt und bedeutungslos gewesen sei, wie unter Kais Saieds Präsidentschaft.

Trotz der Anschuldigungen gegen die Regierung, die internen Konflikte der UGTT zu schüren, sind die Tunesier:innen der Meinung, dass die Gewerkschaft – trotz ihrer zentralen Rolle in der Revolution – ihre Grenzen in Bezug auf politische Interventionen überschritten hat. Sie habe durch Tausende von Streiks und Arbeitsniederlegungen wichtige Entscheidungen behindert, was zur Schließung zahlreicher Unternehmen und zur Abwanderung von Investoren in andere Länder geführt habe.

Was kommt jetzt?

Die internen Meinungsverschiedenheiten, die nach der Änderung von Artikel 20 entstanden sind, haben den Konflikt verschärft und die Position der UGTT weiter marginalisiert. Generalsekretär Noureddine Taboubi lehnte indes die Forderung der gewerkschaftsinternen Opposition ab, den Generalkongress auf 2025 vorzuziehen. Er besteht auf der planmäßigen Durchführung und der Neuwahl des Generalsekretariats im Jahr 2027.

Infolgedessen führen die fünf Vorstandsmitglieder ihren offenen Sitzstreik fort, um ihre Forderungen durchzusetzen. Versuche einiger zivilgesellschaftlicher Organisationen und politischer Parteien, zwischen den beiden Seiten zu vermitteln, hatten keinen Erfolg.

Anwar Ben Kadour, Vorstandsmitglied und einer der führenden Kritiker, sagte, es gebe „noch immer Raum für Korrektur, Verbesserung der Zustände und der Rückkehr zur Ordnung“, vorausgesetzt, die übrigen Vorstandsmitglieder folgten dem Wunsch der Mehrheit der Gewerkschafter:innen. 

Über die nächsten Schritte der Opposition sagte Ben Kadour, es bestehen „alle Möglichkeiten […], einschließlich eines offenen Sitzstreiks. Zudem haben einige Regionalverbände den Wunsch geäußert, ihre Beziehungen zum derzeitigen Vorstand abzubrechen“, falls dieser nicht auf die Forderungen der Opposition eingehe.

Analyst Bouajila ist der Meinung, dass die UGTT weiterhin eine zentrale Rolle für die Zukunft Tunesiens spielen könnte, wenn ihr ein geordneter Führungswechsel gelingt. Sollte ein solcher Durchbruch nicht gelingen, so Bouajila, laufe die Gewerkschaft Gefahr, nicht nur ihren politischen Einfluss, sondern auch ihre gesellschaftliche Glaubwürdigkeit zu verlieren, so dass sie gezwungen wäre, sich dem von Kais Saied auferlegten politischen und zivilen Status quo anzupassen.

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzung von Leonie Nückell.

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