"Tala’vision": Eine traurig-poetische Filmreise
Der sogenannte "Islamische Staat" (IS) akzeptiert plötzlich keine Fernseher mehr. Die Menschen schmeißen sie durch die Fenster ihrer zerbombten Wohnungen nach draußen auf die mit Trümmern bedeckte Straße. Auch Talas Vater muss sich an die neue Regel halten - ob er will oder nicht. Seine achtjährige Tochter will es nicht. Sie kann es nicht akzeptieren. Als sie die Regel ohne Wissen des Vaters bricht und einen noch intakten Fernseher wieder ins Haus holt, geht es um Leben und Tod.
"Tala'vision" ist ein Wortspiel. Viele arabische Kinder sprechen das englische Wort "television" für Fernseher so aus, erzählt der jordanische Drehbuchautor und Regisseur Murad Abu Eisheh im Gespräch mit der DW. In 28 Minuten gelingt es dem Film eindrücklich, Talas Vision zu transportieren. Das ist traurig und poetisch gleichermaßen. Quasi durch Talas Augen sehen wir ihre Welt - die in Schutt und Asche liegt.
Talas Vater (Ziad Bakri) hat das Fenster mit einem Brett verrammelt. Das sperrt nicht nur die Sonne aus. Durch den verbleibenden Spalt blickt das Mädchen auf eine zerbombte Straße, irgendwo in Syrien, irgendwo dort, wo der IS das Sagen hat.
Tala schaut besonders gern Fußball, am liebsten die Spiele von Lionel Messi, mit dem sie in ihrer Fantasie sogar im selben Team spielt. Fußball schauen oder gar selbst gegen den Ball treten - in der Welt, in der Tala lebt, ist das alles andere als normal, sagt Murad Abu Eisheh. Im Mittleren Osten spielen Mädchen normalerweise mit Puppen und nur Jungs mit Fußbällen.
Als der Fernseher nicht mehr da ist, versucht Tala, ihr Idol auf einer Sammelkarte zum Leben zu erwecken, indem sie die Augen abwechselnd zusammenkneift. Die Kamera lässt uns dabei durch Talas Augen blicken. Als sie versucht, in der Wohnung selbst Fußball zu spielen, nimmt dabei der Lampenschirm Schaden. Draußen auf der Straße kicken darf sie nicht. "Geh rein, Schlampe, ich hoffe, der IS exekutiert dich", sagt ein vorbeilaufender Junge, als er sie am Fenster sieht.
Student Academy Award für "Tala'vision"
Für seinen Film hat Murad Abu Eisheh den Studentenoscar 2021gewonnen, die Auszeichnung, die die Academy of Motion Picture Arts and Sciences an Filmstudenten vergibt. Das sei eine große Ehre, sagt der Absolvent der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. "Ein Turning Point für unsere Karrieren. Was wir jetzt daraus machen, liegt an uns." Bereits Anfang des Jahres war die Produktion beim Max Ophüls Filmfestival mit dem Jury- und Publikumspreis für den besten mittellangen Spielfilm ausgezeichnet worden.
"Tala'vision" ist keine wahre Geschichte. Aber wie so oft basiert das Setting des Films auf wahren Gegebenheiten oder Erlebnissen - in diesem Fall vor allem auf zwei Bildern, die Murad Abu Eisheh nicht mehr aus dem Kopf gingen. Bild 1: An der jordanisch-syrischen Grenze hat er ein kleines Mädchen beobachtet, das ganz allein unterwegs war. Es folgte den anderen syrischen Flüchtlingen in Murads eigenes, sicheres Heimatland Jordanien. Dieser Anblick geht ihm bis heute nicht aus dem Kopf, so der Regisseur gegenüber der DW.
Bild 2: In einem kleinen Zeitungsartikel las er, dass der IS der Bevölkerung den Besitz von Fernsehgeräten verboten hat. Internet sei in Konfliktgebieten wie Syrien ein absoluter Luxus - der Fernseher übernimmt also eine Rolle, die er vor vielen, vielen Jahren auch bei uns in Europa noch hatte: Er wird zum Fenster zur Welt. Auch in seiner Kindheit in Jordanien sei das noch so gewesen, sagt Murad Abu Eisheh.
Beeindruckend: Aesha Balasem
Für "Tala'vision" arbeitete der Regisseur zum ersten Mal mit einem Kind zusammen, "auf dessen Schultern der gesamte Film lag". Genau deshalb sei es so wichtig gewesen, die richtige Tala zu finden. Von Anfang an habe er keine jordanische Kinder-Schauspielerin für diese Rolle haben wollen, sondern "jemanden, der diese Realität kennt". Nach einem aufwendigen Casting mit mehreren hundert Mädchen - er selbst traf etwa 200 von ihnen - wurde er fündig: Aesha Balasem, beim Dreh erst sieben Jahre alt, verkörpert Tala auf beeindruckende Weise. Sie ist selbst Flüchtling und spricht Arabisch mit syrischem Akzent.
Schon in dem Moment, als sie beim Casting den Raum betrat, sei ihr Verhalten besonders gewesen, so der Regisseur: das Mädchen sei scheu, aber zugleich selbstsicher und zuversichtlich aufgetreten. Im Laufe der Zeit habe er realisiert, wie traumatisiert Aesha - Tala - von eigenen Kriegserfahrungen ist. Beim Interview mit der DW verspricht er sich und nennt Aesha ganz selbstverständlich Tala.
Die Welt durch Talas Augen
Talas klaustrophobischer Zustand der Abgeschnittenheit, ihr kindlich unschuldiger Wunsch nach Freiheit, ihre Sehnsucht nach Normalität - all das wird fast körperlich spürbar. Das gelingt vor allem durch ihre bestechende Präsenz, aber auch durch das Zusammenspiel vieler weiterer filmischer Mittel: Kameramann Philip Henze arbeitet viel mit der Handkamera, mit Wacklern, Unschärfen und Perspektivenwechseln. Seine Kameraarbeit wurde mit dem Deutschen Kamerapreis und dem Michael-Ballhaus-Preis gewürdigt.
Generell ist der Film in großen Teilen sehr dunkel - was damit zu tun hat, dass Henze auf künstliches Licht fast vollständig verzichtete. Die langen Phasen der Langeweile bzw. "Stille" - die nie wirklich still ist, weil in naher Entfernung dumpf Bomben detonieren, Gewehre rattern oder Flugzeuge vorbeifliegen - weichen am Ende einem düster-bedrohlichen Sound.
Gedreht wurde der Film in einem palästinensischen Flüchtlingslager nahe Amman in Jordanien, erzählt Produzent Philipp Raube der DW. Szenenbildner Julian Knaack und sein Team hätten dort ganze Straßenzüge so präpariert, dass sie wie ein Kriegsgebiet aussehen. Außerdem wurde mit visuellen Effekten gearbeitet, etwa in der Szene, in der Tala aus dem zerbombten Badezimmer nach draußen blickt. Ihm als Produzent sei es gerade zu dieser Zeit - 2019 - wichtig gewesen, einen Film umzusetzen, der die Gründe und Ursachen dessen aufzeigt, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Die Flüchtlingsrouten und wie Europa damit umgeht, seien immer wieder großes Thema in Deutschland gewesen. Wirklich verstanden, wie die Realität in den Ländern vor Ort aussieht, hätten wir aber nicht, so Philipp Raube.
Um traumatisiert zu werden, müssten Kinder nicht ihre Familie verlieren, sagt Murad Abu Eisheh. Auch "kleinere Dinge" würden dafür schon ausreichen. "Hunderttausende Kinder in Kriegsgebieten verlieren ihre Kindheit und ihre Träume." Diese Kinder nähmen ihre Erfahrungen zwangsläufig mit und würden zu "gebrochenen Erwachsenen". Es seien "gebrochene Generationen", die sich dem "Kreislauf der Gewalt" oft nicht entziehen könnten.
Leichte Unterhaltung ist "Tala'vision" nicht. Lohnenswert ist es trotzdem, sich diese traurig-poetische Filmreise anzusehen.
Noch bis zum 29. Oktober kann man das in der ARD-Mediathek tun – allerdings nur in der deutschen Synchronfassung.
Nikolas Fischer
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