Demokratie ist keine Ideologie

Der syrische Autor und politische Analyst Majed Kayali warnt in seinem Essay vor einer Zementierung totalitärer Regime in der Region als Folge einer gezielten Diffamierung demokratischer Systeme durch arabische Intellektuelle.

Essay von Majed Kayali

Die Offensive gegen die als "Arabischer Frühling" bezeichneten Revolten erschöpft sich nicht allein in den Versuchen, die durch die Umbrüche eingeleiteten Entwicklungen abzuwürgen, ins Schlingern zu bringen und seiner Inhalte zu berauben oder gar in verheerende Bürgerkriege mit konfessionellem Anstrich zu stürzen, wie etwa in Syrien, Jemen und Irak zu beobachten. Es handelt sich hierbei um einen Generalangriff auf die legitimen politischen Visionen und Ziele der Aufstandsbewegung.

Die Diffamierung der Demokratie – und damit auch ihre Entwertung – ist zum täglichen Brot vieler arabischer Intellektueller geworden, ganz gleich, ob sie linken, nationalistischen oder liberalen Strömungen zuzurechnen sind. Es ist bemerkenswert, wie sie – anstatt denjenigen Kräften die Stirn zu bieten, die dem "Arabischen Frühling" rücksichtslos und unter Einsatz aller erdenklichen Mittel den Krieg erklärt haben – auf die Protestbewegungen eindreschen und ihnen die Verantwortung für die Entwicklungen zuschieben. Ganz so als wäre es für die Menschen in jenen Gesellschaften ein Naturgesetz, sich entrechten und erniedrigen zu lassen und auf jegliche Bürgerrechte verzichten zu müssen.

Stabilität statt Freiheit

Solche Intellektuellen äußern ganz unverhohlen ihre Genugtuung, wenn nicht sogar ihren Jubel, über den Niedergang jener Bewegungen und machen sich dabei die Parolen der Regime zu eigen: Statt "Freiheit" und "Demokratie" werden nun "Sicherheit" und "Stabilität" gepriesen. Eben jene "politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität", die von den Diktaturen unter teils offenem, teils verdecktem Einsatz ihrer Propagandamaschinerie so gern als Trumpfkarte ausgespielt wird.

Die verdienstvolle Rolle des "Arabischen Frühlings" bei der Befreiung vom Joch der Tyrannei, das Recht ALLER arabischen Bürgerinnen und Bürger auf Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit – all das spielt für jene Intellektuellen keine Rolle. Hauptsache, ihre Weltsicht trägt den Sieg davon. Nach ihrer Lesart sind jene Regime immerhin anti-westlich, anti-imperialistisch und anti-zionistisch. Wen kümmert es da schon, dass es sich bei dieser Gegnerschaft nur um ein Lippenbekenntnis, eine Verschleierung von Machtgelüsten handelt?

Dieser Typus von Intellektuellem versteigt sich zu Ansichten wie der, dass die arabischen Gesellschaften für Freiheit und Demokratie einfach nicht reif seien. Als Beweis führt er die Wahlergebnisse (zum Beispiel in Ägypten) ins Feld und greift dabei auf altbekannte Phrasen zurück, mit denen unterdrückerische und korrupte Regime den Mangel an Freiheit und Demokratie seit jeher zu rechtfertigen versuchen. Genau die gleiche Sichtweise wird von imperialistischer Seite in Umlauf gebracht, ohne dass sich irgendjemand die Frage stellt, wer eigentlich verantwortlich ist für eine so schwach ausgeprägte Demokratiefähigkeit.

Werbetafel für Abdelfattah al-Sisi in Kairo; Foto: Foto: Michael Kappeler/dpa
Ein Diktator, auf den man sich verlassen kann: "Auffallend ist, dass diejenigen arabischen Intellektuellen, die sich anti-demokratisch geben, als einzige Alternative die Perpetuierung des Status quo zu bieten haben, sprich: die Zementierung der korrupten und unterdrückerischen Regime jedweder Couleur. Indem sie den Gesellschaften unterstellen, sie seien nicht reif für Freiheit und Demokratie, erteilen sie den herrschenden Regimen sehenden Auges eine Blankovollmacht, mit ihren Untertanen weiterhin so umzuspringen wie bisher", so Majed Kayali.

Zementierung totalitärer Herrschaft

Wer, wenn nicht die arabischen Diktaturen, die ein halbes Jahrhundert lang die Herrschaft über jene Gesellschaften inne hatten und alle Organe staatlicher Kontrolle und Propaganda wie Medien, Schulen und Universitäten dirigiert haben, könnte denn verantwortlich sein? Wie lange sollen wir eigentlich noch warten, bis unsere Gesellschaften "reif" sind für bürgerliche Freiheiten und demokratische Gepflogenheiten?

Wie sollen sie überhaupt demokratiereif werden, wenn deren Regime die staatsbürgerlichen Rechte der Menschen mit Füßen treten, wenn sie Freiheiten verwehren, einen Bannkreis um die Politik ziehen und die Demokratie auf das Abhalten von Wahlen reduzieren (und diese Wahlen dann nur noch dem Abnicken der herrschenden Politik dienen)? Und nicht zuletzt: Wer trägt die Verantwortung für die Usurpation des Staates durch die herrschende Kaste sowie dafür, dass unsere Gesellschaften nach wie vor in tribalen, konfessionellen und ethnischen Strukturen verhaftet sind?

Selbstverständlich hinterfragen jene Intellektuellen weder die hohe Analphabetenrate in den arabischen Gesellschaften unter dem Joch solcher Regime, noch den Niedergang des Bildungsniveaus (insbesondere an den Universitäten), noch die Korruptheit der staatlichen Institutionen, noch die ständigen Übergriffe durch die Sicherheitsorgane. Das ist das letzte, wofür sie sich interessieren. Von ihrer Warte aus betrachtet ist dies einfach nicht die Zeit für einen Übergang zu einem zivilgesellschaftlichen Staat, nicht die Zeit für die Gewährung von Freiheiten, nicht die Zeit für eine Transformation zu einem demokratischen System.

Aus ihrer Sicht sind die Opfer selbst für ihr Los verantwortlich, für all die Willkür, Tyrannei und Freiheitsberaubung, die ihnen die Politik ihrer Regime zumutet. Dies erklärt das gewissenlose Schweigen jener Intellektuellen angesichts des ganzen Mordens und der Zerstörungen in Syrien. Die Syrer sind eben selber Schuld daran, dass Fassbomben auf sie herabregnen und dass sie zu Tausenden an Hunger und unter der Folter krepieren. Hätten sie sich mal lieber für das Lager des "antiimperialistischen Widerstands" entschieden!

Majed Kayali; Foto: privat
Majed Kayali ist ein bekannter syrischer Autor und Politikwissenschaftler. Er schreibt für eine Reihe von arabischen Zeitungen und hat zahlreiche Studien über das zeitgenössische politische Denken in der arabischen Welt veröffentlicht.

Die Demokratie ist keine Ideologie, sie ist Werteordnung und politischer Gestaltungsrahmen

Keine Frage: Die Demokratie in ihren diversen Erscheinungsformen ist kein Allheilmittel. Die "ideale Republik" muss erst noch erfunden werden. Niemand wird bestreiten, dass sich bei der praktischen Anwendung des Konzepts Demokratie auf die Realität des jeweiligen Landes immer wieder Probleme stellen. Es handelt sich eben nicht um eine Ideologie, wie manch einer glaubt, sondern um einen Ansatz zur Organisation von Herrschaft, zur Regelung der Beziehung zwischen Regierungen und Gesellschaften und zum Management von Konflikten. Als solcher unterliegt sie den Bedingungen der jeweiligen gesellschaftlichen Situation und des jeweiligen politischen, kulturellen, rechtlichen, sozialen und ökonomischen Entwicklungsstands.

Demokratie bei gleichzeitiger Abwesenheit von Freiheit und Zivilcourage kann nicht funktionieren. Diesem Dilemma haben sich liberale Demokratien gestellt und in ihren Verfassungen die Werte Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Chancengleichheit festgeschrieben. Diese gelten für alle Bürgerinnen und Bürger ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Stellung.

Das Verhältnis zwischen Gleichheit und Freiheit ist auch nicht unproblematisch. Erzwungene Gleichmacherei dürfte kaum im Sinne der Gerechtigkeit sein, das Fehlen jeglicher Gleichheit erst recht nicht. Hier bietet sich eine breite Palette von Lösungsvorschlägen an: Ausbau des Sozialstaats, mehr Investitionen in Bildung, höhere Einkommen, eine bessere Gesundheitsversorgung – und zwar für alle.

Trotz all dieser und anderer Herausforderungen ist und bleibt die Demokratie das effektivste Herrschafts- und Gesellschaftssystem, welches die Menschheit bislang zur Regelung der Beziehung zwischen den Bürgern hervorgebracht hat.

Auffallend ist, dass diejenigen arabischen Intellektuellen, die sich anti-demokratisch geben, als einzige Alternative die Perpetuierung des Status quo zu bieten haben, sprich: die Zementierung der korrupten und unterdrückerischen Regime jedweder Couleur. Indem sie den Gesellschaften unterstellen, sie seien nicht reif für Freiheit und Demokratie, erteilen sie den herrschenden Regimen sehenden Auges eine Blankovollmacht, mit ihren Untertanen weiterhin so umzuspringen wie bisher.

Sie tun geradezu so, als hätten wir einen Überschuss an Freiheit und Demokratie, einen Überschuss an zivilen Protestbewegungen. Dabei war der "Arabische Frühling" doch der erste zivile Aufstand in der Geschichte der Region überhaupt. Eine solche Haltung zeugt daher von völligem Abstellens jeglichen Verstandes, ja von bewusster Unterdrückung des Gewissens und von Verdrehung der Tatsachen.

Majed Kayali

© Qantara.de 2016

Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez