Hoffnung als Widerstand
Dieser Film entstand ganz spontan. Karim Aïnouz, bereits zum dritten Mal auf der Berlinale vertreten, war eigentlich für ein anderes Filmprojekt nach Algerien gereist, das auch in Kürze fertig werden soll. Dabei geht es um die Geschichte seines Großvaters, der aus der nordalgerischen Kabylei stammte und im algerischen Unabhängigkeitskampf von 1962 eine nicht unwichtige Rolle spielte und später von seinen eigenen Mitstreitern verhaftet, und dann aus dem Land vertrieben wird.
Aber dann begannen vor genau einem Jahr, am 22. Februar 2019, die groß angelegten Proteste gegen die fünfte Amtszeit des damaligen Präsidenten Bouteflika. Aïnouz war beeindruckt von den Hundertausenden Menschen, die die nach Jahrzehnten des Stillstands und der Unterdrückung eine neue Ära beginnen wollten.
Im Maghreb Café lernt er über Bekannte die Kellnerin Nardjes kennen. Eine beeindruckende, coole, selbstbewusste Frau, Hobby-Schauspielerin, Comedian und in diesen Tagen vor allem politische Aktivistin. Die aufregenden Tage, vor allem Freitage, an denen die Großdemonstrationen abgehalten werden, beginnen für sie schon im Morgengrauen mit der Vorbereitung auf lange Stunden des Protests. Aïnouz entscheidet sich, sie einen ganzen Tag lang zu begleiten, dem dritten Freitag der Proteste, dem 8. März 2019 – es ist der Weltfrauentag. Und die Frauen sind omnipräsent bei den Demos.
Seinen Protagonisten bringt Aïnouz nicht nur größten Respekt entgegen, er solidarisiert sich mit ihnen. Das war 2018 so bei seinem Film Zentralflughafen THF, als er das unerträgliche Warten der Geflüchteten dokumentierte, aber auch ihre Resilienz. Und das gilt nun für "Nardjes A.", der filmerisch gegensätzlicher kaum sein könnte: Schnell, energiegeladen, euphorisch. Am Anfang und am Ende dieses Tages liegt Algier relativ ruhig da, aber in der Zwischenzeit wird der Zuschauer Zeuge eines politischen Erdbebens. Eines der Epizentren ist Nardjes.
Geprägt vom "schwarzen Jahrzehnt"
Der Film besteht bereits als beeindruckendes Porträt dieser außergewöhnlichen jungen Frau. Aber er entfaltet seine Wirkung auch als emblematisches Zeugnis der Macht menschlichen Protestes. Plötzlich und eruptionsartig entsteht hier ein Gemeinschaftsgefühl und eine Vision für eine bessere Zukunft – auch wenn der Weg dahin unklar oder vielleicht sogar unwahrscheinlich sein mag.
Nardjes glaubt an diese Kraft und drückt sie aus mit jeder Faser ihres Körpers. Auch sie ist eine Enkelin von antikolonialistischen Revolutionären des Jahres 1962, die ebenfalls Opfer des späteren Scheiterns der Bewegung wurden. Ihre Kindheit, sagt Nardjes im Film, war ganz von der bleiernen "Schwarzen Dekade" des Bürgerkriegs geprägt.
Nun endlich der Aufbruch. Gemeinsam mit Hunderttausenden, die jetzt die sonst verwaisten Straßen und öffentlichen Plätze füllen, ihren Frust von der Seele schreien, revolutionäre Lieder anstimmen, eine friedliche und positive Energie verbreiten: Revolution des Lächelns wurde die Bewegung deshalb auch getauft.
Hymne der Revolte
Das wirkt nicht selten wie ein Volksfest, wie begeisterte Fans in einem Fußballspiel, die ihre Mannschaft anfeuern. Und mit Fußball hat das hier eine Menge zu tun: "Vor der Protestbewegung waren die Stadien die einzigen Orte, wo man seinen Protest äußern konnte", sagt Nardjes in Berlin. Und tatsächlich spielten die Ultras (nicht nur) in Algerien eine wichtige Rolle.
Auch die Hymne der Proteste, La Casa del Mouradia, ist im Stadion des Hauptstadtclubs USM Alger entstanden.
Auch auf filmerischer Ebene ist die Dokumentation ein Meisterwerk: Die emotionale Macht von Bild und Ton werden perfekt eingesetzt. Aïnouz fängt die Proteste mit unglaublich starken Bildern ein - und das mit seinem Smartphone. "Es wäre sowieso unmöglich gewesen eine Drehgenehmigung zu erhalten.
Und Journalisten mit Kameras waren bei den Protesten extrem unbeliebt", sagt Aïnouz, "denn die waren in der Regel regimenah." Das Smartphone erlaubt ihm unmittelbar im Schutz der Menge und aus nächster Nähe zu filmen, denn hier ragen allerorten die Bildschirme hervor.
In den letzten Jahren sind viele Filme entstanden aus Material, das mit Smartphones gedreht wurde, nicht zuletzt aufgrund der Umstände von Flucht und Repression.
Viel Sehenswertes, wegen der einzigartigen Zeitzeugnisse die entstanden sind, aber auch viel Verwackeltes, Kurzfristiges, Anstrengendes.
Aïnouz' Film zeigt, wie nebensächlich die Technik wird, wenn ein Meister seines Faches filmt. Schon die Einstiegsszene ist umwerfend, Aïnouz filmt von oben, Menschen bewegen sich in einer dichten Menge scheinbar ziellos, wie Fische in einem Schwarm, in Schwarz-Weiß; dann, ganz langsam, wird die Farbe überblendet und die Individuen treten hervor in ihrer Vielfalt der Farben und Formen.
Noch stärker nachbearbeitet als die Bilder ist der Sound. Die beeindruckende Energie der revolutionären Lieder, die hämmernden Beats als Nardjes am Ende des Tages tanzen geht und alle Anspannung abfällt, tragen zusätzlich zur Verdichtung der Atmosphäre bei.
Ein universeller Film über die Macht der Menschlichkeit
"Was bedeutet dieser Film für Dich?", wird Nardjes nach der Vorführung gefragt. Sie ist so emotional, dass sie kaum sprechen kann. Der Film bedeutet ihr alles. "Ein Geschenk an mein Land", sagt Nardjes. Präsident Bouteflika ist im April 2019 abgetreten, aber die alte Garde ist auch nach den Wahlen von Dezember 2019 längst noch nicht abgetreten. Grund für Pessimismus?
Fast zehn Jahre sind vergangen, seit diese revolutionäre Kraft in Tunesien und auf dem Tahrir-Platz in Kairo ihre Macht entfaltete. Und wenige Jahre später die Hoffnung auf Veränderung größtenteils in Kriegen und autoritären Restaurationen erstickt wurden. Die Probleme der Revolution, die fehlende politische Organisation der Protestierenden, das Verhältnis von der Hauptstadt Algier zur Peripherie, die massive Repression des Regimes, all das sind Fragen die der Film nicht behandelt – und zwar bewusst.
"Viele fragen nach dem Film zuerst nach der Repression, weil sie nicht gezeigt wird. Warum ist das eigentlich so?", fragt Aïnouz. Denn die Gegenseite, die negativen Kräfte und Narrative der weltweit erstarkten autoritären und, so sagt es der Regisseur, faschistischen Bewegungen erhalten seiner Meinung nach viel zu viel Raum. Er will filmerisch dagegen halten. Hoffnung – das ist für Aïnouz kein naiver oder passiver Begriff. "Freude und Hoffnung können eine Form von Widerstand sein".
So ist Nardjes A. ein universeller Film über die Macht der Menschlichkeit und die Möglichkeiten des Widerstands gegen ungerechte Verhältnisse. Aïnouz ist ein radikaler Humanist und politischer Filmemacher, der die Themen unserer Zeit mit großer Menschlichkeit und grandiosen Bildern behandelt. Seine Mission hat gerade erst begonnen.
René Wildangel
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