"Wir müssen den Islam vom Patriarchat befreien“
Herr Dialmy, für die geplante Reform des Familienrechts "Moudawana" in Marokko wurde im Frühjahr eine Vielzahl von Experten befragt. Waren Sie auch darunter?
Abdessamad Dialmy: Nein, ich bin nicht gefragt worden. Ich wurde zwar von einigen Medien zur geplanten Reform interviewt, aber die Kommission, die für die Umsetzung der Reform verantwortlich ist, hat mich nicht angehört.
Es sollte aber ein breiter, partizipativer Prozess sein.
Dialmy: Es gab einen Link, unter dem jeder Marokkaner und jede Marokkanerin eine Meinung zum Familienrecht und seiner Reform einreichen konnte. Ich habe mich daran aber nicht beteiligt, weil ich seit 50 Jahren zu dieser Frage arbeite und meiner Meinung nach hätte die Kommission mich dazu anhören müssen.
Aber so ist es nun mal, vielleicht gab es Stimmen zum Beispiel unter den Islamgelehrten in der Kommission, die das nicht wollten. Wer weiß, sicher bin ich nicht.
Meinungsbildung mit Grenzen
Diese Form der Bürgerbeteiligung mag ihre Grenzen haben, neu ist sie in Marokko aber auf jeden Fall.
Dialmy: Ja, es ist das erste Mal, dass es einen derart breit angelegten Prozess zur Meinungsbildung gibt. Zum dritten Mal wird jetzt in Marokko das Familienrecht reformiert, seitdem es 1957 erlassen worden ist. Bei der ersten Reform 1993 unter König Hassan II. gab es nur leichte Veränderungen, nur drei Gelehrte waren damals zu Konsultationen eingeladen.
Die Frauenbewegung wurde dann Ende der 1990er Jahre stärker und nach 1999 hatten wir eine linke Regierung, die ihre Forderungen aufgenommen hat. Hassan II. hat dann die Reform der "Moudawana" im Jahr 2004 durchgesetzt. Dazu hat der König eine Kommission aus Juristen eingesetzt, unter ihnen auch drei Frauen, aber es gab keine Beteiligung der Öffentlichkeit, der Gewerkschaften oder anderer Akteure. Das ist diesmal anders, alle können sich beteiligen.
Meiner Meinung nach müssten sich aber vor allem die politischen Parteien zur geplanten Reform äußern. Sie repräsentieren das Volk und die verschiedenen sozialen Schichten, aber sie sind in einem sehr schwachen Zustand.
Nun liegt der Entwurf für die Reform vor. Was ist darüber bekannt?
Dialmy: Der Entwurf der Kommission wurde dem Premierminister überreicht, die Öffentlichkeit weiß aber noch nicht, was in dem Text steht. Ministerpräsident Akhennouch hat den Entwurf dem König überbracht, dieser wiederum wird ihn freigeben und dem Parlament vorlegen, das dann voraussichtlich im Juli darüber abstimmen soll. 2004 wurden viele Forderungen von Feministinnen nicht erfüllt, und selbst was erreicht wurde, ist schlecht umgesetzt worden.
Werden Kinderehen ohne Ausnahme verboten?
Das gilt zum Beispiel für das Thema Kinderehen, bei denen aktuell noch Ausnahmen zulässig sind. Jetzt fordern Feministinnen, sie endgültig komplett zu verbieten.
Dialmy: Bei den Kinderehen gibt es tatsächlich immer noch Ausnahmen. Wenn ein Richter die Ehe einer Minderjährigen genehmigt, dann ist sie legal. Derzeit gibt es zwei Formen der Kinderehe. Entweder ein Elternteil wendet sich ans Gericht und verlangt eine Sondergenehmigung, also legal, die der Richter dann etwa aus sozialen Gründen erteilen kann. Es gab seit 2004 sicher 30.000 oder 40.000 solcher Fälle, aber es ist immerhin noch kontrollierbar.
Es gibt aber noch eine andere Form der Kinderehe, nämlich bei der islamischen Eheschließung. Für den Islam ist die Eheschließung ein Vertrag, für den es nur einige Zeugen, die Einverständniserklärung des Vaters der Braut und einen eher symbolischen Brautpreis braucht.
Dazu liest man die Sure Fatiha, die erste Sure im Koran und damit ist die Ehe aus islamischer Sicht legal, ohne dass sie je vor einem Richter geschlossen wurde. Bisher erlaubt es das Familienrecht, dass solche islamischen Eheschließungen anschließend legalisiert werden. Feministinnen verlangen, das zu unterbinden.
Diese Forderung vertritt aber nur eine Minderheit, die große Masse der Marokkaner teilt sie nicht.
In Tunesien etwa wurde im Personenstandsrecht von 1956 die Kinderehe ohne Ausnahme verboten. Wenn Eltern sie zulassen, wandert der Vater ins Gefängnis, es ist ein Delikt. In Tunesien steht das staatliche Gesetz über der Scharia. Bei uns zögert man, diesen Schnitt zu gehen.
Warum ist es so schwierig, hier zu einer mutigen Reform zu kommen?
Dialmy: Die Mehrheit der Menschen in Marokko versteht das Prinzip der Egalität zwischen Mann und Frau noch nicht. Sie gehen davon aus, weil sich Männer und Frauen biologisch unterscheiden auch verschiedene Rollen in der Gesellschaft einnehmen müssen; deshalb stünden ihnen auch verschiedene Rechte zu.
Aber Männer haben auch ein Interesse daran, dass die Gesetze zu ihren Gunsten bestehen bleiben, wie zum Beispiel beim Erbrecht. Als Mann stehen einem qua Geburt Rechte und Privilegien zu. Männer sind nicht von Natur aus überlegen, sie werden durch ihre Rolle in der Gesellschaft überlegen.
"Der Wandel kommt von innen“
Für die marokkanische Soziologin Fatima Sadiqi haben sich die Frauenbewegungen in Nordafrika in den letzten zehn Jahren gewandelt. Heute kämpfen Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten gemeinsam für mehr Rechte, egal ob "säkulare“ oder "islamische“ Feministinnen. Mit ihr sprach Claudia Mende für Qantara.de
Patriarchale Haltungen hinter dem Islam versteckt
Verhindert nicht auch die Spaltung in Säkulare und Islamisten echte Verbesserungen?
Dialmy: Ja, aber in Geschlechterfragen sind sich Islamisten und normale Muslime weitgehend einig. Um ihre Privilegien zu verteidigen, berufen sie sich auf Gott und sagen, nicht ich will es so, sondern Gott hat verfügt, dass ich der Chef bin. Für einfache, ungebildete Menschen ist das in der Regel so, auch wenn sie nicht unbedingt Islamisten sind.
Islamisten verfügen hier über ausgefeiltere Methoden, um ihre Ansichten zu untermauern, wenn es um die Frage der Kinderehen, des Erbrechts oder des Sorgerechts geht. Das heißt Islamisten, aber auch ganz normale Muslime, verstecken ihre patriarchale Haltung hinter dem Islam, denn dann darf man sie nicht angreifen. Wir müssen den Islam vom Patriarchat befreien.
Und wie soll das geschehen?
Ich habe dazu einige Gedanken entwickelt in meinem letzten Buch über eine Männlichkeit, die gegenüber Frauen nicht auf Gewalt basiert (Pour une masculinité non violente à l'égard des femmes, Verlag Le Fennec Edit 2023). Zum Beispiel müssen wir den Menschen auf einfache Weise erklären, was die Gleichheit der Geschlechter tatsächlich bedeutet, über die Medien, im Fernsehen, um sie zu erreichen. Das passiert momentan nicht.
Ich bekomme zum Beispiel nie die Möglichkeit, im marokkanischen Fernsehen meine Ideen zu verbreiten. Die Islamgelehrten aber schon, sie sprechen nur auf sehr konservative, patriarchale Weise über diese Themen. Man muss den Menschen auch die Vorteile des Prinzips der Geschlechtergleichheit klarmachen, für Männer und Frauen, für die Gesellschaft, den Staat, für die Entwicklung des Landes und die Demokratie. Es ist eine Frage der Bewusstseinsbildung.
Wir brauchen auch mehr sexuelle Aufklärung, eine Revision der allgemein verbreiteten Vorstellung, was ein Mann und was eine Frau ist; das ist fundamental. Denn das Patriarchat hat hier den Islam überformt und aus der Frau ein gefährliches, durchtriebenes Wesen gemacht, das man verstecken muss. Sie soll nach dieser Vorstellung ausschließlich für das Heim sorgen und ihrem Mann gehorchen.
Tut sie das nicht, dann muss er sie korrigieren und darf sie im Notfall auch schlagen. An solchen Einstellungen müssen wir arbeiten. Wir müssen Koranverse und Hadithe des Propheten reinterpretieren, kontextualisieren und anders lesen, denn ihr Kontext hat sich verändert. Seit einiger Zeit schlage ich auch vor, im Zweifelsfall auch Verse vorübergehend unwirksam zu machen, was man auf Arabisch ta‘atiel nennt.
Ein neuer Kontext fordert neue Lösungen
Was bedeutet das genau?
Dialmy: Schon der Kalif Omar (592-644) hat Koranverse aufgrund der äußeren Umstände vorübergehend für unwirksam erklärt. Im Koran heißt es beispielsweise, dass man die Hand eines Diebes abhacken soll. Omar hat diesen Vers inaktiviert, als es eine Hungernot gab, weil man Diebstahl in einer derartigen Situation anders bewerten muss. Heute werden in Marokko Ehebrecher nicht ausgepeitscht oder gesteinigt, die entsprechenden Verse wurden inaktiviert.
Der Gesetzgeber könnte also sagen, der Kontext Marokkos legt es uns nahe, die Kinderehe zu verbieten, das Sorgerecht für die Kinder auch den Müttern zu übertragen oder ein egalitäres Erbrecht zu erlassen. Man kann das durch Kontextualisierung, Interpretation oder durch Inaktivierung erreichen. Aber die Frage ist, wer macht das.
Genau das ist die Frage. Wer soll diese Ideen umsetzen?
Dialmy: Dazu braucht es politische Akteure, aber die gibt es derzeit in Marokko nicht. Wir finden sie weder in der Regierung noch im Parlament und der König hat seiner Reforminitiative mit einer roten Linie Grenzen gesetzt. Man dürfe nicht erlauben, was verboten ist und nicht verbieten, was Gott erlaubt hat, hat Mohammed VI. verfügt.
Wenn im Koran steht, dass beim Erbrecht dem Bruder das Doppelte dessen zusteht, was die Schwester bekommt, dann ist das eine klare Grenze. Hier sehe ich wenig Spielraum.
Keine radikale Reform in Sicht
Also sind Sie nicht sehr optimistisch, was die Reform betrifft?
Dialmy: Nein, denn ich sehe keinen politischen Akteur, der eine radikale Reform will. Der König ist seit der neuen Verfassung von 2011 nicht mehr frei in der Gesetzgebung, er muss in Übereinstimmung mit dem Parlament unterschreiben, das war vorher anders.
Die Parlamentsmehrheit besteht heute aus drei politischen Parteien, zwei davon bezeichnen sich als liberal, der Rassemblement National, und der Parti Authenticité et Modernité, dazu kommt die eher konservative Partei Istiqlal. Alle drei übernehmen die Forderungen der Feministinnen nicht.
Wir müssen den Islam im Namen des Islam vom Patriarchat befreien. Dazu wäre ein wichtiger Schritt, den Marokkanern zu erklären, dass die Haus- und Familienarbeit der Frauen einen ökonomischen Wert hat, für die einzelne Familie aber auch für das Land.
Denn es herrscht die Vorstellung, dass die Frauen von den Männern unterhalten werden müssten. Diesen Mythos müssen wir ausräumen, denn er leistet dem Vorschub, dass der Mann in der Familie das Sagen hat und der alleinigte Vormund der Kinder ist. Dieser ökonomische Faktor ist die Basis männlicher Macht.
Das Interview führte Claudia Mende.
© Qantara.de 2024
Der emeritierte Soziologe Abdessamad Dialmy forscht zu den Themen Sexualität, Männlichkeiten und Feminismus im Islam. Zu seinen Veröffentlichungen gehören "Auf dem Weg zu seiner sexuellen Revolution im Islam" (Arabisch, 2021) und "Der islamische Feminismus hat kein Geschlecht" ("Le féminisme islamique n’a pas de sexe", 2022).