Afghanistan-Blog

Eindrücke und Erlebnisse einer vier-wöchigen Reiste durch Afghanistan.

Von Martin Gerner

21. Oktober 2007

Herat. Der Flug dorthin, der umgerechnet 75 US-Dollar kostet, ist ein Privileg wohlhabender Afghanen und der Ausländer. Über Land dauert die Fahrt zwei Tage. Die Strecke über Kandahar im Süden ist aus Gründen mangelnder Sicherheit problematisch. Die Nordroute ist noch nicht ganz geteert. Der kürzeste Weg führt durchs Landesinnere, aber die ersten Pässe könnten bereits zugeschneit sein.

Nach einer Stunde Flug über ein Meer von Bergspitzen, die wie grau-braun gefrorene Wellen unter mir vorbeiziehen, ergießen sich die Ausläufer des Hindukusch in eine wüstenartige Ebene.
Die Straßen Herats sind sauber, viel weniger Bettler. Autos halten an der Ampel, in Kabul kaum vorstellbar. Die Sicht ist klar, nicht staubgetränkt. Das öffentliche Leben scheinbar friedvoll, weniger aggressiv.

Frauen tragen neben der Burka vor allem den schwarzen tschadri namaz, wie man ihn aus dem Iran kennt. Herat darf sich ohne falsche Bescheidenheit Kulturhauptstadt Afghanistans nennen. Karawanen der Seidenstraße mehrten den Reichtum der Stadt. Der Nachbar Iran beansprucht bis heute einen Teil des historischen Erbes.

Zurzeit schickt Iran Tag für Tag afghanische Migranten zurück über die Grenze.

Die Provinz Herat ist ein Absatzmarkt für viele iranische Produkte. Iraner fühlen sich seit jeher dem östlichen Nachbarn überlegen. Das Wort "Afghane", sagt ein ansässiger Herati, sei im iranischen Volksmund fast gleichbedeutend mit "Neger".

Ich begleite das "Mobile Cinema", ein so genanntes fahrendes Kino. Das Kino entpuppt sich als ein Auto, das eine zwei Meter große Leinwand, einen Beamer und einen Stromgenerator für Vorführungen in Schulen und Krankenhäusern mitführt.

Gezeigt wird jedes Mal der gleiche Film. Ein 15-minütiger Streifen über gesundheitliche Aufklärung. Es treffen sich drei Brüder unter einem großen Baum. Mit komödiantischem Talent beweinen sie ihr Schicksal: Der eine wünscht sich weniger Kinder, der andere wird der Krankheiten seiner Kinder nicht Herr, der dritte schimpft über verunreinigtes Wasser. Schließlich erscheint die Mutter und schilt die Söhne ob ihrer Nachlässigkeit. Einen nach dem anderen schickt sie zurück in die Stadt und in die Apotheke.

Dort händigt der Apotheker den Brüdern unter anderem eine Packung Kondome aus. Die Produkte, die im Film gezeigt werden, tragen Namen wie Kuschi (Freude), Shefa (Gesundheit), Asodagi (Gemütlich), Abpakon (Reines Wasser).

Auf dem Land haben viele Menschen keine Vorstellung davon, wie ein Kondom aussieht. Deshalb fragt der Darsteller am Ende des Films den Apotheker: "Muss ich das Kondom flüssig einnehmen oder als Tablette." Aziz, der zu den Animateuren des "Mobile Cinema" gehört, gibt sich dagegen mondän: "Als ich klein war, in den 70er Jahren", sagt er, "gab es in Kabul bereits Kondome für einen Afghani. Wir Jungs haben sie aufgeblasen wie Luftballons."

Das Brisante an dem kurzen Unterhaltungsfilm ist, dass die ganze Kampagne für das mobile Kino von US-Aid finanziert wird, der staatlichen amerikanischen Entwicklungshilfe. Die fünf Produkte, die man im Film sieht, stammen allesamt von einem amerikanischen Pharma-Hersteller, der sich auf dem afghanischen Markt etablieren will.

An diesem Morgen wird der Film zunächst in der Uni-Klinik von Herat gezeigt. 70 Krankenpfleger, Ärzte und der Ministerialvertreter haben Platz genommen. Letztere verlassen den Saal bereits nach wenigen Minuten.

"Sie sind immer schnell weg, wenn kein Geld zu holen ist", kommentiert einer der Krankenpfleger sarkastisch. Die Verbliebenen wollen wissen, was es mit dem US-Pharmaproduzenten auf sich hat, der im Abspann genannt wird.

Die Kampagne finde im Namen des afghanischen Gesundheitsministeriums statt, und alle Produkte kämen der Gesundheit der Afghanen zugute, erzählt ein Moderator im Auftrag des "Mobile Cinema" und sorgt damit für mehr Fragen als dass er Antworten gibt. Aziz erklärt, es handle sich um "afghanische Produkte". Tatsächlich werden zum Beispiel die Kondome nur in Afghanistan kartoniert. Auf der Verpackung eines Präservativs, das mir in die Hand fällt, steht groß "Made in South Korea" drauf.

Das "Mobile Cinema" fährt in der zweiten Wochenhälfte raus aufs Land. Dort sind die Menschen skeptisch gegenüber Verhütung. Einige der Dorfältesten, Mullahs und Eltern halten Pille, Injektion und Kondom für Teufelszeug. Sie sind überzeugt, es mache ihre Frauen für immer unfruchtbar. Es ist nur ein kleiner Schritt bis zum nächsten Gedanken, dass die Amerikaner verhindern wollen, dass die Menschen in Afghanistan Nachwuchs bekommen.

Kein Wort fällt darüber, aber manche Blicke verraten, dass allerlei Gedanken die Köpfe der Umstehenden bewegen. "Trotzdem wünschen sich viele Afghanen eine bessere Familienplanung. Fünf Kinder sind besser als zehn", sagt eine Lehrerin in einer Schule in Sirvistan bei Herat, "zehn sind teuer, und viele wollen gerne mehr Zeitabstand bis zum nächsten Kind."

Schülerinnen der 10.-12. Klasse bei der Filmvorführung über gesundheitliche Aufklärung durch das Mobile Cinema in Herat; Foto: Martin Gerner
Schülerinnen der 10.-12. Klasse bei der Filmvorführung über gesundheitliche Aufklärung durch das Mobile Cinema in Herat

​​Später am Morgen, in einer Mädchenschule, steht das Filmteam 50 dicht gedrängt sitzenden Mädchen in schwarzer Schuluniform mit weißen Kopftüchern gegenüber. Die Mädchen sind zwischen zwölf und 17 Jahre alt. Bei einigen lösen die Bilder Gelächter aus, andere schauen reglos zu.

"Gibt es Fragen?", horcht Aziz nach dem Abspann in die Runde. Kein Echo. Er hat es eilig, baut die Leinwand ab. Weiter geht es in die nächste Schule. Gesundheitliche Aufklärung sieht anders aus. Zugleich gibt es das kulturelle Tabu, dass afghanische Männer nicht einfach mit beinahe erwachsenen Frauen in der Schule diskutieren können.

Mich verwundert, dass parallel zum Film nicht eine Verteilung und/oder der Verkauf der Produkte stattfindet. Nirgendwo gibt es einen Hinweis darauf, wo und wann Pulver, Tabletten und Kondome erhältlich sind. Auch Info-Zettel werden nicht verteilt. Selbst der Moderator der Veranstaltung, ein junger Arzt und Apotheker, traut sich nicht, das Thema Verhütung offen anzusprechen. Die Bedienungsanleitung für das Kondom ist ohne Bilder. Und sie enthält Vokabeln - etwa über die Fruchtbarkeit der Frau – die, wie sich herausstellt, für Schülerinnen wie Erwachsene nicht verständlich sind.

Auf dem Werbeposter zum Film am Eingang der Schule steht das Versprechen, die neuen Mittel seien billiger und besser als alles Bisherige auf dem Markt. Bislang kommen Kondome aus Pakistan oder Iran, zum Teil nicht reißfest, wie Aziz mit einem Lächeln erklärt. Vor der Schule steht ein Mann mit Bart und Turban an einem Kiosk und trinkt Coca-Cola. "Meine Frau verhütet durch Spritzen im Drei-Monats-Takt", sagt er, "aber das ist teuer. 70 Afghani (ca. ein Euro) pro Spritze".

19. Oktober 2007

Der Golfplatz von Kabul ist sichtbarer Ausdruck der neuen Verhältnisse. Weißhäutige Golfer und Golferinnen laufen vor jungen und älteren Afghanen her, die deren Schläger und Abschlagmatten hinterher tragen. Plötzlich kommt mir und Massoud, die wir zum Fotografieren unterwegs sind, der Korrespondent des Daily Telegraph entgegen. Er kennt Massoud flüchtig. "Ich brauche ein Bild vom Goldplatz mit einem Bewaffneten in der Mitte", sagt er unruhig. Weit und breit ist kein Bewaffneter auf dem Golfplatz zu sehen. "Ich brauche irgendwoher einen Bewaffneten für mein Bild", klingt uns der Telegraph-Korrespondent im Ohr, während wir uns langsam entfernen.

Polizeieinsatz in der Nähe eines Anschlags; Foto: Martin Gerner
Polizeieinsatz in der Nähe eines Anschlags

​​18. Oktober 2007

Was denken Afghanen über Gesprächsangebote an die Taliban? Immer wieder dreht sich das Gespräch darum. "Es gibt keine moderaten Taliban", sagt der Intellektuelle und Politiker Mehdi, als wir gemeinsam zu Abend essen. Auf einmal geht das Licht aus. "Zu Zeiten der Taliban gab es das auch", sagt er, "aber die Stromversorgung war damals etwas besser als jetzt."

Mehdi ist Tadschike. Auf Seiten der Tadschiken herrscht Skepsis über Verhandlungen. Die größte Ethnie nach den Paschtunen misstraut der Regierung Karsai. "Taliban und Paschtunen haben ein und dieselbe Identität", sagt ein Journalist in der Runde und meint damit das enge Stammesgeflecht und die Paschtunistan-Frage.

Bisher lehnen viele Paschtunen die aktuelle Grenze mit Pakistan ab. Daraus schlägt der pakistanische Geheimdienst Kapital. Zudem rekrutieren sich die Taliban unverändert ganz überwiegend aus Paschtunen.

Die Menschen auf der Straße machen noch immer einen Unterschied zwischen Taliban und Al Qaida, wie nach dem Sturz des Regimes 2001, als Letztere als "Ausländer" gebrandmarkt und verwünscht wurden. Vielen ist aber auch klar, dass es Querverbindungen gibt. Sind die meisten Selbstmordattentäter Afghanen oder nicht? Die Antworten gehen auseinander, sind abhängig vom Feinbild Pakistan und dem, was man den eigenen Landsleuten zutraut. Statistiken dazu fehlen.

"Guantanamo!", ruft einer in den Raum, "warum sind von dort und auch in Afghanistan durch die Nachgiebigkeit der Karsai-Regierung mehrere führende Köpfe der alten Taliban-Regierung wieder auf freiem Fuß? Einige davon kämpfen inzwischen wieder aktiv".

Sitzt man mit Paschtunen zusammen, hört sich das anders an: Die Taliban seien durch Pakistans Interessen missbraucht worden und müssten wieder auf den rechten Weg gebracht werden. Das sei möglich. Unter anderem durch Gesprächsangebote.

Als Mindestbedingungen für einen Dialog hat die Karsai-Regierung die Anerkennung der Verfassung, die Sicherung verbriefter Frauenrechte und die Fortdauer der internationalen Militärpräsenz genannt. Das kollidiert gewaltig mit der neuen Verfassung, die die Taliban verabschiedet haben. Sie steht jetzt auch im Internet.

Die neue Homepage der Taliban erscheint in fünf Sprachen: Paschtu, Dari, Urdu, Arabisch und Englisch. Wochenlang gab es keine Taliban-Homepage, sagt ein Kenner der Materie, sie war unter ihrer vormaligen Adresse durch Hacker, die von der US-Regierung beauftragt gewesen seien, außer Betrieb gesetzt.

Wo die Regierung 14 Tote bei einem jüngsten Anschlag angibt, feiern die Taliban auf ihrer Homepage 45 Opfer. Aus mindestens zwei Provinzen – Paktia und Kandahar - sendet ein mobiler Radio-Sender der Taliban. Wieso, fragt mein Gegenüber sich, fällt es den hochgerüsteten ausländischen Truppen so schwer, diese Sender mundtot zu machen?

Massoud Shamel ist Offizier in der afghanischen Armee, deren Truppen überwiegend von US-Ausbildern geschult werden. Schon zu Zeiten Nadjibullahs, des zu Ende der sowjetischen Besatzung eingesetzten Statthalters für Afghanistan, war Massoud Soldat.

"Die Amerikaner versorgen uns mit veralteten Waffen und Humvees", klagt Massoud, "die Wagen sehen genauso aus, wie die der Amerikaner, aber innen fehlt die ganze moderne Technik, die wir für unsere Sicherheit und zur Aufklärung brauchen. Ähnlich ist es bei den Waffen. Die neu ausgebildete afghanische Armee verfügt vielfach noch über alte Kalaschnikows. Mit denen sind wir den Aufständischen klar unterlegen."

Ob er und andere dagegen nicht diplomatisch protestierten, will ich wissen. Massoud antwortet mit einem anderen Beispiel: die US-Regierung sei außerdem dagegen, dass die afghanische Armee eine Luftwaffe aufbaue, mit Piloten, die Jets fliegen. Der Grund ist leicht zu erklären. Er liegt im US-amerikanischen Trauma von 9/11. Die Amerikaner wollen offenbar nicht, dass Afghanen Flugzeuge fliegen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, zumal in dieser strategisch sensiblen Gegend. "Mit Aufrichtigkeit und Vertrauen hat das alles wenig zu tun", meint Massoud.

​​14. Oktober 2007

Wo die Kinder nicht mit Plastik-Waffen spielen, lassen sie Drachen steigen. Zwei Dinge unterscheidet die hiesigen Drachen von unseren: Sie sind empfindlicher, denn sie sind aus Papier. Und der Faden, an dem sie hängen kann wahres Teufelszeug sein. Denn die Nylonschnur ist verstärkt mit Glasfaser. Das schneidet bei falscher Handhabung blitzschnell in die Haut, wie ich mich selbst überzeugen kann, als ich für ein paar Minuten einen der Drachen manövriere.

"Früher", sagt ein Erwachsener, von denen viele ebenfalls mitspielen, "früher war die Schnur aus Baumwolle. Wir haben sie selbst präpariert mit Kleber und Glassplittern. Heute wird fast nur noch Kunststoffschnur verkauft. Manche Kinder haben sich dadurch schon mächtig geschnitten."

Einer, der seinen Drachen steigen lässt, hat die Finger zum Schutz mit Tesafilm umwickelt. Der eigentliche Spaß besteht darin, mit einem anderen Drachen zu kämpfen. Hoch oben in der Luft geht es darum, die Schnur des gegnerischen Drachens zu durchtrennen. Dabei ist der Spielgefährte nie in Sichtweite. Denn die Standorte eines jeden Drachenhalters liegen – bei Schnurweiten von bis zu zwei Kilometern – so weit auseinander, dass das Gesicht des Gegners unsichtbar bleibt.

Die Drachen werden mit äußerstem Geschick gesteuert. Mehrmals verheddert sich der Faden in einer Baukrone. Das drapierte Buntpapier scheint unwiderruflich verloren. Immer aber gelingt es den Jungen, den Drachen mit Präzision und Gelassenheit zu befreien.

​​Das Radio meldet die Rückkehr von Ustad Mahwasth nach Afghanistan. Ustad heißt so viel wie Meister oder Lehrer. Mahwash ist eine der wenigen Frauen, der diese Auszeichnung zuteil geworden ist. Das war Anfang der 70er Jahre. Dann emigrierte sie mit ihrer Familie. 18 Jahre war die Ghazal-Sängerin nicht in ihrer Heimat, hat sich damit begnügt im amerikanischen Exil aufzutreten und ihre Poesie der Liebe dort zu vertonen.

Ich bin zum Konzert eingeladen, das im Konferenzraum eines Fünf-Sterne-Hotels stattfindet. Es beginnt um vier Uhr nachmittags. Früh genug, dass auch Frauen im Publikum dabei sind.

1977, als sie das Land verließ, war Ustad Mahwash ein Star. Sie bewegte sich in einer Männerdomäne, war zuhause in Kharabat, dem Musikerviertel in der Altstadt von Kabul. Die Konzerte ihres Ensembles in Radio Kabul waren berühmt. Einmal soll sie sich empört haben, als eines ihrer Lieder wegen der Nachrichten ausgeblendet wurde. Der Protest hatte Erfolg - danach mussten die Nachrichten warten. Für die ältere Generation ist die 60-Jährige eine Ikone.

Als der Vorhang aufgeht, betritt eine kleine kräftige Person in blauem Gewand und mit orangefarbenem Tschador die Bühne. Ihr rotbraun gefärbtes Haar schimmert im Licht der Scheinwerfer. Sie trägt eine Brille mit goldenem Rand und singt im Sitzen, umgeben von fünf Musikern. Ihre Stimme ist hell und klar wie auf früheren Aufnahmen.

"Ich kehre zurück, wenn Frauen wieder singen dürfen", hat sie vor Jahren gesagt. Jetzt hat sie vielleicht nicht den günstigsten Zeitpunkt ausgewählt. Denn ein Teil der politischen Klasse in Afghanistan ist noch immer gegen Sängerinnen in der Öffentlichkeit.

Das Fernsehen überträgt live. Das erhöht die Spannung. Ustad Mahwash verrutscht immer wieder der Schleier. Das verunsichert sie sichtlich. Sie will niemandem einen Vorwand liefern. Von Lied zu Lied zieht sie das Kopftuch deshalb enger um Arme und Hals.

Die Scheinwerfer treiben ihr Schweißperlen aufs Gesicht. Wieder rutscht der Tschador vom Kopf. Ihre Tochter eilt zu Hilfe, befestigt den Stoff. Gegensätzlicher kann der Anblick kaum sein: Ihre Tochter ist aufgemacht wie ein Spice Girl, mit hochhackigen Schuhen in Leopardenmuster und mit Fußfesseln. Dazu eine Mähne wie eine Barbiepuppe. Das Fernsehen ist schlau genug, das Bild nicht mit der Kamera einzufangen. Es könnte einen kleinen Aufstand auslösen.

Ustad Mahwash spielt über zwei Stunden fast ohne Pause. Ihr einnehmendes Lachen weicht immer wieder einem nachdenklichen Blick. Manchmal scheint sie wie versunken. Bereut sie die Rückkehr?

Das letzte Lied singt sie im Stehen. Erst jetzt sieht man ihre viel zu hohen Plateau-Schuhe. Es folgt eine standing ovation. Dann geht es zur Speisetafel. Ustad Mahwash, die grande dame des afghanischen Ghazals, lacht jetzt wieder ausgelassen. Alles scheint nur ein böser Traum gewesen zu sein.

13. Oktober 2007

Drei Tage lang feiern die Menschen Eid ul-Fitr, das so genannte Zuckerfest nach Ramadan. Die Familien besuchen sich gegenseitig. Traditionell gehen die jüngeren Geschwister zu den älteren. Das gebietet der Respekt vor dem Alter. Erwachsene kaufen sich neue Anzüge und Kleider, auch die Kinder werden beschenkt.

Die Folgen sehe ich am nächsten Tag auf der Strasse: Viele Jungen spielen mit Pistolen und Gewehren aus Plastik. Allein in dem Viertel, in dem ich wohne, treffe ich innerhalb weniger Minuten mehrere Kinder, die mit Pumpgun-Imitationen unterwegs sind.

Auch in Deutschland gibt es Spielzeugwaffen für Kinder. Aber das hier ist etwas anderes. Den Soldaten der internationalen Schutztruppe jagt der Anblick der Kinder einen Schrecken ein. Letztes Jahr, so erzählen mehrere Passanten übereinstimmend, sei ein Jugendlicher mit Spielzeugwaffe erschossen worden. Das ausländische Militär druckte daraufhin Plakate, um die Eltern auf das Problem aufmerksam zu machen. Allem Anschein nach hat das wenig genutzt.

"Mein Vater hat mir Geld gegeben, und ich hab mir die Waffe ausgesucht", sagt ein Junge, den ich nach dem Geschenk frage.
Etwas scheint da nicht zusammenzupassen: Die Menschen sind müde von 25 Jahren Krieg, sagen sie, können keine Waffen mehr sehen, aber sie schenken ihren Kindern Spielzeugpistolen.

"Das sind vor allem Familien die in den letzten fünf Jahren aus dem Ausland zurückgekehrt sind und den Krieg nicht miterlebt haben", versucht ein Mann einen Erklärungsversuch. Es überzeugt mich nicht. "Das ganze Spielzeug ist aus Pakistan importiert", weist ein anderer dem gehassten Nachbarland die Schuld zu. ISAF-Patrouillen sehe ich während der Festtage keine.

​​11. Oktober 2007

Was ist typisch afghanisch? Abseits der Absurdität, die in jeder Pauschalisierung liegt, sind viele Begegnungen ein déjà-vu.

Selbstüberschätzung begegnet mir immer wieder im Austausch mit Afghanen, der Wunsch nach Ruhm, der verständliche Drang, einmal aus der Masse der sich Abmühenden herauszuragen. Beste Absichten gehen einher mit unstrukturiertem Denken, der Mühe, einen Zeitplan einzuhalten.

Zum Beispiel Mustafa, ein junger Mann, der sich durch verschiedene Medienberufe schlägt. Ich gehe mit ihm Geschichte und Schnitt seines ersten Dokumentarfilms durch. Er redet bereits von einem Filmfestival in Berlin, von dem er gehört hat, und dass er seinen Film unbedingt vermarkten will. Aber seine Geschichte hat allerlei Pferdefüße.

Siddiq Barmak, der es als einer der wenigen afghanischen Filmemacher zu Weltruhm brachte, sagt, der gelegentliche Erfolg habe seine Film schaffenden Kollegen schnell trunken gemacht. Anstatt weiter an sich zu arbeiten, seien viele nach einer einzigen Einladung ins Ausland in einen trügerischen Rausch verfallen. Barmak meinte damit die 70er und 80er Jahre, als afghanische Regisseure mit ihren Filmen im Ausland waren, unter anderem im damaligen Ostblock. Sein Befund gilt bis heute.

Es gibt auch die andere Seite des "typisch afghanischen". Die Unerschrockenheit, etwas ganz Neues anzufangen. Der Bruch in der eigenen Biografie, die Kunst, in mehreren Rollen gleichzeitig zu leben. Oft ist dies sogar notwendig, um zu Überleben. Die Not und zugleich eine scheinbare Leichtigkeit, sich auf neue Verhältnisse einzustellen. Letzteres hat durch die verschiedenen Regimes der letzten Jahrzehnte auch ein opportunistisches Denken hervorgebracht. Ein Fremder wie ich brauchte und braucht Zeit, sich darin zurechtzufinden.

Es gibt die Gelassenheit der Afghanen (nicht zu verwechseln mit der Depression, die auch verbreitet ist.) Und die Stärke, die aus der Geborgenheit der Familie kommt. Nicht zu vergessen den Drang nach Freiheit, deren Rückseite der Medaille ist, dass der Staat sich schwer tut, seine Autorität geltend zu machen.

Ich empfinde das Leben in Afghanistan als Bereicherung. Ich beziehe Kraft und Energie aus der Begegnung mit den Menschen. "Afghanistan ist kein unterentwickeltes Land", sagt ein Freund, der mittlerweile seit fünf Jahren hier wohnt. Viele Menschen sind nicht nur flexibel, sondern auch dankbar für Anregungen.

Und natürlich die Lebensfreunde, trotz aller Armut und Tragik. Besser als alle anderen hat das der Autor und Kriegsreporter Hans Christoph Buch beschrieben: "Das beginnt schon damit, dass die von den Medien als Opfer oder Betroffene bezeichneten Menschen keine Leichenbittermienen zur Schau tragen, sondern lachen und fröhlich sind – fröhlicher als die Bürger der so genannten Geberländer, denen die Sorge um ihren Wohlstand und ihre Sicherheit jede Spontaneität ausgetrieben hat."

Dieser Teil von Afghanistan findet in unseren Medien kaum statt. Der lachende Afghane auf den Titelseiten unserer Zeitungen ist Tabu. Wahrscheinlich weil er unser Selbstverständnis als Gutmenschen in Frage stellt. Wo derjenige lacht, der Ziel unserer gut gemeinten Absichten ist, bedarf er unserer Hilfe scheinbar nicht mehr.

Zurück zu Mustafa und seinem Dokumentarfilm, der mich berührt. Gul Pari, 14 Jahre, ist heroinabhängig. Ihr Anblick ist so schön, dass es einem das Herz bricht über das Leben, das hier zugrunde geht. Dann schafft es Gul Pari in eine Entziehungskur. Aber sie flieht aus der Krankenstation. Und kommt zurück. Bis zuletzt bleibt unklar, ob sie den Absprung schafft. Mustafa hat die Szenen mit Musik untermalt. Ich empfehle ihm, die Bilder für sich sprechen zu lassen. Am Ende des Films sagt Gul Pari mit gehauchter Stimme und mit einem Blick, aus dem ihre Kindheit gewichen ist, sie wolle später Arzt werden und Kindern in Not helfen.

​​10. Oktober 2007

Es ist nichts geworden mit dem ruhigen Ramadan. Der Fastenmonat endet nervös. Alle paar Minuten schickt mir die deutsche Botschaft Anschlagswarnungen per sms auf das Handy. Ständig in Alarm zu sein oder einen gesunden Verdrängungsmechanismus walten lassen – viele entscheiden sich für Letzteres. Ich auch. Ein produktives Arbeiten mit Afghanen wäre sonst vielfach gar nicht möglich.

Es gab eine Reihe von Selbstmordanschlägen in den vergangenen zwei Wochen, vorzugsweise auf Busse mit Angehörigen der afghanischen Armee und auf ISAF-Fahrzeuge. "Wie schützen sie sich?", lautet die immer gleiche Frage, die mir Radio-Redakteure aus Deutschland stellen. Auf Distanz bleiben zu dieser Art von Fahrzeugen, die Stoßzeit im morgendlichen Verkehr meiden, ebenso zentrale Plätze und Straßen. Vor einem dreiviertel Jahr noch habe ich weniger darauf geachtet, wenn ich auf die Straße trat.

Mittlerweile machen Kinder Witze über Anschläge. "Enfejar!" (Anschlag) ruft mir ein Junge geschwind zu, während er mich mit dem Fahrrad überholt. Im Shar-e-Naw-Park spielen einige Burschen. Einer bleibt auf meiner Höhe stehen, imitiert mit den Armen das Zücken einer Pistole und zielt mit beiden Händen auf mich. "Dummkopf" rufe ich ihm mit der Nachsicht eines Erwachsenen nach.

Aber es gibt auch die andere Seite: Mädchen in weißen Kopftüchern auf dem Nachhauseweg von der Schule, die im Vorbeigehen ein kesses "How are you?" herauslassen, um dann in Lachen auszuprusten, wenn man irgendetwas antwortet.

Bei den Aufräumarbeiten nach Anschlägen, wie jenem neulich im Baharistan-Viertel mit über 20 Toten, beobachte ich eine Art Generationen-Trennung. Kinder klettern auf den Baum, um dort versprengte Körperteile herunterzuholen. Wenn diese zu hoch hängen schütteln sie sie vom Baum. Unten stehen auch Kinder. Sie schaufeln oder schieben Reste von Gedärmen und Fleischfetzen mit Holzstöcken in sterile Plastiktüten, die der Notdienst ausgeteilt hat.

Einer sagt, sie bekämen dafür sogar ein paar Rupien. Die Jugendlichen tun das konzentriert, scheinbar gleichgültig. Die Art und Weise, wie sie die Plastiktüten an der einen Hand halten, strahlt etwas von Routine aus. Die Erwachsenen schauen dem stumm und ausdruckslos zu.

6. Oktober 2007

In Kunduz gibt es 24 Stunden Strom am Tag. "Ein Grund, die Hauptstadt von Kabul hierher zu verlegen", scherzt einer der Gastgeber. Zum Fastenbrechen sind wir ein halbes Dutzend Personen, eine Männergesellschaft. Es wird reichlich aufgetragen: Qabli Palaw, Reis mit Hammelfleisch, Ash, ein Eintopf mit Nudeln, Koriander und Fleisch, Ashak, eine Art Gemüsepfandkuchen, gebratener Fisch, Spinat, Fladenbrot, Datteln, eingemachte Quitten und Melonen. Nur die gängigen Fanta- und Cola-Dosen scheinen nicht richtig ins Bild zu passen.

Die Zeitschrift "Afghanistan Heute" ist eine Erfolgsstory. Das Magazin der Mediothek druckt inzwischen 5.000 Exemplare für 30.000 Leser in Kunduz und den Nachbarprovinzen – ein Mix aus informativen Reportagen, Lyrik und neuesten Schlagzeilen über Bollywood-Stars.

Der Chefredakteur, ehedem Lehrer von Beruf, stöhnt über das Niveau an den Schulen. "Es fehlen gute Lehrer an allen Ecken und Enden. Einer braucht in Physik sechs Monate, um zwei Seiten durchzunehmen. Mehr traut er sich nicht, weil er es selbst nicht versteht. Das Physikbuch hat aber über 300 Seiten."

Auch Hilfsorganisationen bekommen ihr Fett weg: "Die Geberländer bauen hier viele Schulen. Aber an eine verbesserte Lehrer-Ausbildung wird wenig und nicht systematisch gedacht. Jedes Jahr gehen eine Million der sechs Millionen Schüler von der Schule ab. Viele fangen irgendetwas an, ohne einen genauen Plan zu haben."

Ich frage den Chefredakteur nach den Themen des neuesten Heftes. Er nennt u.a. die "Brücke der Freundschaft", 45 Autominuten von Kunduz entfernt, an der Grenze zu Tadschikistan, die jetzt über den Oxus geht, den die Afghanen Amu Darya nennen.

Der Weg dorthin führt durch wüstenähnliches Gelände. Sandverwehungen lassen die Straße beinahe verschwinden. Die Esel sind kaum auszumachen unter den Bergen von Heu oder Holz, das sie tragen. Kleine Jungen treiben sie mit einem Stock an. Kamele grasen in der öden Landschaft. "Im Frühjahr", sagt der Beifahrer, "ist hier alles grün."

Shir Khan Bandar, die Grenzstadt, ist eher ein Dorf. Der Hafen hat als Wahrzeichen einen großen Kran. Aber das Ende des Schiffsverkehrs ist eingeläutet. Die kürzlich eingeweihte "Pule Dusti", die "Brücke der Freundschaft" soll für mehr Güterautausch und Begegnungen sorgen. Bis sie für den Handel und öffentlichen Verkehr offiziell freigegeben wird, patroullieren hier tadschikische Grenzer und US-Militär.

"Es ist gut, dass es die Brücke gibt", sagt ein Motorradfahrer mit Turban, während er auf das tadschikische Ufer hinüberschaut, "aber ich habe nicht das Geld, um mir ein Visum zu leisten." Afghanen brauchen in der Regel ein Einladungsschreiben aus Tadschikistan, um ins Nachbarland zu gelangen. Ihre Brüder und Schwestern dort sprechen die gleiche Sprache wie sie.

Als die Sonne schon untergeht, fahren wir zurück nach Kunduz.
Durch die Steppe ziehen große Ziegenherden mit ihren Hirten. Weit und breit ist kein Haus zu sehen, in dem sie vielleicht könnten.

5. Oktober 2007

Nach sechseinhalb Stunden und 320 Kilometern in Richtung Norden ist Kunduz erreicht. Reis und einige der süßesten Melonen kommen von hier. Robert Byron nennt den Ort in seiner "Reise nach Oxiana" gleichbedeutend mit dem Tod. Möglicherweise hat er die Malaria gemeint, die hier immer noch eine Realität ist, allerdings nicht jetzt im Herbst.

In Kunduz ist deutsches Militär und ein PRT, ein Provincial Reconstruction Team - so heißen die zivil-militärischen Aufbauteams ansässig. Kürzlich forderte ein Anschlag auf dem Markt drei Tote. Was weiß man sonst noch über die Stadt?

Nicht Autos, wie in Kabul, verstopfen hier die Innenstadt. Ein unaufgeregter Verkehr aus Fahrrädern, motorisierten Rikschas, Pferdekutschen und Automobilen bewegt sich durch das Zentrum.

Internet-Cafés muss man mit der Lupe suchen. Der Internet-Treff der Mediothek, einer Medien-Initiative, die mit deutschen Mitteln unterstützt wird, ist zur Straße hin mit einem Metallgitter verriegelt. Nur vom Innenhof aus ist der Raum zugänglich, der sechs Computer beherbergt. "Das Angebot wurde nie richtig angenommen in den letzten zwei Jahren", sagt ein Mitarbeiter, "es fehlt die Nachfrage für diese Art der Kommunikation."

Kunduz ist nur wenig vernetzt. Aber das soll sich ändern, sagt ein Ladenbesitzer, der PC-Programme verkauft. "Anbieter verkaufen jetzt Wireless-Anschlüsse. Für 70 Dollar im Monat." Das ist mehr, als ein Lehrer verdient, erwidere ich. "Ja", antwortet er, "aber es gibt genug, die sich das leisten können.

Auf dem Plateau, auf dem die Neustadt entsteht, werden 50 schmucke Einfamilienhäuser im pakistanischen Stil gebaut. Stückpreis 40.000 Dollar, so ein Anwohner. Viele gehen an ehemalige Milizenführer oder Amtsträger, die inzwischen erfolgreich Geschäfte machen.

Obwohl es Freitag ist, ist die Innenstadt von Kunduz fast genauso rege wie werktags. In den engen Bazaren drängen sich bärtige Männer mit Turban und gegerbten Gesichtern, und kaum weniger Frauen in blauen und weißen Burkas. Manchmal hocken die Frauen kauernd am Boden, während ihre Männer an einem Stand einkaufen.

Bewaffnete Soldaten sind, anders als in Kabul, die Ausnahme im Markttreiben. Für jene, die aus dem Umland kommen, ist der Bazar das Tagesereignis.

Die Menschen in Kunduz sind zufrieden, dass es deutsche Soldaten in der Stadt gibt, meint Zahir, ohne dies würden die Warlords und Milizenführer wieder ihr Unwesen treiben. Seit drei Monaten gebe es keine Fußpatrouillen der ISAF mehr in der Stadt. Die Konvois brausen durch.

An einem Geschäft bitten mich meine Freunde draußen zu bleiben. Meine Anwesenheit würde den Preis ihres Einkaufs – es handelt sich um Farbeimer – erheblich in die Höhe treiben. Das kenne ich aus Kabul, wenn es um das Taxifahren geht. Bei längeren Entfernungen bekomme ich Zeichen, hinter der Ecke zu verschwinden, bis der Fahrpreis ausgehandelt ist.

4. Oktober 2007

Mit drei Bekannten geht es in Richtung Kunduz. Raus aus der "Blase Kabul", mit ihrer schlechten Luft, dem gehetzten Tempo, in dem sich die Menschen selten genug Zeit nehmen für ein gründliches Gespräch.

Die Shomali-Ebene trägt sattes Grün. Bauern verkaufen Trauben am Straßenrand, tiefbraune Rosinen sind so hoch wie ein Ameisenhaufen aufgetürmt. Kühe grasen auf einem Volleyballfeld. Kinder lassen auf einem Friedhof Drachen steigen.

Dann geht es in Serpentinen hinauf in den Hindukusch. Schnell wird klar: Der Wiederaufbau der Straßen hat noch einen ganz anderen Gegner als die Taliban: die Natur. Der Regen der letzten Monate hat Gewässer und Bäche zu reißenden Flüssen anschwellen lassen. Häuser und Teile der Straße wurden mitgerissen. An mehreren Stellen ist die Hälfte der Fahrbahn weggebrochen, eingestürzte Brücken liegen im Flussbett.

Vor zwei Jahren war die Straße in den Norden fertig asphaltiert worden, mit Millionen von Hilfsgeldern. Jetzt schuften an vielen Stellen Dutzende Männer, um erst die Staumauern, dann den Straßenbelag wiederherzustellen.

Hamid Karsai sagt, solange die wichtigsten Straßen nicht fertig gebaut sind, möchte er die fremden Helfer in Afghanistan haben. Eine Hilfsorganisation, die in Kabul über Korruption recherchiert, hat herausgefunden, dass üppige Hilfsgelder für den Straßenbau in bestimmten Regionen die Verhältnisse aus dem Gleichgewicht bringen: Milizenführer, die längst auch Geschäftsleute sind, werden mit viel Geld aufgewertet und erhalten den Auftrag. Ihre Konkurrenten sind als Benachteiligte vergrätzt, suchen neue Allianzen oder greifen kurzfristig zu Gewalt.

In den Bautrupps arbeiten auch ältere Männer. Sie schleppen zentnerschwere Steinblöcke in Zeitlupentempo. Vermutlich für drei Dollar am Tag, der Durchschnittslohn für solche Arbeiten. Unten im Flussbett schaufeln Bagger neue Fluchten. Man kann nicht erkennen, wie sie dahin gekommen sind.

Der Salang-Tunnel in 3.300 Meter Höhe, ein Mammut-Werk der Ingenieurskunst aus den 60er Jahren, ist das Nadelöhr in den Norden. Vor der Fertigstellung des Tunnels durch die Sowjets trennte der erste Schnee das Land faktisch in zwei Teile. Im Inneren des Tunnels trifft unser Wagen auf eine Wand aus Staub. Beim Überholen ist Vorsicht angebracht.

Wieder draußen, geht es nur noch bergab. Die Lehmhäuser, die den Weg säumen, schmiegen sich im Farbton an die Erde, die sie umgibt. Auf den Feldern holen die Männer das Getreide ein, die Frauen zupfen Baumwolle. Vereinzelt liegen am Wegrand kleine, kaum wahrnehmbare rote Steine. Sie bedeuten Minengefahr.

Auf einem Hügel nahe der Straße feiert ein Dorf eine Hochzeit. Ein weißer Toyota Corolla ist mit Blumen und Farbbändern in grün-rosa geschmückt. Die Braut wartet noch zuhause. Kilometer weiter erneut eine Ansammlung von Menschen. Diesmal wird ein Toter zu Grabe getragen. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Afghanistan liegt bei 47 Jahren.

Die Straße ist eine Lebensader. Kinder spielen dort ohne Angst, Greise sitzen am Straßenrand auf Holzbetten und beobachten, wer und was vorüberzieht. Manchmal schert ein Wagen auf der Gegenseite aus. Dann witzeln meine afghanischen Mitfahrer über Ramadan. Bei immer noch warmem Wetter haben die meisten – entweder aus Überzeugung oder aus Respekt vor der eigenen Familie – seit halb vier morgens nichts gegessen und getrunken. Am Nachmittag lässt die Konzentration stark nach. Der Mann am Steuer hat noch mehr Verantwortung zu tragen.

3. Oktober 2007

Die deutsche Botschaft lädt zum Tag der deutschen Einheit. Festungsatmosphäre. Dutzende afghanische Polizisten und deutsche Scharfschützen sichern die Zufahrtsstraßen ab. Das Eingangstor ist von drei gepanzerten Fahrzeugen flankiert.

Innen steht ein Team afghanischer Jugendfußballer in Trikots und kurzen Hosen Spalier. Richtig auflockern tut das die Atmosphäre nicht. Daimler-Benz verkündet, der deutsche Botschafter habe dem Olympischen Komitee Afghanistans einen neuen Bus geschenkt. Bei dem Wort Bus beschleichen einen gemischte Gefühle. In dieser Woche hat es in der Stadt Selbstmordanschläge auf zwei Busse gegeben. Ziel waren jeweils Angehörige der afghanischen Armee.

Viele Uniformierte – deutsche Polizei, Europol und ISAF-Soldaten – sind zur Gartenparty erschienen. Ich unterhalte mich mit einem holländischen Offizier. "Dieses Land ist uns so fremd", sagt er, "wir verstehen es im Grunde gar nicht". Um dann standhaft zu versichern, man habe natürlich eine Strategie, die darin bestehe, sich nicht von Anfang an festzulegen und flexibel zu sein.

Es überwiegen die alkoholischen Getränke im Angebot. Diplomaten und offizielle Helfer werden wie immer von ihren afghanischen Fahrern nach Hause gebracht. Manche Fahrer haben studiert. So wird ein nicht unbedeutendes Potenzial gebunden, das der afghanischen Wirtschaft zugute kommen könnte.

​​26. September 2007

Mit dem Taxi fahre ich nach Karte Seh, auf die andere Seite der Stadt. Hier sind viele Hazara zuhause, Nachfahren von Dschingis Khan und seinen Mongolen, wie man an ihren Gesichtszügen erkennen kann.

Nasim wartet in einem Café, das ein Treffpunkt für junge Afghanen ist, die gerne konvertieren möchten. In einem Bücherregal stehen Religionsfibeln einer Presbyter-Gemeinde. Auch die Südkoreaner, die im August Geiseln der Taliban waren, gehörten einer Presbyter-Kongregation an.

In dem Café, das afghanische Frauen gerne allein aufsuchen, weil sie hier nicht gleich belästigt werden, gibt es Muffins, Schokoladenkuchen und gepressten Melonensaft aus riesigen Einmachgläsern. Mein afghanischer Freund geht dorthin, weil es kostenlosen Zugang zu einer schnellen Internet-Verbindung gibt. Er ist einer der wenigen halbwegs bekannten afghanischen Bloger (www.afghanlord.org).

"I was born in the land of pain and injustice", beginnt sein Blog. Er erzählt von der Universität. Einige der Paschtunen - jener ethnischen Gruppe, die die relative Mehrheit der Bevölkerung darstellt, wollen angeblich das Persische an der alma mater zurückdrängen. In Kabul herrscht Dari, die afghanische Prägung des Persischen, vor. In der Verfassung sind beide Sprachen gleichberechtigt.

An der Fakultät für Psychologie, erzählt Nasim, sei der Dozent neuerdings gezwungen, die Hälfte seiner Stunden in Paschtu zu unterrichten. 80 Prozent seiner Schüler verstünden aber kein Paschtu. Der ethnische Faktor scheint wieder an Bedeutung zu gewinnen. Das passe zu dem gewachsenen Misstrauen im Land.

Von oben gesteuert sei die sprachliche Paschtunisierung des Landes nicht, meint Nasim. Er vermutet einflussreiche Einzelpersonen. Dann gerät ins Sinnieren: "Warum sind wir Afghanen, wie wir sind? Warum werden wir überall als die Wilden, die Kulturlosen angesehen. Warum schaffen wir es nicht, uns die Wahrheit zu sagen und baden stattdessen in Lügen."

Ich treffe Ali Karimi im Studentenwohnheim. Das Wort geht einem nur zögerlich über die Lippen. Die Studenten leben dicht gedrängt wie Sardinen in den Zimmern, bis zu zehn Personen auf 30 Quadratmetern. Das Bett dient als Auflage für Bücher und Kochvorbereitungen. Der eine oder andere besitzt einen Laptop.

Die Begrüßung ist herzlich. Timor Shah, einer der Stundenten, beschwert sich über fehlenden Strom im Wohnheim. Ein anderer über schimmelnde Früchte und schlechten Reis. Gegessen wird auf dem Zimmer. Es gibt vier Kantinen, aber alle sind geschlossen. Keiner weiß warum. 2.700 Studenten wohnen in dem Wohnheim. Ausgerichtet ist es für 700. Der zuständige Verantwortliche im Bildungsministerium erklärt, die Studenten in Kabul hätten es besser als in den Provinzstädten.

In der Zeitung steht eine Umfrage, inklusive einer so genannten "Sonntagsfrage" mit bunter Grafik. Das ist neu für Afghanistan. Wenn morgen Präsidentenwahlen wären, würden 48 Prozent Amtsinhaber Hamid Karsai wählen. Die anderen 48 Prozent verachten ihn als Marionette der Amerikaner. In derselben Umfrage geben 50 Prozent der in Kabul Befragten an, ihnen gehe es heute besser als vor einem Jahr.

​​23. September 2007

Der Flughafen von Kabul ist eine große Baustelle. Vor drei Jahren lagen neben dem Rollfeld noch verstreut Wracks von Passagiermaschinen und Hubschraubern, der Rumpf einfach durchgetrennt wie zerfetzte Leichenteile. Jetzt sind schon die Umrisse des neuen Terminals sichtbar.

Ein Dutzend Walzfahrzeuge pressen den Teer auf den staubigen Untergrund. Teile der neuen Landebahn sind bereits betoniert. Sechs Maschinen sind im An- und Abflug, als wir landen. So viel Betriebsamkeit ist neu. Afghanistans Botschafterin in Deutschland wünscht sich, dass bald wieder die Lufthansa nach Kabul fliegt. Wie früher.

Es ist Ramadan, weniger Verkehr als sonst. Die Leute verlassen die Büros bereits um zwei, spätestens drei Uhr. Letztes Jahr gab es während des Ramadan einige Anschläge, erinnern sich die Menschen. 2001, im Krieg gegen die Taliban und Al Qaida, wurde sogar eine zeitlang diskutiert, ob über Ramadan weitergekämpft werden soll. Heute ist so etwas kein Thema mehr. Verrohung der politischen Sitten nennt man das wohl.

Am Vormittag gab es einen Ansturm auf das Goethe-Institut. 170 neue Anmeldungen für die Deutsch-Sprachkurse. "Diesmal sind Frauen dabei, die wir noch nie hatten", sagt eine Mitarbeiterin. Sie erzählt von Teilnehmerinnen, die kürzlich in Kabul geheiratet haben und jetzt von ihren afghanischen Ehemännern nach Deutschland geholt werden sollen.

Diese Nachzug-Ehen werden vom deutschen Staat und von Frauenrechtlerinnen kritisch beäugt. Wer in Kabul ein Visum für Deutschland beantragt, muss nach den neuen deutschen Einwanderungs-Richtlinien einen Sprachnachweis erbringen, erklärt die Mitarbeiterin des Goethe-Instituts. "Einige standen heute zwar nicht in Burka an, aber deutlich verhüllter, als wir das bisher gewöhnt waren".

Martin Gerner

© Qantara.de 2007

Qantara.de

Kinder in Afghanistan - Fotos von Martin Gerner
Der Journalist Martin Gerner reist seit 2004 regelmäßig nach Afghanistan. Auf seinen Reisen hat er stets auch versucht, das Leben der Kinder im Land am Hindukusch fotografisch festzuhalten.