Al-Scharaa muss aus den Fehlern der Assad-Ära lernen

Der Sturz von Assad im Dezember 2024 weckte Hoffnungen auf eine bessere Zukunft in Syrien. Doch beim Wiederaufbau der Wirtschaft des Landes sind noch enorme Herausforderungen zu bewältigen.
Mehr als die Hälfte der Syrer:innen ist weiterhin vertrieben, entweder im Inland oder im Ausland. 90 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, und 16,7 Millionen Menschen – drei von vier – benötigten nach Angaben der UN im Jahr 2024 humanitäre Hilfe.
Die Verbesserung der sozioökonomischen Bedingungen ist für die Zukunft Syriens und für eine breitere Beteiligung des syrischen Volkes am gegenwärtigen politischen Wandel von entscheidender Bedeutung. Für die Erholung und den Wiederaufbau wird internationale Finanzhilfe benötigt, einschließlich ausländischer Investitionen.
Die von Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) geführte Übergangsregierung ist im Moment vor allem bestrebt, ihre geopolitische Stellung zu verbessern und ausländische Investitionen zu fördern. Dazu führt sie jedoch die neoliberale Politik des vorherigen Regimes weitgehend fort oder weitet sie sogar noch aus, wodurch Ungleichheiten vertieft und die zentralen wirtschaftlichen Herausforderungen verschärft werden.
Syrien braucht Investitionen zur Finanzierung des Wiederaufbaus
Die Kosten für den Wiederaufbau in Syrien werden auf 250 bis 400 Milliarden US-Dollar geschätzt. Syrien braucht ausländische Investitionen, diese sollten mit Hilfe des Staates für den Wiederaufbau von Wohnraum für die vertriebene Bevölkerung und für produktive Wirtschaftszweige verwendet werden – und nicht dafür, kommerzielle und spekulative Dynamiken anzukurbeln.

„Bei einem gerechten Wiederaufbau stehen die Menschen im Mittelpunkt“
Seit 2017 bringt Syrbanism Architekten und Stadtplaner aus der syrischen Diaspora zusammen. Nach dem Sturz Assads reisten die Gründer Edwar Hanna und Nour Harastani nach Damaskus, um ihre Vision eines demokratischen Wiederaufbaus weiterzuverfolgen.
Investitionen werden jedoch weiterhin durch die Sanktionen gegen Syrien und die HTS behindert. Ende Februar 2025 setzte die EU Sanktionen in einigen Bereichen aus. Auch das Vereinigte Königreich hob letzte Woche die Sanktionen gegen 24 syrische Einrichtungen, darunter die Zentralbank, auf.
Die weitreichenden US-Sanktionen bleiben das größte Hindernis. Im Januar lockerte die Biden-Regierung die Sanktionen für den Energiesektor und für persönliche Rücküberweisungen. Die neue Trump-Regierung hat noch keine klare Syrien-Politik oder eine Haltung zu Sanktionen formuliert.
Strukturelle Schwächen – instabile Währung, beschädigte Infrastruktur, Engpässe
Auch ohne Sanktionen steht Syrien vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen, die den Wiederaufbau behindern könnten. Die Instabilität des syrischen Pfunds (SYP) ist dabei ein wichtiges Thema. Nach dem Sturz Assads stieg sein Wert auf dem Schwarzmarkt sprunghaft an, was auf einen Zustrom ausländischer Währungen, die erwartete Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft, geldpolitische Maßnahmen zur Verringerung des Angebots in SYP auf dem Markt und die informelle Dollarisierung zurückzuführen ist. Bis zur Stabilisierung des SYP ist es noch ein weiter Weg, was Investoren, die schnelle und mittelfristige Rendite anstreben, abschreckt.
Einige Regionen im Nordwesten verwenden seit mehreren Jahren türkische Lira, um die durch die starke SYP-Abwertung geschädigten Märkte zu stabilisieren. Auch US-Dollar sind im ganzen Land im Umlauf. Die Wiedereinführung des SYP als Hauptwährung könnte sich als problematisch erweisen, wenn keine Stabilität erreicht wird.

„Mein Vorschlag: eine Gauck-Behörde in Damaskus”
Als Verfechter einer demokratisch-dezentralen Verfassung ist Siamend Hajo seit Jahren in den UN-Syrienprozess involviert. Nach dem Sturz Assads kritisiert er, die UN fielen vor den neuen Machthabern auf die Knie. Von Deutschland erwartet er Hilfe bei der Vergangenheitsbewältigung.
Die syrische Infrastruktur und die Verkehrsnetze sind nach wie vor schwer beschädigt. Die Produktionskosten sind hoch und es gibt gravierende Engpässe bei Rohstoffen und Energieressourcen. Darüber hinaus leidet Syrien unter einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, und es ist noch nicht klar, ob und wann diese zurückkehren werden.
Der Privatsektor, der hauptsächlich aus kleinen und mittleren Unternehmen mit begrenzten Kapazitäten besteht, muss nach mehr als 13 Jahren Krieg erheblich modernisiert und wieder aufgebaut werden. Auch die staatlichen Mittel sind stark begrenzt, was Investitionen in die Wirtschaft weiter einschränkt.
Die wichtigsten Ölvorkommen Syriens liegen im Nordosten, welcher derzeit von der kurdisch dominierten „Autonomen Administration Nord- und Ostsyrien“ (AANES) kontrolliert wird. Die syrische Erdöl- und Erdgasproduktion ist drastisch zurückgegangen: Die Ölproduktion von 400.000 Barrel pro Tag im Jahr 2010 auf rund 91.000 Barrel im Jahr 2023 – völlig unzureichend für den lokalen Bedarf. Vor dem Sturz Assads lieferte der Iran einen Großteil des in Syrien benötigten Erdöls.
Da die Lebenshaltungskosten weiter steigen und der SYP an Wert verliert, ist die Bevölkerung Syriens zunehmend auf Rücküberweisungen angewiesen. Deren Volumen ist höher als das der schon seit 2011 minimalen ausländischen Direktinvestitionen und der humanitären Hilfe, die in den letzten Jahren durchschnittlich über zwei Milliarden US-Dollar betrug.
Neoliberalismus unter Assad und al-Scharaa
Seit der Machtübernahme orientiert sich die Wirtschaftspolitik der Übergangsregierung weitgehend an den vom früheren Regime geschaffenen neoliberalen Wirtschaftsrahmen. Als Baschar al-Assad im Jahr 2000 an die Macht kam, beschleunigte er neoliberale Reformen.
Im Jahr 2005 übernahm seine Baath-Partei die soziale Marktwirtschaft als Strategie und positionierte den Privatsektor als treibende Kraft im Prozess der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Staat zog sich aus den zentralen Bereichen der Sozialfürsorge zurück, wodurch sich die bereits bestehenden sozioökonomischen Probleme verschärften. Privatisierung, Liberalisierung und Subventionsabbau waren die Hauptmerkmale dieser Politik.
Die neoliberalen Reformen und Sparmaßnahmen kamen der Oberschicht und ausländischen Investoren zugute – auf Kosten der Mehrheit der syrischen Bevölkerung, die von der Inflation und steigenden Lebenshaltungskosten hart getroffen wurde. Assads Wirtschaftspolitik während des Krieges verschärfte die wirtschaftliche Dynamik von vor 2011, begünstigte die private Kapitalakkumulation, reduzierte die soziale Verantwortung des Staates und führte zur Ausweitung von Korruption und illegalen Wirtschaftspraktiken.
Der Ansatz der neuen Übergangsregierung stellt keinen Bruch mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik des früheren Regimes dar – ganz im Gegenteil. Der Übergangspräsident Ahmad al-Sharaa und seine Minister haben zahlreiche Treffen mit Vertreter:innen der syrischen Industrie- und Handelskammern sowie mit führenden Wirtschaft innerhalb und außerhalb des Landes abgehalten, um ihre wirtschaftlichen Visionen vorzustellen und Bedenken zu hören.
Es gibt bereits konkrete Anzeichen dafür, dass die Übergangsregierung die Privatisierung beschleunigt und Sparmaßnahmen plant. Vor seinem Besuch des Weltwirtschaftsforums in Davos – einer Konferenz, die symbolisch für den westlichen Neoliberalismus steht – erklärte Außenminister Asaad al-Shaibani gegenüber der Financial Times, die HTS plane, vorrangig „öffentlich-privaten Partnerschaften“, einschließlich der Privatisierung staatlicher Häfen und Fabriken, abzuschließen, um ausländische Investitionen anzuziehen und den internationalen Handel anzukurbeln.
Sparmaßnahmen und Massenentlassungen bei steigenden Lebenshaltungskosten
Mehrere wichtige Sparmaßnahmen wurden von der HTS bereits umgesetzt. Der Preis für subventioniertes Brot wurde von 400 SYP (Gewicht 1.100 Gramm) auf 4.000 SYP (ursprünglich 1.500 Gramm, später nur noch 1.200 Gramm) angehoben. Die Brotsubventionen sollen im Zuge der Liberalisierung des Marktes in den nächsten Monaten ganz auslaufen. Im Januar erklärte der Minister für Elektrizität, Omar Shaqrouq, gegenüber dem Syria Report, dass die HTS auch die Stromsubventionen reduzieren oder sogar abschaffen werde.
Ebenfalls im Januar gab das Ministerium für Wirtschaft und Außenhandel bekannt, dass ein Viertel bis ein Drittel der staatlichen Belegschaft entlassen werden würde, wobei es sich um Mitarbeiter:innen handelt, die nach Angaben der neuen Behörden zwar bezahlt wurden, aber nicht arbeiteten. Entlassene und suspendierte Beschäftigte protestierten daraufhin landesweit.
HTS hat eine Lohnerhöhung um 400 Prozent zugesagt, wodurch sich das Mindestgehalt auf 1.123.560 Syrische Pfund (circa 86 US-Dollar) beläuft – ein Schritt in die richtige Richtung. Die Umsetzung steht jedoch noch aus, gleichzeitig reicht die Erhöhung angesichts der anhaltenden Krise bei den Lebenshaltungskosten nicht aus. Die Zeitung Kassioun schätzt, dass ein fünfköpfiger Haushalt in Damaskus mindestens 9 Millionen syrische Pfund (692 USD) pro Monat benötigt, um die Grundbedürfnisse zu decken.

Die HTS nutzt Wirtschaftspolitik, um internationale Legitimität zu erlangen
Die neoliberale Wirtschaftspolitik der HTS ist Teil eines umfassenderen Plans zur Konsolidierung ihrer Macht und eines kontrollierten Übergangs. Die Gruppe versucht, ausländische Ängste zu zerstreuen, Kontakte zu regionalen Mächten herzustellen und als legitime Kraft anerkannt zu werden, mit der man verhandeln kann. Trotz ihrer Einstufung als terroristische Organisation ist bereits ein Wandel in den regionalen Hauptstädten zu erkennen.
Ankara übt derzeit den größten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss auf das neue Syrien aus und festigt seine Position durch die Unterstützung der HTS. Das Hauptziel der Türkei besteht neben der erzwungenen Rückführung von Flüchtlingen und der Nutzung künftiger wirtschaftlicher Chancen darin, die Autonomiebestrebungen der Kurd:innen in Syrien zu unterbinden.
Katar wird höchstwahrscheinlich als wirtschaftliche Stütze eine wichtige Rolle spielen. Sowohl Katar als auch die Türkei unterstützen die neue Regierung in Damaskus bereits auf verschiedene Weise. Türkische Wirtschaftsdelegationen haben syrische Handelskammern und Industriekonzerne besucht, um mögliche Investitionsmöglichkeiten zu erkunden.
Ende Januar senkte Damaskus die Zölle auf über 260 türkische Produkte. Die türkischen Ausfuhren nach Syrien stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 35,5 Prozent und erreichten am 25. Januar 219 Millionen US-Dollar. Syrische und türkische Beamte haben sich darauf geeinigt, die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen der Türkei und Syrien aus dem Jahr 2005 wieder aufzunehmen und eine umfassendere Wirtschaftspartnerschaft zu planen. Die Verhandlungen lagen seit 2011 auf Eis.
Für die nationale Produktion Syriens könnte dies jedoch negative Folgen haben, insbesondere in der verarbeitenden Industrie und in der Landwirtschaft. Dort hätte Syrien möglicherweise Schwierigkeiten, mit türkischen Importen zu konkurrieren. Das ursprüngliche Freihandelsabkommen von 2005 hatte nachteilige Auswirkungen auf die lokale Industrie und führte zur Schließung vieler Produktionsstätten, insbesondere in den Vororten der Großstädte.
Kann al-Scharaa aus den Fehlern Assads lernen?
Syrien steht vor dringenden sozioökonomischen Herausforderungen, und das vor dem Hintergrund einer sich rapide verändernden geopolitischen Dynamik. In diesem Zusammenhang müssen soziale und wirtschaftliche Fragen rasch angegangen werden. Lebensbedingungen müssen verbessert und die Möglichkeit der Bevölkerung erhöht werden, sich am politischen Leben und am Wandel des Landes zu beteiligen.
Obwohl es der Übergangsregierung gelungen ist, einen Sinneswandel in den regionalen Hauptstädten herbeizuführen, bietet die politisch-wirtschaftliche Ausrichtung der neuen Regierung keine Alternative zum neoliberalen Ansatz des vorherigen Regimes. Die aktuelle Führung beschleunigt die Entwicklung durch Liberalisierung, Privatisierungen, Sparmaßnahmen und Subventionskürzungen.
Eine solche Wirtschaftspolitik wird zu mehr sozialer Ungleichheit, Verarmung, der Konzentration von Reichtum in den Händen einer Minderheit und dem Ausbleiben einer produktiven Entwicklung führen – alles Faktoren, die Teil der Ursache für den Volksaufstand im Jahr 2011 waren.
Dies ist eine überarbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Ronja Grebe.
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