Niederlande: Entschuldigung für Sklaverei
Es ist knackig kalt an diesem Dezembertag in Amsterdam. Kulturhistorikerin Jennifer Tosch steht vor der offiziellen Residenz des Bürgermeisters in der Herengracht 502, einem prächtigen Gebäude an der Gouden Bocht, dem prestigeträchtigsten Abschnitt der Gracht. Die Gründerin der Black Heritage Tours Amsterdam deutet auf eine in den Boden vor dem Haus eingelassene Gedenktafel. "So lange die Erinnerung lebt, war das Leiden nicht umsonst", steht darauf.
Das Haus wurde im Jahr 1672 für Paulus Godin errichtet, einen Verwaltungsbeamten der niederländischen Westindien-Kompanie. Wie viele seiner Nachbarn an der Herengracht verdankte er seinen Reichtum zumindest in Teilen der Sklaverei, wie auf der Tafel zu lesen ist.
Die aus den USA stammende Kulturhistorikerin kam als Austauschstudentin in die Niederlande. "Ich war überrascht, wie sehr das vorherrschende Narrativ von der Vorstellung eines ruhmreichen Goldenen Zeitalters dominiert war", erzählt sie mit Blick auf die Zeit, als die Niederlande sich schnell zu einem der reichsten Länder der Welt entwickelten.
Etwa fünf Prozent derjenigen, die in Afrika über die Jahrhunderte versklavt wurden - ungefähr 600.000 Menschen - wurden im Rahmen des transatlantischen Sklavenhandels von den Niederländern in die eigenen Kolonien verschifft. Ziel der Sklavenschiffe waren zum Beispiel Surinam und Curaçao in der Karibik. Andere Gefangene wurden in die Kolonien anderer europäischer Länder auf dem gesamten amerikanischen Kontinent gebracht.
Das harte Leben der Sklaven
Sklaven aus Afrika wurden auch in die niederländischen Kolonien im Indischen Ozean, zum Beispiel das heutige Indonesien, transportiert, während versklavte Balinesen oder Javaner in das heutige Südafrika gebracht wurden. Viele Menschen starben während der Überfahrten.
Auf die Überlebenden und ihre Nachfahren wartete ein Leben voll harter Arbeit auf den Plantagen. Da war zum Beispiel Wally, der als Sklave auf einer Zuckerplantage in Surinam arbeiten musste und 1707 an einem Aufstand teilnahm. Seine Geschichte wurde im vergangenen Jahr im Rahmen einer Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum erzählt.
Die Strafe für sein Aufbegehren war unfassbar grausam: Ihm wurden mit einer glühenden Zange Fleischstücke aus dem Körper gerissen, dann wurde er bei lebendigem Leibe verbrannt. Sein Kopf wurde im Anschluss auf einem Pfahl aufgespießt und zur Schau gestellt.
Hinweise auf diese mehr als 250 Jahre alte Geschichte sind überall in Amsterdams Umgebung zu finden. "Man muss nur wissen, wo man suchen muss", sagt Kulturhistorikerin Tosch. Ihre Eltern stammen aus Surinam, sie selbst zählt versklavte Menschen zu ihren Vorfahren.
2013 begann sie, ihre Tour anzubieten, um Einheimische ebenso wie Touristen über die Bedeutung der Sklaverei in den Niederlanden aufzuklären. Sie will die "vorsätzliche Ignoranz in der niederländischen Gesellschaft" über das koloniale Erbe aufbrechen.
Inzwischen ist Bewegung in die Debatte gekommen: Am 19. Dezember hat sich Ministerpräsident Mark Rutte für die Rolle seines Landes im Sklavenhandel entschuldigt. Doch nicht alle Akteure sind bereit, diese Entschuldigung zu akzeptieren.
Umstrittenes Datum
Verschiedene Organisationen aus Surinam haben sich zum Beispiel beschwert, im Vorfeld nicht ausreichend konsultiert worden zu sein. Sie würden eine entsprechende Zeremonie lieber am 1. Juli 2023 abhalten, wenn sich in Surinam das Ende der Sklaverei jährt. Dann sind seit der offiziellen Abschaffung 160 Jahre und 150 Jahre seit der tatsächlichen Abschaffung vergangen.
Die Pläne der niederländischen Regierung sickerten erst im November nach Medienberichten an die Öffentlichkeit. Eine offizielle Bestätigung zu Datum und Inhalt der Entschuldigung gab es jedoch nicht. Seitdem beherrschte das Thema die Schlagzeilen in den Niederlanden.
Ursprünglich sollte die Entschuldigung von dem schwarzen Abgeordneten und Minister für Rechtsschutz surinamischer Abstammung, Franc Weerwind, verlesen werden. In Den Haag fand am 13. Dezember eine Krisensitzung mit Vertretern von Niederländern mit Wurzeln in Surinam oder auf den Antillen statt. Zwei Tage danach reiste Vize-Premierministerin Sigrid Kaag nach Surinam, um zu versuchen, "die Scherben wieder zu kitten", wie die niederländische Zeitung "Trouw" es ausdrückte.
Welche Summen sind angemessen?
Doch nicht nur der Zeitpunkt der Entschuldigung ist umstritten, auch die Höhe der geplanten Reparationszahlungen. Die niederländische Regierung will Berichten zufolge 200 Millionen Euro in die Aufklärung der Rolle des Landes in der Sklaverei investieren. Weitere 27 Millionen Euro sollen in den Bau eines Museums fließen.
Armand Zunder, Vorsitzender der Nationalen Kommission für Reparationszahlungen von Surinam, hält diese Summe nicht für ausreichend. "Was zerstört wurde, muss wiederhergestellt werden. Unser Referenzrahmen sind Milliarden, sicherlich nicht Hunderte Millionen von Euro", sagte Zunder den Medien.
Damit schließt sich Zunder dem Standpunkt der Karibischen Kommission für Reparationen an. Die überregionale Initiative ehemaliger Kolonien, in denen viele Menschen versklavt wurden, hat einen zehn Punkte umfassenden Plan mit Forderungen erstellt. Zur Wiedergutmachung wollen sie nicht nur eine offizielle Entschuldigung, sondern auch Mittel für Alphabetisierung, Gesundheitsversorgung, Geschichtsforschung und Wissenstransfer.
Gruppen in den Niederlanden wie die Stiftung Ocan, die die niederländisch-karibische Gemeinschaft vertritt und für deren Rechte kämpft, betonen, dass ihnen die Choreographie einer Entschuldigung deutlich weniger wichtig sei als die Form der Wiedergutmachung. Es gäbe viele aktuelle Probleme zu lösen, meint Sprecher Xavier Donker. "Rassismus, sowohl offen als auch subtil, eine unverhältnismäßig hohe Arbeitslosigkeit und Diskriminierung", zählt er auf. All diese Probleme seien Teil des "fortbestehenden Erbes" der Kolonialzeit.
Schon lange wird in den Niederlanden über die Figur des "Zwarte Piet", des Schwarzen Peters, diskutiert. Traditionell malen sich Anfang Dezember zahlreiche Niederländer die Gesichter schwarz an und ziehen Lockenperücken an, um in Umzügen den Helfer des heiligen Nikolaus zu spielen. Viele schwarze Niederländer halten diesen Brauch für beleidigend, doch wenn sie ihn kritisieren, werde ihnen oft vorgeworfen, lediglich die Aufmerksamkeit erhaschen zu wollen, klagt Donker.
Kontroverse Diskussionen
Ein von der Regierung in Auftrag gegebener Bericht hat vor eineinhalb Jahren die offizielle Entschuldigung sowie weitere Maßnahmen zur Bekämpfung des institutionellen Rassismus empfohlen. Zuvor hatte sich Premierminister Mark Rutte noch gegen eine Entschuldigung ausgesprochen. Im Jahr 2020 vertrat er noch die Ansicht, sie könne zu einer gesellschaftlichen Polarisierung führen.
Auch in der Bevölkerung ist die offizielle Entschuldigung umstritten. In einer Umfrage des Senders NOS zu Beginn des Jahres 2022 sprach sich eine Hälfte der Niederländer dagegen aus. Mehrere Städte, darunter Amsterdam und Den Haag, hatten sich jedoch bereits vor der nationalen Regierung für ihre Rolle beim Sklavenhandel entschuldigt. Ebenso die niederländische Zentralbank und die Bank ABN AMRO.
Der Druck auf die ehemaligen europäischen Kolonialmächte, Wiedergutmachung für frühere Gräueltaten zu leisten, wächst. Dafür ist auch die Black Lives Matter-Bewegung aus den USA verantwortlich, die zwar in erster Linie Kritik an der Polizeigewalt gegen Nichtweiße übt, aber auch den Blick für historische Grausamkeiten geschärft hat.
2020 drückte der belgische König Philippe sein "tiefes Bedauern" über die Gewalttaten aus, die sein Land insbesondere unter seinem Vorgänger und Verwandten Leopold II. während der Kolonialherrschaft im Kongo verübt hatte. Eine Entschuldigung sprach er jedoch nicht aus.
Im vergangenen Jahr entschuldigte sich Deutschland für den Völkermord an den Herero in Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts und versprach eine Milliarde Euro an Reparationen. Doch solche Erklärungen führen nur selten zur tatsächlichen Auszahlung von Reparationen.
Als Stadtführerin und Historikerin Tosch von den Plänen der niederländischen Regierung für eine Entschuldigung hörte, war ihre erste spontane Reaktion: "Das ist nicht genug. Mal ehrlich, es ist höchste Zeit", meint sie. "Ich glaube nicht, dass 200 Millionen Euro 400 Jahre Kolonialismus wiedergutmachen können."
Ella Joyner
© Deutsche Welle 2023
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo