Kein Grund zur Entwarnung
Ein Jahr hatte die türkische Justiz Zeit, um die Anklageschrift für Deniz Yücel vorzubereiten. Am Ende hat sie drei dürre Seiten vorgelegt, die kaum mehr Substanz hatten als das, was die Staatsanwaltschaft vor einem Jahr vorgebracht hatte, um die Untersuchungshaft für den "Welt"-Korrespondenten zu rechtfertigen. Wie schon damals lautet der Vorwurf auf "Volksverhetzung" und "Terrorpropaganda", als Beweis werden Yücels Artikel zum Kurdenkonflikt und zum gescheiterten Militärputsch von Juli 2016 angeführt. Die Strafforderung beträgt bis zu 18 Jahre Haft.
Zwar ordnete das Gericht bei der ersten Anhörung am 16. Februar an, Yücel für die Dauer des Verfahrens freizulassen, worauf er umgehend das Land verließ, doch bleibt er weiter angeklagt - angeklagt für seine Arbeit als Journalist. Die Vorwürfe sind dabei so absurd, die Begründung so dürftig und die Strafforderung so exzessiv wie in anderen Prozessen gegen Journalisten. Mehr als 150 sitzen weiter in Haft, weil sie ihre Aufgabe als kritisches Korrektiv der Macht ernst genommen und sich nicht damit begnügt haben, das Sprachrohr der Mächtigen zu sein.
Maulkorb für Dissidenten und Querulanten
"Auch wenn ich nicht Ihrer Meinung bin, werde ich mein Leben dafür geben, Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung zu verteidigen", hatte Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 2001 unter Abwandlung eines Voltaire-Zitats gesagt, als er die Gründung seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) verkündete. Sie werde die Rechte und Freiheiten in ihrer breitest möglichen Form verteidigen, versprach er. Die Hoheit des Rechts und die Unabhängigkeit der Justiz hätten für sie höchste Bedeutung als Grundlage des Zusammenlebens.
Das ist lange her. In Wahrheit hat Erdoğan seit jeher empfindlich auf Kritik reagiert und die Bedeutung einer freien Debatte für die Demokratie und eine lebendige Gesellschaft wohl nie begriffen. Seit dem Putschversuch handelt er ganz nach dem Prinzip, wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn. In erster Linie gilt das für die Unterstützer der PKK-Guerilla und die Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, aber auch für unbequeme Journalisten wie Deniz Yücel.
Seine Freilassung ist ein Grund zur Freude für ihn, seine Familie und seine Freunde, doch an der Lage der türkischen Presse und der Justiz ändert sie nichts. Nichts zeigt dies deutlicher als das Urteil, das kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis Silivri erging: Lebenslange erschwerte Haft lautete es für Nazli Ilicak und die Brüder Ahmet und Mehmet Altan – alle drei gestandene, renommierte Journalisten. Der Vorwurf: Unterstützung des Putschversuchs gegen Erdoğan.
Das Urteil erfolgte, obwohl das Verfassungsgericht im Januar zu dem Schluss gekommen war, dass die lange Untersuchungshaft von Mehmet Altan und dem Journalisten Sahin Alpay ihre Rechte verletze, und ihre Artikel als Beweise für die Vorwürfe nicht ausreichten. Die Regierung warf dem Verfassungsgericht daraufhin vor, seine Kompetenzen überschritten zu haben, woraufhin zwei untergeordnete Gerichte sich weigerten, die Freilassung der Journalisten anzuordnen.
Der Vorgang zeigt, wie schlecht es nicht nur um die Meinungsfreiheit in der Türkei, sondern auch um die Unabhängigkeit der Justiz bestellt ist. Dass Deniz Yücel freigelassen wurde, war denn auch keine Entscheidung der Justiz, sondern der Politik. Die Anklageschrift und die Gerichtssitzung dienten nur dazu, den Anschein eines normalen Rechtsverfahrens zu wecken. Die Entscheidung zu Yücels Freilassung wurde nicht vom Richter, sondern von niemand anderem getroffen als Erdoğan.
Diplomatische "Mobilmachung" im Fall Yücel
Vorausgegangen waren intensive diplomatische Bemühungen. Nicht nur traf sich Außenminister Sigmar Gabriel über Wochen immer wieder mit seinem Kollegen Mevlüt Çavuşoğlu, sondern er reiste auch extra nach Rom und Istanbul, um Erdoğan persönlich zu überzeugen. Um den misstrauischen Machthaber zu gewinnen, wurde sogar Altkanzler Gerhard Schröder mobilisiert, der seit seiner Regierungszeit einen guten Draht zu Erdoğan behalten hat.
Am Ende nahm der Fall Yücel das Ausmaß einer Staatsaffäre an, die alle anderen Themen überschattete. Auch dank der geschickten Medienkampagne seiner Unterstützer wurde seine Inhaftierung zur Schlüsselfrage in den deutsch-türkischen Beziehungen hochstilisiert; bei dem Besuch von Ministerpräsident Binali Yıldırım in Berlin ging es kaum um etwas anderes. Zuletzt war auch der türkischen Seite klar, dass es ohne eine Lösung dieser Frage keine Annäherung geben könnte.
Politisches Entgegenkommen
Bis zuletzt hat Erdoğan aber wohl gehofft, eine Gegenleistung für die Freilassung Yücels heraushandeln zu können – anders sind die vielen, langen Gespräche mit Gabriel und Schröder nicht zu erklären. Die Bundesregierung bestreitet jedes Tauschgeschäft, doch wird sie zumindest Zusagen gegeben haben, der Türkei künftig stärker entgegenzukommen.
Ganz falsch ist das nicht, denn die deutsche Türkei-Politik seit dem Putschversuch war nicht immer glücklich. In Politik und Medien herrschte zu oft die Haltung vor, dass alles falsch sei, was Erdoğan sagt, und jeder ein Demokrat sei, den er verfolgt. Die Bedrohung durch die Gülen-Bewegung wird bis heute nicht ernst genommen, und die Bundesregierung hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, eine eigene Studie zu ihr zu erstellen. Die Türkei ist auch zu Recht empört, dass mutmaßlichen Putschisten Asyl gewährt wird und PKK-Anhänger Kundgebungen abhalten können.
Eine Korrektur in diesen Punkten ist durchaus angebracht, doch bei Demokratie, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit darf es keine Kursänderung geben. Die Bundesregierung muss darauf beharren, dass es ohne die Freilassung von Journalisten und ohne das Ende des Ausnahmezustands und der Verfolgung der Opposition keine Visafreiheit, keine Ausweitung der Zollunion und auch keine Exportgarantien geben kann. Wenn sie das tut, wird es mit dem Tauwetter wohl bald wieder vorbei sein. Doch das ist sie den anderen politischen Häftlingen in der Türkei schuldig.
Ulrich von Schwerin
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