Ein Präsident für alle?
Es war ein breites Bündnis in der Bundesversammlung, das Joachim Gauck am vergangenen Sonntag (18.3.) zum neuen Bundespräsidenten gewählt hat. Union, SPD, FDP und Grüne unterstützten den 72-Jährigen.
Auch die Medien behandeln das neue Staatsoberhaupt wohlwollend, als "Präsident der Bürger" stellen sie ihn dar, was sich mit den Umfragen deckt. Laut Deutschlandtrend der ARD finden 67 Prozent aller Deutschen, dass er eine gute Wahl ist. Joachim Gauck – ein Präsident für alle?
Das lässt sich dann doch nicht sagen – trotz der großen Einigkeit unter den Parteien enthielten sich 108 Wahlleute in der Bundesversammlung. Vor allem unter den Muslimen in Deutschland sind viele kritische Stimmen zu finden.
Verständnis für Sarrazin
Manche von ihnen halten Joachim Gauck sogar für eine glatte Fehlbesetzung – so wie Memet Kilic, türkisch-stämmiger Bundestagsabgeordneter der Grünen. Der integrationspolitische Sprecher seiner Fraktion stößt sich vor allem an Gaucks Verständnis für die Thesen Thilo Sarrazins, dem früheren Bundesbank-Vize und Autor des umstrittenen Buches "Deutschland schafft sich ab".
In einem Interview mit dem Tagesspiegel hatte der jetzige Bundespräsident Sarrazin "Mut" attestiert und über ihn gesagt: "Er hat über ein Problem, das in der Gesellschaft besteht, offener gesprochen als die Politik."
Gauck hielt es auch nicht für problematisch, dass Sarrazin bewusst provozierte. "Er ist natürlich auch einer, der mit der Öffentlichkeit sein Spiel macht, aber das gehört dazu", meinte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.
Kilic ärgerte sich, als er die Worte Gaucks las. "Ich habe das als Dolch auf meinem Rücken empfunden", sagt er. "Gauck war nicht auf der Seite der Schwächeren, er hat sich auf die Seite der BILD-Zeitung und Sarrazins geschlagen." Den Grünen-Politiker konnte auch nicht besänftigen, dass sich der 72-Jährige von den biologistischen Thesen Sarrazins distanzierte. Gauck sei wendig und habe Sarrazin erst kritisiert, als das vor ihm schon andere getan hätten.
Bewusst und provokativ
Zu Kilics Ablehnung trug auch ein Interview Gaucks mit dem TV-Programm der Neuen Zürcher Zeitung bei, das im Internet kursiert. In dem Gespräch attestierte Gauck dem Islam "Fremdheit und Distanziertheit" zu Europa, die nicht übersehen werden dürften. Bewusst und provokativ, wie Gauck selbst sagt, benutzt er diesem Zusammenhang das Wort "Überfremdung", ein sonst verpönter Begriff: "Wir haben doch ganz andere Traditionen, und die Menschen in Europa, das sehen wir allüberall, nicht nur in Deutschland, sind allergisch, wenn sie das Gefühl haben, dass was auf dem Boden der europäischen Aufklärung und auch auf dem religiösen Boden Europas gewachsen ist, wenn das überfremdet wird..."
Kilic, selbst alevitischer Muslim, ist empört über diese Wortwahl: "Wenn er das sagt, dann bedient er ein bestimmtes Milieu." Für die Migranten bedeute das nichts Gutes: "Wir Migranten müssen uns warm anziehen. Wir werden gemeinsam erleben, dass er nicht einigen und integrieren wird. Er wird spalten."
Der Grünen-Politiker bringt damit eine skeptische Haltung unter Muslimen in Deutschland zum Ausdruck. Viele von ihnen bedauerten trotz aller Querelen um Christian Wulff den Rücktritt des früheren Staatsoberhauptes.
Sein Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" hatte unter Muslimen großen Beifall gefunden. Noch vor dem Großen Zapfenstreich zum Abschied Wulffs aus dem Schloss Bellevue drückte die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) ihr Bedauern über dessen Rücktritt aus. Auch wenn Wulff Fehler gemacht habe, sei es schade, dass er sein Amt aufgebe, sagte TGD-Vorsitzender Kenan Kolat, SPD-Mitglied und großer Nähe zu CDU-Politikern unverdächtig.
Im Zweifel für Gauck
Die Bedenken unter den Migranten kennt auch die Hamburger Islam-Professorin Katajun Amirpur, Tochter eines Iraners und einer Deutschen. Die Sozialdemokraten der Hansestadt hatten sie als Wahlfrau in die Bundesversammlung entsandt. Auch Amirpur sieht einige Aussagen von Gauck zu Muslimen und Migranten kritisch – und dennoch stimmte sie für ihn.
Er sei eine integre Persönlichkeit und einer der wenigen, die sich über die arabischen Revolutionen gefreut hätten, findet sie. "Gauck war jemand, der im Frühjahr letzten Jahres gesagt hat: Wieso sind wir eigentlich alle so negativ? Wir sollten uns doch endlich mal freuen mit den Menschen, die dort für Freiheit und für Werte kämpfen, die uns wichtig sind. Die meisten haben nur gewarnt und gesagt: Um Gottes Willen, wer weiß, was danach kommt?"
Zugute hält Amirpur dem neuen Präsidenten auch, dass er nach der Trauerfeier für die Opfer der rechtsextremen Mordserie auf die betroffenen Familien zugegangen sei Zudem hofft die Islam-Professorin, dass Gauck als Theologe ein besonderes Verständnis für andere Gläubige mit ins Schloss Bellevue bringt. "Er hat vielleicht eher ein offenes Ohr für religiöse Belange", sagt Amirpur. "Jemand, der religiös nicht unmusikalisch ist, kann ein guter Präsident für muslimische Belange sein."
Allerdings: Ganz ohne Vorbehalte hat auch Amirpur nicht für den neuen Bundespräsidenten gestimmt. Sie sieht Gauck in der Pflicht, das Thema Integration weiter mit Worten und Taten auf die Tagesordnung zu bringen. Der neue Bundespräsident müsse dabei vor allem deutlich sagen, dass Integrationsprobleme im Wesentlichen Bildungsprobleme seien – und kein Problem der Religion. Muslime in Deutschland hätten den Eindruck, "dass ihre Religion primär als Problem wahrgenommen wird."
Kontinuität in der Integrationspolitik
Für Gauck votierte am vergangenen Sonntag auch der türkisch-stämmige FDP-Politiker Serkan Tören, integrationspolitischer Sprecher der Liberalen im Bundestag. Auch bei ihm hatten Gaucks Interviews Fragen aufgeworfen – doch der neue Bundespräsident habe in der FDP-Fraktion versichert, dass er die Integrationspolitik Wulffs fortsetzen wolle, wenn auch mit anderen Worten. Überhaupt, sagt Tören, betreffe Gaucks Thema Freiheit auch die muslimischen Migranten.
Jeder in der Gesellschaft müsse sehen, was er für andere tun könne, statt immer zu fragen, "was der Staat für einen machen kann", findet Tören. In der Integrationspolitik sei immer Paternalismus zu erkennen. Hilfe für Einwanderer und ihre Familien werde "von oben" diktiert. Hier könne Gauck aufzeigen, "dass individuelle Freiheit auch die richtige Antwort für Migranten ist".
Am kommenden Freitag (23.3.) wird das neue Staatsoberhaupt vor dem Bundestag und dem Bundesrat vereidigt. Wulff erwähnte 2010 zu diesem Anlass die "bunte Republik Deutschland". Wird sich auch sein Nachfolger zu diesem Thema äußern? Das zumindest lässt ein TV-Interview Gaucks nach seiner Wahl vermuten. Die ARD ließ er wissen, dass beim Thema Islam in Deutschland nach Wulff "kein Richtungswechsel" zu erwarten sei.
Grünen-Politiker Kilic mag daran nicht glauben: "Die Migranten werden erst einmal mit netten, schönen Worten besänftigt. Aber Gauck wird ihre Unzulänglichkeiten allein ihnen in die Schuhe schieben."
Jan Kuhlmann
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de