Musik in Zeiten des Schreckens
Sie sind beide in der Damaszener Musikszene groß geworden. Wie sind Sie auf das Morgenland-Festival Osnabrück gekommen?
Kinan Azmeh: Das erste Mal traf ich den Festivalgründer Michael Dreyer bei einem Aufenthalt in Damaskus. Ich saß in meinem Lieblingsrestaurant mit einem Tubaspieler der "Syrian Bigband". Michael und ich tranken ein paar Araks zusammen. Am nächsten Tag lud er mich auf das Morgenland Festival 2010 ein und bat mich, ein Stück für den syrischen Sänger Ibrahim Keivo zu komponieren.
Unter all den Festivals, auf denen ich gespielt habe, ist dieses ein ganz besonderes. Die Organisatoren sind genauso leidenschaftlich dabei wie wir Musiker. Das Morgenland Festival bringt aber nicht nur östliche und westliche Musiker von höchstem Rang zusammen. Ich fühle mich hier auch jedem Menschen persönlich verbunden – vom Fahrer, der uns am Flughafen abholt, bis zu den Osnabrücker Bürgern. Wenn Sie mich nach meinem größten Publikum fragen, dann war das in Damaskus, New York und Osnabrück.
Dima Orsho: Für mich hatte alles mit unserer Band "Hewar" ("Dialog") begonnen, die wir im Jahr 2003 gründeten. Kurz danach hatten wir unseren ersten Auftritt auf dem Morgenland Festival. In der Band führten wir verschiedene musikalische Elemente zusammen: Kinan spielte Klarinette, ich sang als Sopranistin und unser Freund Issam ist ein hervorragender Oud-Spieler, der seine Wurzeln völlig in der klassischen arabischen Musik hat. Jetzt hat uns das Schicksal alle in die Vereinigten Staaten gezogen. Kinan und ich kamen schon lange vor dem Krieg zum Studium in die USA. Issam und seine Familie zogen im letzten Jahr nach Chicago.
Hat das Leben im Ausland Spuren in Ihrer Musik hinterlassen?
Orsho: Seit ich in den USA lebe, singe ich mehr Maqam als vorher, denn so kann ich eine Verbindung zu meiner Heimat herstellen. Natürlich verspüre ich in mir eine Syrien-Nostalgie. Das Singen arabischer Musik verschafft mir im Ausland außerdem ein eigenes Profil. Wir sind schon viel durch die Vereinigten Staaten getourt. Manchmal stieß ich dabei auf voreingenommene Reaktionen wie: "Wow, wie kommt es, dass eine Frau aus Syrien so frei und ohne Hijab singen kann?"
Azmeh: Mitunter wundern sich die Leute im Westen, dass wir in Syrien klassische Musik spielen. Mit "Hewar" sind wir dem Namen unserer Band treu geblieben. Wir probierten verschiedene Stile aus und stimulierten uns gegenseitig mit den verschiedenen Charakteren, die jeder Musiker in die Gruppe trägt. Als Musiker wirst du immer durch deine Umgebung inspiriert. Vielleicht habe ich durch meine Jahre in den USA mein Faible für den Jazz entdeckt. Vielleicht bin ich aber auch arabischer geworden, weil ich Syrien vermisse. Ich kann es nicht genau sagen.
Kinan Azmeh, in diesem Jahr hatten Sie bereits Konzerte in den USA, Frankreich, England, der Türkei, dem Libanon und Jordanien. Aber Sie haben schon eine Weile lang nicht mehr in Syrien gespielt. Wie ist es für Sie, in ihrer Heimat zu spielen?
Azmeh: Wenn wir in Damaskus ein Konzert geben, dann ist das so, als ob ein Football-Team ein Heimspiel hat. Ich kenne viele Menschen im Publikum und spüre deutlich ihre Zuneigung. Doch natürlich sind sie dort auch kritischer als das westliche Publikum. Mein letztes Konzert in Damaskus war im Mai 2012 auf einem Festival namens "Oriental Landscapes", das Musiker der zeitgenössischen arabischen Musikszene zusammenbrachte. Selbst jetzt finden noch Konzerte im Opernhaus Damaskus statt. Aber ich persönlich kann nicht in einem Land auftreten, in dem Städte wie Aleppo täglich bombardiert werden. Ich kann nicht spielen, wenn ich weiß, dass 80 Prozent der Menschen nicht zu meinem Konzert kommen können, weil sie die Checkpoints nicht passieren können. Trotzdem ist es falsch anzunehmen, dass Menschen in tragischen Zeiten keine Musik bräuchten.
Orsho: Das stimmt. Man muss bedenken, dass die syrischen Musiker ihren Lebensunterhalt mit ihren Auftritten verdienen. Sie brauchen die Musik, um in diesen schweren Tagen zu überleben. Doch für uns ist es jetzt schwierig, in Syrien Konzerte zu geben. Ich bin 2005 in die USA gezogen. Im Exil kennen wir nicht immer die Lage vor Ort – zum Beispiel die Strukturen, wenn man etwa eine Konzertgenehmigung haben will oder einen Veranstaltungsort organisieren will.
Es gibt Stimmen, die behaupten, dass man in derart schweren Zeiten wie diesen überhaupt keine Musik spielen sollte. Stimmen Sie dem zu?
Azmeh: Nach dem Beginn der Revolution konnte ich ein Jahr lang keine Musik mehr komponieren. Ich mache Musik, denn sie erlaubt es mir, Gefühle zu erleben, die ich im richtigen Leben nicht erleben darf. Als ich die Anfänge der Revolution im Fernsehen verfolgte, rief das in mir Gefühle hervor wie nie zuvor in meinem Leben. Ich spürte, dass in meinem Land etwas vor sich geht, das viel wichtiger ist als meine Kompositionen. Aber nach einer Weile erkannte ich, dass ich das Recht habe, Musik zu schreiben. Das ist auch ein Freiheitsakt. Als Klarinettist habe ich mehr Freiheiten als ein Sänger, der mit Worten seine Gefühle ausdrückt.
Wenn ich im Westen auftrete, spüre ich tief in mir, dass vielleicht einige meiner Klänge doch ihren Weg zu den Menschen in Syrien finden. Alles was wir angesichts des Leides tun können, ist doch, zu singen. Und wenn auch nur ein Mensch im Publikum davon inspiriert wird, ist das schon ein Erfolg.
Im Mai organisierten Sie zusammen einen Musikworkshop für syrische Flüchtlingskinder in Irdib, Jordanien. Was hat Sie an diesem Besuch beeindruckt?
Orsho: Unser Besuch in Irdib wurde vom Osnabrücker Kinderhilfswerk "Terre des hommes" organisiert, das mit syrischen Flüchtlingskindern arbeitet. Ich durfte einen Gesangsworkshop für junge Flüchtlingsfrauen leiten. Anfangs waren sie sehr schüchtern. Ihr Bild von einer Sängerin ist in der Regel durch das Fernsehen geprägt. Also denken sie sich: Ich sehe nicht aus wie ein Popstar, wieso sollte ich dann singen? Außerdem haben in unserer Kultur singende Frauen ein eher verruchtes, dem Nachtleben zugehöriges Image. Es war sehr beeindruckend, wie diese Mädchen am Ende dieses Workshops ein Konzert vor ihren Eltern gegeben haben.
Azmeh: Syrien ist die größte menschliche Tragödie seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Hälfte der Syrer musste ihr Zuhause verlassen. Wir haben das Flüchtlingszentrum nur für einen Tag besucht. Aber die wirklichen Helden sind all die Freiwilligen, die unermüdlich arbeiten, ohne dabei groß aufzufallen. Zum Schluss waren alle Kinder erfüllt von Freude und Humor. Das zeigt, dass es selbst in finstersten Augenblicken noch Raum für Tanz und Gesang gibt.
Wir haben den Kindern auch Blockflöten mitgebracht und konnten wenigstens ein paar Töne zusammenspielen. Wenn auch nur eines der Kinder angeregt wurde weiterzuspielen, dann hat sich der Besuch schon gelohnt. Im November werde ich für einen einwöchigen Workshop in das Zaatari-Camp nach Jordanien reisen. Charity-Konzerte sind mir nicht genug. Die Arbeit mit Flüchtlingen ist für uns sehr inspirierend und wir können auch andere Menschen dazu anregen, selbst aktiv zu werden.
Das Interview führte Marian Brehmer
© Qantara.de 2014
Kinan Azmeh, weltrenommierter Klarinettist, wurde 1976 in Damaskus geboren und war der erste Araber, der 1997 den ersten Preis beim internationalen Nicolai-Rubinstein-Wettbewerb in Moskau gewann. Er absolvierte die berühmte New Yorker Juilliard School und ist Mitbegründer der syrischen Fusion-Band "Hewar". Als Solist, Komponist und Improvisator trat Azmeh in vielen Ländern auf.
Dima Orsho ist eine syrische Sopranistin. Orsho wurde 1975 in Damaskus geboren und studierte am Arab Conservatory of Music in Damaskus und ist die erste syrische Sopranistin mit einem Master-Abschluss vom Boston Conservatory. Als Solistin trat sie in den Vereinigten Staaten, Europa und im Mittleren Osten auf und singt in der Band "Hewar".