"Die UNESCO handelt viel zu spät"
Herr al-Maqdissi, Sie waren an den Ausgrabungen in Qatna-Mishirfeh nordöstlich von Homs beteiligt, wo 2002 eine 3.500 Jahre alte, unversehrte Grabkammer gefunden wurde. Daher an Sie zunächst die Frage: Wurde auch in Qatna geplündert?
Michel al-Maqdissi: Meines Wissens nicht. Bei einer so bedeutenden Fundstelle wäre dies auch bekannt geworden. Qatna-Mishirfeh wird im Gegensatz zu anderen Stätten zudem noch bewacht.
Welche Kulturstätten sind bislang am meisten durch Plünderungen oder Gefechte betroffen?
Al-Maqdissi: Die syrische Armee hat durch ihre anhaltenden Bombardements sehr viel zerstört. Die Resultate sind in Aleppo, in Bosra, in der Kreuzritterburg Crac de Chevaliers oder in der Säulenstraße von Palmyra zu sehen. Von manchen anderen Orten, wie der Homser Altstadt, ist heute praktisch nichts mehr übrig geblieben.
Was die Plünderungen angeht, so sind sie in Apamea am gewaltigsten. Die antike Münzstätte der Seleukiden am Orontes besteht heute aus 4.000 Kratern – manche sind drei Meter tief, manche sogar noch tiefer. Das rigide und systematische Vorgehen der Plünderer ist auf Satellitenaufnahmen vom April 2012 deutlich zu sehen. Sie müssen wohl auch Bohrmaschinen eingesetzt haben. Auch die Stätten in Dura Europos und Ebla-Tell Mardikh sind stark betroffen. Da erstere im Nordwesten und letztere diagonal entgegengesetzt im Südosten Syriens liegt, ist anzunehmen, dass in ganz Syrien geplündert wird. Verantwortlich hierfür sind zumeist Banden, die im Irak hinlänglich Erfahrung gesammelt haben und jetzt eine internationale Antiken-Mafia bedienen.
Die Artefakte werden also nicht von Rebellengruppen geraubt, um damit den Kauf von Waffen zu finanzieren?
Al-Maqdissi: Beim Gros der Plünderer handelt es sich wohl um Profis. Man muss auch bedenken, dass der Antikenhandel kein schnelles Geschäft ist und die Rebellen kaum Zeit haben, um ihren Anteil am Erlös von Artefakten abzuwarten. Außerdem kontrollieren bewaffnete Gruppierungen, die nicht mehr als Rebellen, sondern als echte Terroristen einzustufen sind – wie der "Islamische Staat im Irak und der Levante" (ISIS) oder "Jabhat al-Nusra" – teilweise die Ölfelder in Nordsyrien. So kommen sie weit schneller zu Geld. Zudem sehen sie in den Artefakten ja nur gotteslästerliche Götzen. So haben die ISIS-Kämpfer kürzlich eine anderthalb Meter hohe, rund 3.000 Jahre alte assyrische Statue aus der Stätte Tell Ajaja im Nordosten Syriens vor laufenden Kameras zertrümmert.
Die UNESCO setzte im Juni 2013 alle sechs Weltkulturerbe-Stätten auf die Liste derbedrohten Denkmäler. Sie sind der Ansicht, dass es sich hierbei nur um eine Geste handelt, die obendrein noch viel zu spät kommt. Weshalb kritisieren Sie die UNESCO so vehement?
Al-Maqdissi: Weil sie eine äußerst müde Institution ist, die in einem viel zu eng abgesteckten Rahmen arbeitet. Das beginnt bei ihren Experten, die seit Jahrzehnten dieselben sind und von Afghanistan bis Irak das gleiche Prozedere anwenden. Aber die Länderfälle variieren und bedürfen mehr als nur ein "Schema F". Im Falle Syriens ist die UNESCO viel zu spät aktiv geworden – schließlich waren im Juni 2013 Aleppo, Homs, Palmyra oder Crac de Chevaliers nicht mehr nur "bedroht", sondern längst schon stark beschädigt.
Aktuell plant die UNESCO Schulungen für Zöllner in den Nachbarländern Syriens. Auch dies kommt viel zu spät: Die Türkei etwa spielt seit Jahren eine große Rolle als Transitland für die aus Syrien geraubten Artefakte, und jeder weiß es. Kurz: die UNESCO setzt da an, wo es nichts mehr bringt. Dahingegen gibt es beispielsweise in Aleppo viele Aktivisten, die versuchen, die Kulturstätten und Museen zu schützen.
Manche von ihnen schaffen seit Monaten Objekte aus der immens wichtigen Manuskriptbibliothek von A nach B und zurück. Sie sind völlig überfordert, verfügen weder über das nötige Wissen noch über adäquates Equipment. Weshalb schult die UNESCO nicht endlich diese Aktivisten, so wie sie es mit den Mitarbeitern der Antikenverwaltung tut? Das würde dem syrischen Kulturerbe tatsächlich dienen.
Aber die UNESCO setzt sich aus 195 Mitgliedsstaaten zusammen, zu denen auch Syrien gehört. Ihr offizieller Kooperationspartner ist also das syrische Regime – es sind also nicht die Aktivisten. Während ihrer Tagung im vergangenen Mai in Paris brachte die UNESCO allerdings Vertreter des syrischen Regimes und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit Zugang zu den von den Rebellen kontrollierten Gebieten an einen Tisch, um die Kommunikation zu verbessern. Halten Sie das auch nur für eine Geste?
Al-Maqdissi: Die UNESCO hat oft grundlegende Fehler begangen und mit jedem Konflikt die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen und das Vertrauen in ihre Rolle als Verteidigerin des Kulturerbes geschmälert. Sie handelt zu spät, wird von den eigenen Sachverständigen blockiert und bald vom Gewicht der eigenen Bürokratie erdrückt. Und was ihre jüngsten Versuche angeht, die Kommunikation zwischen Rebellen und Regime zu verbessern, so glaube ich, dass sie den klassischen Maßnahmenkatalog der UNESCO nicht ernstlich erweitert.
Ein großes Problem in Syrien ist, dass ein Großteil der Wächter der archäologischen Stätten nicht mehr bezahlt wird. Auch hier werfen Sie der UNESCO Untätigkeit vor.
Al-Maqdissi: Sie hätte zumindest versuchen können, über Hilfsmaßnahmen nachzudenken. Normalerweise werden die Wächter von der syrischen Regierung und von ausländischen Archäologie-Missionen bezahlt, die das Geld zumeist persönlich ins Land brachten.
Seit über drei Jahren aber bleiben die Ausländer fern. Ich habe hier zu helfen versucht und die Gelder bei ausländischen Institutionen abgeholt und über den Libanon an vertrauenswürdige Syrer übermittelt, die sie dem Antiken-Direktorat aushändigten, damit dieses die Löhne für ein weiteres Jahr gewährleisten kann. Aber das versorgt nur einen Bruchteil der Wächter. 30 bis 40 Prozent von ihnen erhalten meinen Schätzungen zufolge kein Geld mehr. Die Stätten der antiken Handelsmetropole Mari-Tell Hariri etwa bewachen derzeit völlig überforderte Dorfbewohner.
Mittlerweile haben sich viele NGOs in- und außerhalb Syriens gebildet, die jetzt schon den Wiederaufbau der zerstörten Kulturdenkmäler diskutieren. Für wie sinnvoll erachten Sie das?
Al-Maqdissi: Der Brain-Drain, den Syrien in den vergangenen drei Jahren erlebte, ist dramatisch. Viele werden auch nicht mehr zurückkehren. Für das Regime ist das durchaus von Vorteil, weil sich dann noch weniger Experten in ihre Machenschaften einmischen werden. Ich denke dabei etwa an so monströse Projekte wie die seit Jahren geplante Errichtung einer Touristenareals inmitten der 200 v. Chr. entstandenen phönizischen Stätte Amrit am Mittelmeer. Dort sollen auf fast 40.000 Quadratmetern ein 4-Sterne-Hotel, Restaurants, Nacht- und Golfclubs usw. errichtet werden.
Ich erwähne dies nur, um zu verdeutlichen, dass es noch andere Bedrohungen für das syrische Kulturerbe gibt und weiterhin geben wird. Vorerst aber herrscht ein Krieg mit unabsehbarem Ende. Zugleich wird es wohl zehn bis fünfzehn Jahre dauern, bis eine neue Expertengeneration ausreichend geschult ist, um alle angefallenen Restaurierungsarbeiten vorzunehmen. Denn in einem Punkt hat die UNESCO gewiss Recht: Die Ausmaße der Zerstörungen in Syrien sind mit nichts zuvor Dagewesenem vergleichbar. Entsprechend viele und gute Experten werden daher gebraucht.
Das Interview führte Mona Sarkis.
© Qantara.de 2014
Michel al-Maqdissi war von 2000 bis 2012 Direktor des Ausgrabungswesens der syrischen Antikenverwaltung und unter anderem an den Ausgrabungen in Qatna beteiligt, die 2002 zu dem Sensationsfund einer bronzezeitlichen Grabkammer führten. Heute ist al-Maqdissi als Forscher in der Abteilung orientalischer Antiken im Pariser Louvre tätig.