Demokratie ohne Toleranz
Ende Mai stand Indonesien bei der Tagung der Arbeitsgruppe Universal Periodic Review des UN-Menschenrechtsrates in Genf im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Thema war die Messerattacke auf einen Pastor und der Fall der drei zu Tode gequälten Mitglieder einer religiösen Minderheit, die den Wert der Demokratie in Indonesien in Frage stellen.
Außenminister Marty Natalegawa musste sich unbequeme Fragen zu der wachsenden Anzahl an Übergriffen auf Kirchen und Minderheitengruppen gefallen lassen. Zwölf Jahre nach dem Sturz des Diktators sieht sich Indonesien einer neuen, weitaus komplexeren Form autoritärer Herrschaft gegenüber.
Die bisherigen demokratischen Wahlen seit dem Sturz Suhartos stellen keine Garantie für Freiheit in dem Staat mit seiner mehrheitlich muslimischen Bevölkerung dar. Die Zunahme des Konservatismus und das Entstehen radikal-islamischer Gruppierungen bedrohen zunehmend die Minderheiten im Land.
"Indonesien ist kein tolerantes Land mehr"
"Ich muss zugeben, dass ich mich in Indonesien nicht mehr sicher fühle", sagt Pastor Albertus Patty, Vorstandsmitglied der Vereinigung der Kirchen Indonesiens (PGI), der größten christlichen Organisation des Landes. "Es gibt so viele gewalttätige Übergriffe bei denen weder Polizei noch Regierung einschreiten", berichtet Patty und fügt hinzu: "Indonesien ist kein tolerantes Land mehr."
Seit 2011 gab es mehr als einhundert terroristische Angriffen auf Kirchen. Im vergangenen Jahr explodierte eine Bombe in einer Kirche in der zentraljavanischen Stadt Solo. Ebenso wurde in Bekasi, nur dreißig Kilometer von der Hauptstadt Jakarta entfernt, ein Pastor von Mitgliedern einer radikal islamischen Gruppe erstochen.
Im selben Ort bewarfen Anfang Mai 2012 Demonstranten eine christliche Gemeinde während ihres Gottesdienstes mit menschlichen Fäkalien und faulen Eiern. In der Provinz Aceh, in der die Scharia gilt, mussten bislang sieben Kirchen geschlossen werden.
Christliche Gemeinden werden von radikalen Gruppierungen daran gehindert, ihre Gottesdienste abzuhalten. "In letzter Zeit ist es für uns schwierig geworden, eine Genehmigung für den Bau einer Kirche zu bekommen. Und die, die bereits genehmigt und gebaut wurden, sind schon seit längerem terroristischen Anschlägen ausgesetzt und müssen schließen", sagt Pastor Patty.
In Indonesien ist der Bau von religiösen Gebetshäusern gesetzlich geregelt. Doch islamistische Hardliner üben Druck auf die Regierung aus, damit diese keine neuen Genehmigungen erteilt und sogar bestehende Gotteshäuser mit der Begründung schließen lässt, die umliegenden Bewohner fühlten sich gestört. Dabei berufen die Extremisten sich auf die Bevölkerungsmehrheit.
Christen als Bürger zweiter Klasse
Seit einiger Zeit wird in manchen Provinzen das islamische Recht, welches auch als "regionales Recht" oder auch "regionales Scharia-Recht" bezeichnet wird, angewendet. Laut Patty werden Christen dadurch bereits diskriminiert und zu Bürgern zweiter Klasse degradiert.
Zwölf Jahre nach dem Ende der Suharto-Diktatur wird Indonesien von religiösen Eiferern bedroht. Diese nutzen das demokratische Klima gezielt für Aktionen aus, die wiederum die demokratischen Grundwerte eklatant verletzen.
Radikale Islamisten, die häufig Minderheiten bedrohen oder gegen diese gewalttätig vorgehen, bekommen auch deshalb Aufwind, da die Stimmung innerhalb der Bevölkerung immer konservativer wird. Jüngste Meinungsumfragen zeigen, dass bei Indonesiern die Toleranz für das "Anderssein" weiter abnimmt. Dies gilt nicht nur für Menschen, die einer anderen Religion angehören, sondern auch für religiöse Bewegungen innerhalb des Islams, wie z.B. die Ahmadiyah-Gruppe.
Die Ahmadiyah-Tragödie
Vergangenes Jahr kursierte ein Video im Internet, das auch als "Tragödie von Cikeusik" bekannt wurde. Es zeigte, wie Anhänger der islamischen Religionsgemeinschaft Ahmadiyah von einer riesigen Menschenmenge auf das Brutalste misshandelt und gequält wurden. Drei Mitglieder der Bewegung überlebten das Blutbad nicht.
Die "Majelis Ulama Indonesia" (MUI), eine Organisation konservativer Islamgelehrter, veröffentlichte im Jahr 2005 eine Fatwa (islamisches Rechtsgutachten), in der die Ahmadiyah als "eine Gruppe auf dem Irrweg" bezeichnet wird.
Seither ist die Gemeinschaft zur Zielscheibe für islamische Hardliner geworden. Gegenüber Qantara.de äußerte der Sprecher der indonesischen Ahmadiyah-Gemeinde, Mubarik Ahmad, dass die Mitglieder nun häufig Einschüchterungsversuchen und Terror ausgesetzt seien.
Kurze Zeit nach der Veröffentlichung der Fatwa der MUI wurde das Hauptquartier der Ahmadiyah-Gruppe von Tausenden von Menschen angegriffen und zerstört. Die indonesische Regierung ergriff jedoch keine konsequenten Maßnahmen gegen die Täter, sondern entschloss sich zur Schließung der Zentrale der Bewegung. Mindestens drei Gouverneure und sieben Amtsträger im Rang eines Landrates oder Bürgermeisters sprachen ein Verbot der Ahmadiyah aus.
In West-Sumatra nehmen die Standesämter inzwischen auch keine Eheschließungen vor, die von Gemeindemitgliedern der Ahmadiyah beantragt werden. In West-Java wird ihnen sogar die Hadsch, die Wallfahrt nach Mekka, untersagt. Auf Lombok und in Banten müssen Hunderte von Ahmadiyah-Mitgliedern in Notunterkünften leben, nachdem dort ihre Häuser zerstört wurden.
Mubarik erwähnt, dass die Bedrohung in kleinen Städten, die nicht im Fokus der Medien oder Menschenrechtsorganisationen stehen, am größten sei. Dort seien viele Anhänger gezwungen, ihre religiöse Überzeugung nicht preis zu geben.
Mubarik zeigt sich sehr beunruhigt, weil die Intoleranz nicht nur von Gruppierungen, die sich unversöhnlich geben, ausgeht, sondern auch von staatlichen Amtsträgern.
Suryadharma Ali ist Vorsitzender der "Partai Persatuan Pembangunan" (Vereinigte Entwicklungspartei PPP), der islamischen Partei, die in der Regierungskoalition vertreten ist. Eines seiner Wahlversprechen aus dem Jahr 2009 war die Auflösung der Ahmadiyah-Gruppe. Mittlerweile ist er Religionsminister und verbietet immer wieder Aktivitäten der Gemeinschaft.
Doch damit nicht genug: Auch gibt zu denken, dass der indonesische Religionsminister dem Vorsitzenden der "Front Pembela Islam" (Islamische Verteidigungsfront FPI), Rizieq Shihab, nahe steht. In Indonesien ist die FPI bekannt für ihre intoleranten Aktivitäten, zu denen u.a. auch Übergriffe auf Kirchen zählen. Auch erheben sie Vorwürfe, dass die kulturellen Veranstaltungender Ahmadiyah angeblich nicht im Einklang mit der islamischen Lehre stünden.
Das Ende der Toleranz?
Dies ist das Gesicht Indonesiens zwölf Jahre nach Beginn der Demokratisierung. Bislang wurde Indonesien von der Welt gelobt und als Beispiel dafür gesehen, wie sich eine Demokratie auch in einem Staat mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung entwickeln kann.
Doch aus der Nähe betrachtet ist die indonesische Demokratie längst nicht so makellos wie weltweit wahrgenommen. Hass und Intoleranz herrschen nicht nur in den kleinen, radikalen Gruppen vor. Natürlich sind sie es, die am aktivsten und lautesten andere Bevölkerungsgruppen diskriminieren. Doch erschreckend ist vor allem auch, dass ihre Ansichten auch in der weiten Öffentlichkeit immer mehr Zuspruch finden.
Die indonesische Demokratie entwickelt sich in eine sonderbare Richtung: für freie Wahlen in der Politik, aber gegen die Freiheit bei der Wahl des eigenen Glaubens.
Andy Budiman
© Qantara.de 2012
Übersetzt aus dem Indonesischen von Birgit Lattenkamp
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de