"Sätze, die ich nicht gesagt habe"
Sie gaben kürzlich der italienischen Tageszeitung "La Republica" ein Interview, Teile daraus erschienen falsch übersetzt in "Le Soir" in Frankreich – danach begann in der Türkei eine Hetzkampagne. Was ist da geschehen?
Aslı Erdoğan: Die Reaktionen kamen von allen Seiten: Radikale, Rechte, Linke, Massenmedien. Es war eine landesweite Lynchkampagne.
Inwiefern haben denn Linke reagiert?
Erdoğan: Sie reagierten nationalistisch, genau wie die Rechten. Sie warfen mir vor, die Türkei schlechtzureden, um in Europa Zustimmung zu gewinnen.
Um welche Falschzitate ging es dabei?
Erdoğan: Ich sprach mit Marco Ansaldo von "La Republica". Die Türkei hatte gerade mit ihren jüngsten Angriffen in Syrien begonnen. Er war an der türkisch-syrischen Grenze, wo er mich schon vor einigen Jahren interviewt hatte, als ich zusammen mit anderen Autoren an einer Friedensdemonstration teilgenommen hatte. Er rief mich an und bat um ein Gespräch. Kriegszeiten sind überall hysterische Zeiten, in der Türkei ganz besonders. Also gab ich ihm ein für meine Verhältnisse zurückhaltendes Interview.
Er wollte wissen, woher die große Unterstützung für diesen Krieg in der Türkei kommt und warum sogar die Opposition dahintersteht. Ich sagte: um das zu erklären, müssen wir unser Bildungssystem betrachten, das sehr chauvinistisch und militaristisch ist. Wir begannen den Schultag, indem wir uns zum Türkentum bekannten. Und an einer Stelle sagte ich einen Satz, den kaum jemand beachtete: Dass wir den jungen Leuten erklären müssen, dass sie nicht für ein Land sterben, sondern für eine Regierung. Dann fragte er, weshalb das Parlament so sehr gegen die Kurden sei. Er versuchte, provokativ zu sein, ich versuchte, die Wogen zu glätten. Also sagte ich: Weil alle Parteien im Parlament dazu tendieren, alle kurdischen Organisationen als Terroristen zu betrachten.
Die Headline, unter der das Interview erschien, lautete, in Anführungszeichen, also als Zitat gekennzeichnet: "Wir werden gegen die kurdischen Feinde indoktriniert". Was ich gesagt hatte, war: Wir werden gegen den Feind indoktriniert. Einen abstrakten Feind. Ich korrigierte das in mehreren Interviews: In unserem Bildungssystem gab es keine Kurden, keine Armenier. Sie existierten nicht. Wir wussten nichts über sie. Diese Nichtbeachtung ist vielleicht sogar schlimmer als Hass. "Ich bin Türke, ich lebe für die Türkei" - ein Fünftel der Kinder, die das jeden Tag aufsagen mussten, waren Kurden.
Acht Tage später erschien die Übersetzung des Interviews in "Le Soir"...
Erdoğan: …Und innerhalb dieser acht Tage fand die Frankfurter Buchmesse statt. Und natürlich wurde ich auch dort zu der Situation in Syrien gefragt. Ich sagte: Ich schäme mich für das, was die Türkei tut. Danach kam ein türkischer Mann auf mich zu und sagte: Wir werden uns wiedersehen, Aslı Erdoğan!
Das klingt wie eine Drohung.
Erdoğan: Ich würde es nicht als Drohung bezeichnen. Ich kann keine Dinge sagen, die ich nicht belegen kann. Aber es fühlte sich so an. Und dann erschien "Le Soir", und sie übersetzten die ohnehin schon falsche Headline so: "Wir werden mit Kurdenhass indoktriniert". Und dann taucht ein furchtbarer Satz auf, den ich mit Sicherheit nie gesagt habe: "Alle Parlamentarier in der Türkei, ausgenommen die der HDP, sind Terroristen".
Hat sich "Le Soir" für diesen Fehler entschuldigt?
Erdoğan: Ja, man hat sich entschuldigt. Doch da hatte bereits "Sputnik" das Interview samt der Falschzitate ins Englische übersetzt. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie eine russische Interviewanfrage erhalten. Das war am Freitagabend. Am nächsten Morgen machten sieben oder acht türkische Zeitungen mit Überschriften wie "Verräterin" oder "Terroristenfreundin" auf und auch das türkische Bildungsministerium griff mich an.
Glauben Sie, dass die Personen, die Sie nun angreifen, auch in den sozialen Medien, überhaupt an einer Richtigstellung interessiert sind?
Erdoğan: Wenn in der Türkei jemand ruft "Da ist ein Dieb!", dann kommen die Leute herbeigerannt und lynchen ihn. Es bringt dann nicht mehr viel, zu rufen "Ich bin kein Dieb!" Das Nachrichtenportal "T24" fragte am Samstag bei mir nach, und ich stellte die Fehler richtig. Am letzten Sonntag legten dieselben Zeitungen wie am Vortag nach und schrieben: Die Terroristenfreundin dementiert ihre Aussagen. Mehrere Medien, auch die türkische "BBC", brachten die korrekten Zitate. Aber es änderte nichts. Ahmet Hakan, der Chefkolumnist der "Hürriyet", wiederholte alles nochmal am Sonntag. Dafür wurde er im Internet kritisiert. Er wurde gefragt, ob er mich ins Visier nimmt wie Tahir Elçi...
...der kurdische Menschenrechtsanwalt, der im November 2015 von unbekannten Tätern ermordet wurde...
Erdoğan: Genau. Und am Dienstag wurde Ahmet Hakan zum Chefherausgeber befördert. Natürlich kann das alles Zufall sein, aber wie wahrscheinlich ist das?
Sie sind nun seit über zwei Jahren in Deutschland. Haben Sie damit gerechnet, dass die Angriffe weitergehen würden?
Erdoğan: Nachdem ich die Türkei verlassen hatte, gab es eine seltsame Stille. Weder meine literarischen Erfolge noch meine politischen Aussagen hatten einen Effekt, anders als beispielsweise bei Can Dündar oder Deniz Yücel, die regelmäßig angegriffen wurden. Mir ist klar, dass man besonders in Kriegszeiten aufpassen muss, was man sagt, aber ich denke nicht, dass das Interview sonderlich provokativ war. Ich habe mit Angriffen gerechnet, aber nicht in diesem Zusammenhang. Auf der anderen Seite gab es von kurdischer Seite auch viel Solidarität. Kurden berichteten in den sozialen Medien zum Beispiel von ihrer Schulzeit und unterstützten mich, auch Armenier und Tscherkessen. Jemand sagte, das sei wie eine neue #MeToo-Bewegung. Man kann mich hassen für Dinge, die ich gesagt habe – aber bitte nicht für Dinge, die ich nicht gesagt habe.
Während all das passiert, sind Sie in der Türkei weiterhin angeklagt. Was ist der Stand des Verfahrens?
Erdoğan: Das Verfahren zieht sich jetzt seit über drei Jahren hin. Seit ich vor zwei Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, hat sich nichts mehr bewegt. Alle vier Monate gehen meine Anwälte zum Gerichtstermin, der kaum fünfzehn Minuten dauert bis zur nächsten Vertagung. Ich kann nichts tun außer abzuwarten.
Jetzt haben wir viel über Politik gesprochen – wie das so oft der Fall ist, wenn Sie Interviews geben. Dabei mag dann in Vergessenheit zu geraten, dass Sie Schriftstellerin sind. Dieses Jahr erschien Ihr Roman "Das Haus aus Stein" erstmals in deutscher Übersetzung. Was macht das mit Ihnen, dass die Politik immer der Literatur im Weg zu stehen scheint?
Erdoğan: Es gibt schon Ausnahmen. Mit dem "Österreichischen Rundfunk" (ORF) habe ich drei Stunden über Literatur gesprochen. Aber es stimmt, das ist eher selten. Daran stört mich vieles, aber es gibt Dinge, die mich mehr stören. Zum Beispiel auch die Geschlechterungleichheit und der Orientalismus. Dagegen zu kämpfen ist viel schwieriger. Wenn ich deutschen Journalisten begegne, sehen sie meist nicht die Autorin, sondern die Frau, die im Gefängnis war. Nicht alle, natürlich gibt es Ausnahmen. Aber die Perspektive der Öffentlichkeit ist ähnlich: Warum sollten wir Aslı Erdoğan zu Literatur befragen? Sie soll uns von ihrer kleinen Gefängniszelle erzählen! Darin liegt Exotismus, Orientalismus, Hybris. Andererseits ist Literatur nicht so spannend wie Politik, und Zeitungen müssen Erwartungen erfüllen. Die meisten Menschen interessieren sich nicht sonderlich für Literatur. Wer will schon einen poetischen Text über Folter lesen? Was ich gelernt habe ist, dass das Bild, das andere Menschen von einem haben, fragil ist. Ein Bild, an dem man zwanzig Jahre arbeitet, kann in zwei Stunden zerstört werden. Ich kann das nicht ändern.
Das Gespräch führte Gerrit Wustmann.
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